26. Januar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Vor 85 Jahren: Italien meldet die vollständige Besetzung Libyens“ · Kategorien: Hintergrund, Italien, Libyen

Quelle: NZZ | 24.01.2017

Über dreissig Jahre führten die Italiener Krieg in Libyen. Den Generälen war jedes Mittel recht, auch Giftgasangriffe und Deportationen in Konzentrationslager. Ein Kapitel der Geschichte, das in Italien bis heute verdrängt wird.

von Karin A. Wenger

Nach über 20 Jahren Krieg sei ganz Libyen endlich befriedet – diese Nachricht liess der italienische General Pietro Badoglio am 24. Januar 1932 ins faschistische Rom überbringen. Die Repression der Aufständischen hatte ihren Preis: Italiens Streitkräfte hatten in dem besetzten Land unzählige Kriegsverbrechen begangen. Greueltaten, die bis heute nicht richtig aufgearbeitet wurden.

Die Grossmachtambitionen Italiens haben ihren Ursprung lange vor der faschistischen Machtübernahme. Anfang des 20. Jahrhunderts war das Land arm und industriell zurückgeblieben, soziale Konflikte prägten das Königreich. Hungerleider ohne Perspektive suchten ihr Glück im Ausland. Zwischen 1901 und 1910 wanderten über sechs Millionen aus, vor allem nach Nordwesteuropa, in die USA und nach Südamerika.

«Terra promessa» für süditalienische Siedler

Vor diesem Hintergrund lancierten Nationalisten im Frühjahr 1911 eine Propagandakampagne für eine Militäraktion in Nordafrika: Eine koloniale Expansion könne die sozialen Probleme des Landes lösen. Die italienische Presse stimmte in die Euphorie ein, Libyen biete eine «terra promessa», fruchtbaren Boden für Siedler aus Süditalien. Die Lösung des Problems der Emigration sei gefunden. Italiener könnten in der Kolonie «für sich und für das Vaterland arbeiten», schrieb die Zeitung «La Stampa».

Unter dem Druck der öffentlichen Meinung erklärte der damalige Regierungschef Giovanni Giolitti am 29. September 1911 dem Osmanischen Reich den Krieg, nachdem dieses ein Ultimatum, seine Provinzen Tripolitanien und Cyrenaika abzutreten, zurückgewiesen hatte. Der Feldzug, der zuvor als «Spaziergang» angepriesen worden war, entpuppte sich bald als hoffnungsloses Vorhaben. Die Einheimischen sahen die Italiener nicht als Befreier, sie leisteten gemeinsam mit osmanischen Soldaten erbitterten Widerstand (NZZ 12.11.1911, PDF: Der italienisch-türkische Krieg).

Giftgas und Konzentrationslager

Trotz Aufstockung der Truppen, Gewaltexzessen und Luftangriffen herrschte Italien nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nur über Gebiete in Küstennähe. Als Benito Mussolini 1922 die Macht übernahm, erklärte er die Eroberung Libyens zu einem Ziel seines Regimes. Zum Erreichen dieses Ziels war ihm jedes Mittel recht. Am 6. Januar 1928 warf die «Regia Aeronautica», die italienische Luftwaffe, erstmals Giftgas ab, was schon damals als schwere Völkerrechtsverletzung galt.

Am längsten Widerstand leistete der islamische Orden der Senussi in der Cyrenaika im östlichen Libyen. Ihr Führer Omar al-Mukhtar ist ein Nationalheld in Libyen, der frühere Machthaber Ghadhafi finanzierte einen Film, der das Leben des Freiheitskämpfers nacherzählt.

Um der Widerstandsbewegung ihre soziale Basis zu entziehen, deportierten die italienischen Kriegsführer im Sommer 1930 rund 100 000 arabische Halbnomaden und internierten sie in 15 Konzentrationslagern in der Wüste. Historiker schätzen, dass etwa die Hälfte von ihnen nicht überlebte. Sie starben an Hunger, Seuchen und Erschöpfung durch Zwangsarbeit oder wurden exekutiert. Zusätzlich liessen die italienischen Generäle an der Grenze zu Ägypten einen 300 Kilometer langen Stacheldrahtzaun aufbauen, damit die Senussi vom Waffennachschub abgeschnitten wurden.

Der Wendepunkt

Der Wendepunkt kam im September 1931: Die Italiener konnten den Widerstandsführer Umar al-Mukthar gefangen nehmen, er wurde in einem Schauprozess gehängt. Und so erreichte Mussolini am 24. Januar 1932 die Nachricht: Ganz Libyen ist befriedet.

«Italien, aus der Kolonie Libyen»: Ausriss aus der NZZ vom 27. 01. 1932, mit diesem Link gelangen Sie zum PDF der ganzen Seite.

Das faschistische Italien beherrschte Libyen danach mehr als zehn Jahre. Im Land, das zu einem Stück Italien in Nordafrika werden sollte, liessen sich bis ins Jahr 1939 etwa 100 000 italienische Siedler nieder. Sie beschlagnahmten den kultivierbaren Boden, die Einheimischen wurden in unfruchtbare Gebiete vertrieben. Im Mai 1943 besetzten Grossbritannien und Frankreich das Gebiet, 1951 wurde Libyen unabhängig.

Bis heute verdrängen viele Italiener, dass ihr Land auch eine Täternation ist. Über die Verbrechen der Kolonialgeschichte wird genauso wenig gesprochen wie über die Diktatur unter Benito Mussolini, der bis zu einer Million Menschen zum Opfer fielen.

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