15. April 2017 · Kommentare deaktiviert für Movements: „Umkämpfte Bewegungen nach und durch EUropa“ · Kategorien: Lesetipps

Movements | Ausgabe 3(1)

Mathias Fiedler, Fabian Georgi, Lee Hielscher, Philipp Ratfisch, Lisa Riedner, Veit Schwab, Simon Sontowski

Als wir im Frühjahr 2016 den Call for Papers für die nun vorliegende Ausgabe 3 (1) der Zeitschrift movements formulierten, befand sich EUropa1 in einem migrationspolitischen Ausnahmezustand. Im Sommer und Herbst 2015, der als »der lange Sommer der Migration« (Kasparek/Speer 2015) in die Geschichte eingehen sollte, hatten mehr als eine Million Geflüchtete die EUropäischen Außengrenzen überwunden und sich über den neu entstandenen ›humanitären Korridor‹ weiter in Richtung Norden bewegt. Als Reaktion darauf begannen verschiedene EU-Mitgliedsstaaten im Winter 2015/2016, ihre Grenzen wieder systematisch zu kontrollieren und einzelne Grenzübergänge zu schließen. Gleichzeitig war das Dublin-System, durch das vor allem die Mitgliedsstaaten im Süden und Osten für die Bearbeitung von Asylanträgen verantwortlich gemacht werden, de facto außer Kraft gesetzt. Angesichts dieser Dynamiken stand neben den Außengrenzen, deren partielle Durchlässigkeit nun endgültig sichtbar geworden war, auch das Fortbestehen des Schengenraums auf dem Spiel – und mit ihm auch die reibungslose Zirkulation von Personen und Waren im Binnenmarkt, eine der neoliberalen Grundfesten der Europäischen Union. Zudem hing das Referendum über den Brexit wie ein Damoklesschwert über dem europäischen Projekt. Der damalige britische Premierminister David Cameron forderte, die EU-Personenfreizügigkeit einzuschränken und den Zugang zu Sozialleistungen für EU-Staatsangehörige, die sich in Großbritannien niedergelassen hatten, weiter zu limitieren. Die diskursiven Figuren der ›Armutsmigration‹ und des ›Sozialtourismus‹ prägten eine zunehmend nationalistisch geführte Debatte um die Zukunft EUropas.

Das Migrations- und Grenzregime der EU war zu dieser Zeit somit dreifach in die wohl größte Krise seit seiner Entstehung geraten: Erstens hatten sich die gemeinsamen Außengrenzen als de facto nicht kontrollierbar erwiesen, zweitens brach das für (nord-)westeuropäische Staaten als Kompensation zur Abschaffung der Binnengrenzen eingesetzte Gemeinsame Europäische Asylsystem in sich zusammen und drittens wurde die Personenfreizügigkeit von Unionsbürger*innen sowie die Idee der ›sozialen Union‹ massiv in Frage gestellt.

Während diese drei Krisenerscheinungen sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in weiten Teilen der Migrationsforschung meist als getrennte Themen behandelt werden, rief unser Call for Papers dazu auf, sie analytisch zusammenzubringen. Dieser Verschränkung unterschiedlicher Krisentendenzen des Migrations- und Grenzregimes lag die Erkenntnis zugrunde, dass sich die »komplexen, heterogenen und machtförmigen Realitäten der Migration« (Redaktion movements 2015) nach und durch EUropa nicht adäquat erfassen lassen, wenn nicht auch die verschiedenen Facetten des EUropäischen Migrations- und Grenzregimes zueinander sowie zu übergreifenden gesellschaftlichen Transformationen ins Verhältnis gesetzt werden. Die durch dieses Regime vorgenommenen Unterscheidungen zwischen schutzbedürftigen Geflüchteten und illegalisierten Migrant*innen, zwischen legitimen Asylgründen und ›Asylmissbrauch‹ sowie zwischen erwünschter Mobilität von Arbeitskräften und sogenannter ›Armutszuwanderung‹ bzw. ›Sozialtourismus‹ sind allesamt Effekte des umkämpften Politik- und Wissensfeldes der Migration und daher nicht unabhängig voneinander zu verstehen.

Vor diesem Hintergrund drängten sich uns für das vorliegende Heft eine Reihe von Fragen auf: Wie lassen sich die grenzüberschreitenden Bewegungen nach EUropa mit der umkämpften Regulierung von Migrationsbewegungen innerhalb EUropas zusammendenken? Mit welchen Modi des Regierens wird auf die turbulenten Bewegungen nach und durch EUropa reagiert und wie artikulieren sich diese in konkreten Praktiken, Konflikten und Kämpfen? Wie verschränken sich hier sowohl ökonomische, rassistische als auch humanitäre Logiken und wie verändern diese das EUropäische Migrations- und Grenzregime?

