26. Januar 2017 · Kommentare deaktiviert für Migrationsexpertin: „Es geht um Klassenzugehörigkeit“ · Kategorien: Hintergrund · Tags: ,

Quelle: derStandard | 25.01.2017

Männlichkeit wird im Kontext von Migration oft als Grund für Probleme gedeutet – für Susanne Spindler eine Strategie, um von Ungleichheiten abzulenken

Interview CHRISTINE TRAGLER

STANDARD: Die Ursachen für die Probleme von und mit jugendlichen Migranten werden oft in ihrem kulturellen Background gesucht. Werden damit soziale Probleme zugedeckt und kulturalisiert?

Susanne Spindler: Indem wir bestimmte Probleme immer auf die Kultur und eine bestimmte Vorstellung von „der“ türkischen, arabischen, muslimischen Familie verlagern, nehmen wir uns die Möglichkeit, an den Schrauben unserer Gesellschaft zu drehen. Wir müssen die Probleme wieder in einen gesellschaftlichen Rahmen zurückholen und nicht alles einer vermeintlichen Problematik von Kultur, Religion und Herkunft zuweisen.

STANDARD: Worum geht es stattdessen?

Spindler: Tatsächlich geht es um politische Teilhabe, um den Zugang zu Bildung, zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Und ganz stark geht es um die Frage von Klassenzugehörigkeit – aber darüber sprechen wir nur noch ganz wenig. Differenzen werden häufig als Belastung problematisiert, wenn es die anderen sind, oder als Diversität gepriesen, wenn es auf das Eigene bezogen ist. Stattdessen sollten wir lernen, mit Unterschieden, die gesellschaftlich vorhanden sind, umzugehen – ohne das einzelne Subjekt als patriarchal und per se problematisch zu definieren.

STANDARD: Was kann die Erfahrung von Diskriminierung und Exklusion bewirken?

Spindler: Die Erfahrung, immer als „rassifiziertes Subjekt“ wahrgenommen und einer Gruppe zugeordnet zu werden, ist eine, die prägt – ob man will oder nicht. Da wird eine Gruppenzugehörigkeit vorausgesetzt, die ganz stark auf die Bilder abzielt, die man zu Ländern oder Kulturen im Kopf hat. Wenn ein Mensch mit dunkler Hautfarbe ständig die Frage gestellt bekommt, woher er denn komme, ist die zugrunde liegende Annahme, er gehöre eigentlich nicht zur Gesellschaft. Diese Ethnisierungsprozesse sind meist mit eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten verschränkt. Etwa aufgrund von Klassenzugehörigkeit oder weil man aus einem bestimmten Stadtteil kommt.

STANDARD: Was bedeutet diese Prägung für die Konstruktion von Männlichkeit?

Spindler: Männlichkeit ist nach wie vor gesellschaftlich relevant: Wir verbinden das mit Tätigsein, mit Erwerbsarbeit, mit der Fähigkeit, eine Familie zu ernähren. Wenn der Zugang zu gesellschaftlich anerkannten Positionierungen verwehrt bleibt, können Männer in einer Art Gegenwehr reagieren, indem sie beispielsweise versuchen, mit übersteigerten Formen von Männlichkeit eine Positionierung zu erlangen. Das ist häufig mit Gewalt verbunden. Männlichkeit erscheint ihnen dann als letzte verbleibende Ressource – und Gewalt als ein Mittel, diese herzustellen.

STANDARD: Stichwort Männlichkeit. Sexismus zu benennen, ohne rassistisch zu sein, erscheint derzeit schwierig. Warum?

Spindler: Die Politikwissenschafterin Nikita Dhawan hat einmal die Frage gestellt, ob es bei einer historisch hartnäckigen Positionierung „der Anderen“ überhaupt möglich sei, über die Gewalt innerhalb einer rassifizierten Gruppe zu sprechen – ohne zu verschweigen oder zu ethnisieren. Es gibt Ansätze dazu. Ein Beispiel ist die Kampagne #ausnahmslos (ein Zusammenschluss von Feministinnen, die sich nach Köln gegen Rassismus und sexualisierte Gewalt einsetzen, Anm.). Hier wurde mit einer feministisch-antirassistischen Lesart versucht, an die Thematik heranzugehen.

STANDARD: In der Debatte nach Köln war es den Aktivistinnen von #ausnahmslos auch wichtig, auf das Vorhandensein patriarchaler Strukturen in der Mehrheitsgesellschaft hinzuweisen.

Spindler: Die Konzentration auf „die Anderen“ verdeckt, dass innerhalb unserer Gesellschaft Ungleichheitsstrukturen herrschen – auch zwischen den Geschlechtern herrschen. Generell werden Machtverhältnisse ausgeblendet: Die Mächtigen der Welt sind überwiegend weiße Männer. Die strukturellen Gewaltverhältnisse, in denen die einen ausgebeutet und die anderen immer reicher werden, beruhen auf Macht durch Männlichkeit. Das müsste uns eigentlich vielmehr beunruhigen. Um davon abzulenken, spricht man von Männlichkeit immer nur dann, wenn es um Marginalisierte, Arme und Migranten geht. Das sieht man auch in der Debatte nach Köln.

STANDARD: Kam es zu einer Ethnisierung der Geschlechterdebatte?

Spindler: Es gibt eine extreme Fokussierung auf die Debatte um das Geschlechterverständnis muslimisch-migrantischer Männer. Sicher prägt die jeweilige Sozialisation. Wenn man in einem Land unter Kriegsbedingungen aufgewachsen ist oder in einer Gesellschaft, in der Frauen nicht zur Schule gehen dürfen, erzeugt das andere Geschlechterbilder als in einer Gesellschaft, in der das nicht der Fall ist. Hier soll kein Sprechverbot aufgebaut werden. Der Diskurs über die Männlichkeit „der Anderen“ ist aber nichts Neues, sondern lässt sich bis in den Kolonialismus zurückverfolgen. Die Männlichkeit „der Anderen“ wurde damals schon als Grundlage genutzt, um Ausbeutung und Ungleichheit zu rechtfertigen. Man muss sich fragen, ob diese Debatte heute im Kontext von Flucht nicht wieder dazu dient, Exklusionen zu legitimieren. Im Asylsystem repräsentiert sich dieser Ausschluss. Was aber passiert mit Männern und auch Frauen, wenn es so gut wie keine Möglichkeiten der Teilhabe gibt?

STANDARD: Und die Rolle der Medien dabei?

Spindler: Im medialen Diskurs hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Es gibt Versuche, differenzierter mit der Debatte umzugehen. Verhaltenskodexe sollen festlegen, wann man den Migrationshintergrund in der Berichterstattung nennen soll oder nicht. Der Beitrag der Medien in der (Re-)Produktion stereotyper Bilder ist nach wie vor groß. Hinzu kommt die deutlich sichtbare Macht digitaler Medien: Dadurch dass im Internet jeder seine Meinung zu allem kundtun kann, werden vereinfachte Erklärungsmuster enorm verbreitet und immer weiter reproduziert. Rechtspopulistische Bewegungen können das als Strategie nutzen und dadurch Auftrieb bekommen.

Susanne Spindler ist Professorin im Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Sie lehrt und forscht zu den Themen Migration, Rassismus und Männlichkeiten in der Einwanderungsgesellschaft. Im Rahmen der Wiener Tagung „Migration und Männlichkeiten hielt“ sie die Keynote.

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