06. April 2017 · Kommentare deaktiviert für Wie Abschiebungen ablaufen: „Sie glauben nicht, wo man eine Rasierklinge verstecken kann“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Welt | 06.04.2017

26.654 Ausländer wurden vergangenes Jahr „zwangsweise zurückgeführt“. Der Aufwand ist enorm, die psychische Belastung extrem. Auch für die Beamten, wie eine Abschiebung am Flughafen Leipzig/Halle zeigt.

Zwei blaue Dixi-Klos sind mit das Letzte, was die 17 Tunesier von Deutschland sehen. Die Plastikquader stehen vor Terminal A des Flughafens Leipzig/Halle. Von dort startet am Mittwoch ein Flieger nach Enfidha-Hammamet. An Bord die zumeist jungen Männer, die in Deutschland Asyl gesucht und nicht gefunden haben. „Illegal Stay“, „Illegaler Aufenthalt“, heißt es in ihren Papieren. Per Sammelabschiebung werden sie in ihr Heimatland zurückgebracht, eskortiert von einem Großaufgebot der Bundespolizei.

Normalerweise werden die Termine für Sammelabschiebungen geheim gehalten. Diesmal aber hat sich die Bundespolizei für Offenheit entschieden. „Wir wollen zeigen, was bei einer Abschiebung geschieht. Hier passiert nichts, was nicht rechtsstaatlich ist“, sagt Christian Meinhold, Sprecher der Bundespolizeidirektion Pirna.

Die abgelehnten Asylbewerber werden zum Großteil von Sachsen, aber auch von Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz an Bord des Abschiebefliegers geschickt. 13 von ihnen sind „Haftfälle“, also straffällig gewordene Männer.

Höhere Gefahr durch Nordafrikaner

Der Aufwand, den der Staat für die Sammelabschiebungen betreibt, ist immens. 67 Bundespolizisten, speziell ausgebildete „Personenbegleiter Luft“, zwei Ärzte und zwei Dolmetscher begleiten die Tunesier bis nach Enfidha. Bei den Nordafrikanern sei der Betreuungsschlüssel in etwa 1:3. Bei Abschiebungen auf den Balkan sei das Verhältnis genau umgekehrt. „Bei Tunesiern gehen wir mit einer anderen Gefahrenprognose heran“, erläutert Peter Karohl, Sachbereichsleiter Gefahrenabwehr bei der Bundespolizeidirektion Pirna.

Das Flugzeug, ein Charter einer deutschen Fluggesellschaft, soll mittags starten. Aber schon um sieben Uhr herrscht Betrieb in Terminal A, das derzeit nur für Abschiebungen genutzt wird. Bundespolizisten in neongelben Warnwesten durchsuchen jeden Winkel der Räume. Sie gucken unter Bänke, kontrollieren die Toiletten. Das sei nötig, weil manche „Schüblinge“, wie sie im Polizeisprech genannt werden, bis zur letzten Minute versuchten, der Abschiebung zu entgehen. Zum Beispiel indem sie sich selbst verletzen – in der Hoffnung, dass sie im Krankenhaus und nicht im Flugzeug landen.

Auch die abgelehnten Asylbewerber werden akribisch durchsucht. In einem abgeschirmten Bereich müssen sie sich vollständig entkleiden. Ein Arzt kontrolliert alle Körperöffnungen. „Das ist der unangenehme Teil für alle Beteiligten. Aber Sicherheit geht vor. Sie glauben gar nicht, wo man überall eine Rasierklinge verstecken kann“, sagt Karohl. Es sei auch schon ein halbes Cuttermesser eingenäht in einem Gürtel gefunden worden. „Damit kann man an Bord eines Flugzeugs viel Unheil anrichten.“

Bei der Sicherheit haben die Beamten sich selbst im Blick, aber auch die Flüchtlinge. Karohl: „Man muss das von der menschlichen Seite sehen: All die Hoffnungen und Träume, die sie gehabt haben, die sind weg. Jetzt geht es dahin zurück, wo sie hergekommen sind. Das realisieren sie, wenn sie hier auf dem Stuhl sitzen.“ Einige reagierten dann höchst emotional. Für den Fall, dass einer ausrastet, haben die Bundespolizisten Fesseln dabei, sogenannte Body Cuffs. Ansonsten sind die Beamten unbewaffnet.

„Die Aufgabe muss gemacht werden“

Punkt acht Uhr kommen die ersten Tunesier vor Terminal A an. Die Männer blicken ernst und düster. Jeder abgelehnte Asylbewerber wird einzeln in einem Kleinbus mit abgedunkelten Scheiben vorgefahren. Drei bis vier Landespolizisten haben sie an ihrem letzten Aufenthaltsort abgeholt.