Im vorliegenden Heft präsentieren wir nun 14 Aufsätze, Forschungsberichte, Interventionen, Interviews sowie einen Foto-Essay und eine Video-Collage, die diese umkämpften Bewegungen nach und durch EUropa2 aus der Perspektive einer kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung untersuchen. Sie zeigen, wie sich verschiedene Differenzierungen – aufenthaltsrechtliche, sozialrechtliche, rassistische, sexistische – oft widersprüchlich, aber stets wirkmächtig miteinander verknüpfen. Sie verorten die Bewegungen der Migration empirisch in konkreten gesellschaftlichen Zusammenhängen und betten sie in soziale Fragen ein, anstatt sie als ›Problemfälle‹ von diesen abzugrenzen. Sie versuchen, die oben genannten Dualismen zu überwinden und leisten dabei mehr, als wir antizipieren konnten. Sie skizzieren ein Set an Herangehensweisen, das es erlaubt, die umkämpfte Produktion und ›Produktivität‹ solcher Differenzierungen zu untersuchen, statt sie als vorab gegeben vorauszusetzen.

KRITISCHE MIGRATIONS- UND GRENZREGIMEFORSCHUNG

Die in dieser Ausgabe von movements versammelten Arbeiten knüpfen aus unterschiedlichen Blickwinkeln an die kritische Migrations- und Grenzregimeforschung an, die sich seit den 2000er Jahren im deutschsprachigen Raum entwickelt hat (vgl. Transit Migration Forschungsgruppe 2007; Hess/Kasparek 2010; Heimeshoff et al. 2014; Hess et al. 2016). Ausgangspunkt dieser heterogenen Forschungsrichtung ist nicht nur ein macht- und herrschaftssensibler Blick auf staatliche und nichtstaatliche Praktiken der Migrationskontrolle. Beteiligte Forscher*innen untersuchen dynamische Regime als Zusammenspiel unterschiedlicher Diskurse, Praktiken, Akteur*innen und Subjektivitäten im Rahmen gesellschaftlicher Machtverhältnisse und gehen davon aus, dass Migrationsbewegungen selbst einen relativ eigenständigen Einfluss auf diese Verhältnisse ausüben, der sich nicht gänzlich kontrollieren lässt (vgl. Karakayali/Tsianos 2007). Sie nehmen soziale Räume und Verhältnisse in den Blick, in denen globale Macht- und Herrschaftsverhältnisse reproduziert, aber auch infrage gestellt werden: Grenzräume in ihren unterschiedlichen de- und reterritorialisierten Formen (vgl. hierzu etwa Mezzadra/Neilson 2013; Luibhéid 1998; Rumford 2006; Walters 2011). Ziel kritischer Migrations- und Grenzregimeforschung ist es, Wissen zu produzieren, das zu emanzipatorischen sozialen Bewegungen und den Kämpfen der Migration beiträgt.

Innerhalb der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung existiert eine Vielzahl unterschiedlicher, sich zum Teil auch widersprechender Herangehensweisen, mit denen versucht wird, sich diesem Themenkomplex zu nähern. Wie in anderen Forschungsfeldern auch, gibt es etwa Differenzen und Verknüpfungen zwischen historisch-materialistischen, ethnographischen, poststrukturalistischen, gendertheoretischen bzw. feministischen, rassismustheoretischen, intersektionalen und postkolonialen Ansätzen. Diese Heterogenität der Ansätze auf Basis eines mehr oder minder konsensualen Verständnisses kritischer Wissenschaft entspricht einer Heterogenität spezifischer Methoden, die von der ethnographischen Grenzregimeanalyse über Dispositiv- und Diskursanalysen und Ideologiekritiken bis hin zu politökonomischen Analysen reicht.

Die verschiedenen Herangehensweisen eint der Anspruch, die eigene Situierung innerhalb des Forschungsprozesses und ihre Machtimplikationen stets mitzudenken. Denn es ist gerade eine offene, ständige Reflexion der Herrschaftsverhältnisse, innerhalb derer Forschende Wissen über Migration und ihre Regulation produzieren, die eine kritische Perspektive auszeichnet. Tatsächlich, dies sollte inzwischen klar sein, ist wissenschaftliche Tätigkeit nie politisch neutral. Ob Forschende wollen oder nicht, ob es ihnen bewusst ist oder nicht, ob sie es offen zugeben und öffentlich reflektieren oder nicht – ihre soziale Stellung, ihre Finanzierung, die Funktionen und Effekte ihrer Tätigkeit haben einen zutiefst politischen Charakter: Wissenschaftler*innen »sind in den gesellschaftlichen Apparat eingespannt, ihre Leistung ist ein Moment der Selbsterhaltung, der fortwährenden Reproduktion des Bestehenden, gleichviel, was sie sich selbst für einen Reim darauf machen« (Horkheimer 2003 [1937]: 213).