Abschiebungen werden in Deutschland nicht mehr angekündigt. Wer nicht bleiben darf, wird informiert. Reist er nicht binnen einer vorgegebenen Frist freiwillig aus, wird er zum „Rückzuführenden“. Bei den „Haftfällen“ ist laut Karohl alles dabei: Drogendelikte, Diebstähle, Gewalttaten – „einmal quer durchs Strafgesetzbuch“.

Nach dem Aussteigen werden die Tunesier von den „Personenbegleitern Luft“ in Empfang genommen. Die Polizisten schirmen die schweigenden Männer ab. Den Einsatz leitet Lars Rose (Name geändert; d. Red.). Der 41-Jährige ist der sogenannte Escort-Leader. Er macht den Job seit 2007.

„Die Aufgabe hat mich gereizt“, sagt er. Alle der bundesweit rund 600 Bundespolizisten, die Abschiebungen begleiten, haben sich freiwillig dafür gemeldet. Sie müssen einen dreiwöchigen Lehrgang absolvieren und haben auch danach ständige Fortbildungen. Rose und seine Kollegen sind überzeugt: „Die Aufgabe muss gemacht werden.“
Mitleid mit den Kindern

Aber fühlt es sich für ihn immer richtig an? Rose überlegt. Bei einem kriminellen Ausländer entstehe weniger ein zwischenmenschliches Band als bei Familien vom Balkan, sagt er. „Die sind teilweise gut integriert. Wenn man die dann zurückführt, dann habe ich keine Zweifel an der Maßnahme, aber man merkt schon, dass einen das menschlich belastet.“

Gerade für die Kinder sei es schade, sagt der zweifache Familienvater. Deren Zukunft wäre in Deutschland wohl eine bessere als im Kosovo oder in Serbien. Aber dann sagt er auch: „Die Maßnahme an sich ist durch alle Instanzen gelaufen. Es können nicht alle herkommen und hierbleiben. Es muss durchgeführt werden.“

Voriges Jahr wurden aus Deutschland nach Angaben der Bundesregierung 26.654 Ausländer „zwangsweise zurückgeführt“. Die allermeisten (23.886) wurden im Flugzeug in ihre Herkunftsländer gebracht. Nicht immer sind es Sammelabschiebungen. Manchmal werden auch einzelne abgelehnte Asylbewerber in einen Linienflug gesetzt, begleitet von Bundespolizisten.

Der Flughafen Leipzig/Halle hat sich zu einem der größeren Abschiebedrehkreuze entwickelt. Mehr als 2100 Menschen wurden voriges Jahr von hier ausgeflogen. Zum Vergleich: Aus Dresden waren es 15, aus Hannover knapp 900. Die meisten Abschiebungen (5452) liefen über Frankfurt/Main.

Kritik vom Flüchtlingsrat

Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) betont, der Freistaat bleibe bei Abschiebungen auf Kurs. „Wer ausreisepflichtig ist, muss das Land verlassen – gegebenenfalls unter Zwang. Dabei haben wir selbstverständlich auch Straftäter unter den Zuwanderern fest im Blick.“ Der Flieger nach Enfidha ist der dritte sächsische Sammelcharter nach Tunesien in diesem Jahr. Ende Februar lebten laut Innenministerium rund 8500 ausreisepflichtige Menschen in Sachsen.

Kritik an den Abschiebungen kommt vom Flüchtlingsrat. „Wir setzen uns grundsätzlich für ein Bleiberecht für alle Personen ein“, sagt Sprecher Thomas Hoffmann. Die Maghrebstaaten seien keine sicheren Herkunftsländer. Das viel geäußerte Argument, Deutschland könne nicht alle aufnehmen, lasse sich leicht entkräften. Weltweit seien rund 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Voriges Jahr seien in Deutschland rund 700.000 Asylanträge gestellt worden. Hoffmann: „Es ist keineswegs so, dass ,alle‘ nach Deutschland kommen.“

Im Terminal A läuft „die Maßnahme“ ziemlich ruhig ab. Einem Mann legen die Bundespolizisten den Body Cuff an, einen Gurt mit flexibel einstellbaren Handschellen. Umringt von den Personenbegleitern in den Warnwesten, steigen die Tunesier in einen Zubringerbus, der sie zum Flugzeug bringt.

Escort-Leader Rose erwartet einen friedlichen Flug: „Auf dem Flieger ist es normalerweise ruhig. Wenn der Flieger einmal in der Luft ist, wissen die Rückzuführenden, dass es gelaufen ist.“

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