In weiten Teilen der Migrationsforschung ist eine solche reflexive Perspektive kaum vertreten. Häufig wird eine Wissensproduktion betrieben, die sich an Angebot und Nachfrage etablierter staatlicher und nichtstaatlicher Akteur*innen der Regierung von Migration orientiert – oder sich zumindest mit ihren Interessen überschneidet – und ihre Terminologien und Kategorisierungen unhinterfragt übernimmt. Zumindest teilweise trifft das auch auf die sich derzeit im deutschsprachigen Raum konstituierende »Flüchtlingsforschung« zu, die sich bewusst von einer weiter gefassten Migrationsforschung abgrenzt und sich dezidiert dem Phänomen der Zwangsmigration widmet (vgl. beispielsweise Kleist 2015; Z’Flucht. Zeitschrift für Flüchtlingsforschung, im Erscheinen). Sie vertritt eine analytisch und politisch zu treffende Unterscheidung zwischen ›Flucht‹ und ›Migration‹ bzw. zwischen den Subjektfiguren ›Flüchtling‹ und ›Migrant*in‹ und entsprechender Migrationsmotivationen, Bedürfnislagen und damit einhergehender Lebensrealitäten. Damit blendet sie nicht nur aus, dass sich in Migrationsbiografien häufig unterschiedliche Lebenssituationen und Motivationen überlagern, die eine eindeutige Trennung verunmöglichen (vgl. Castles 2007; Picozza in diesem Heft), sondern übersieht auch die kontingenten Produktionsprozesse und die Effekte solcher Differenzierungen. So läuft sie Gefahr, ein essentialisierendes und exkludierendes Verständnis von ›Flucht‹ als analytische Perspektive zu reproduzieren, das sich auch zur Legitimation von kontrollpolitischen Exklusionen instrumentalisieren lässt. Denn sie unterstützt die im derzeitigen internationalen Flüchtlingsregime angelegte Trennung in eine vermeintlich ›legitime‹, da unfreiwillige, und eine ›illegitime‹, weil angeblich nicht aus einer ›Not‹ entsprungene Mobilität (vgl. ILO 2001; UNHCR/IOM 2001; Feller 2005; kritisch zum Verhältnis von Wissensproduktion und Migrationskontrolle vgl. Hatton 2011; Chimni 1998, 2008; Hansen/Jonsson 2011; Scalettaris 2007; Scheel/Ratfisch 2014).

Dagegen ist es im Sinne einer machtsensiblen Forschung entscheidend, gerade auch die rechtliche und politische Unterscheidung zwischen ›Flüchtlingen‹ und ›Migrant*innen‹ bzw. ›Flucht‹ und ›Migration‹ (sowie ihre beständige Aktualisierung und Subversion) nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern sie explizit zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen und sie auf ihre Auswirkungen auf das Leben Migrierender zu befragen. Wie in den Beiträgen dieser Ausgabe von movements deutlich wird, schließt eine solche Perspektive keineswegs aus, die Lebensrealitäten und Machtverhältnisse spezifischer Migrationspraktiken und Subjektpositionen in den Blick zu nehmen. In einer gesellschaftlichen Situation, in der der Abbau des Asylrechts global vorangetrieben wird – in Deutschland etwa mit der härtesten Asylrechtsverschärfung seit zwei Jahrzehnten – ist es in unseren Augen jedoch zentral, den Blick zu weiten: Dies bedeutet, die genannten Dynamiken in Relation zur Regierung anderer ›(un-)erwünschter‹ Formen der Migration zu analysieren, und die Rechte aller Migrierender einzufordern – und zwar unabhängig davon, ob sie in institutionelle oder sozialwissenschaftliche Raster und forschungspolitische Konjunkturen passen. […]

  1. Häufig wird von Europa gesprochen, wenn die EU gemeint ist. Indem wir den Begriff ›EUropa‹ verwenden, wollen wir einer solchen Gleichsetzung entgegenwirken und gleichzeitig darauf hinweisen, dass das EU-europäische Projekt nicht auf die Institutionen der EU zu reduzieren ist (vgl. Stierl 2016, Fn. 1).
  2. Der Titel dieser movements-Ausgabe ist inspiriert von einer Ausstellung und Veranstaltungsreihe mit dem Titel Traces to and through Europe, die im Frühjahr 2013 von der Initiative faites votre jeu! in Frankfurt am Main organisiert wurde und im ehemaligen Polizeigefängnis Klapperfeld stattgefunden hat (grenzen.klapperfeld.de).

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