23. Januar 2017 · Kommentare deaktiviert für «Reporter ohne Grenzen»: Die Not hat immer ein Gesicht · Kategorien: Lesetipps, Medien · Tags:

Quelle: NZZ | 23.03.2017

Das Jahrbuch der Schweizer Sektion von «Reporter ohne Grenzen» befragt unser Gewissen: Versammelt sind bildgewordene Gewissensbisse, zu ehrlich, um in der Tagespresse dem Leser zugemutet zu werden.

von Daniele Muscionico

Sein Schlafkissen ist die Eisenbahnschwelle. Seine Unterlage der kantige Schotter: So schläft der erschöpfte junge Mann auf der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien. Die Balkanroute ist geschlossen.

Wohin ging er, als er wach wurde, wo lebt er heute? Seine Spuren kennen wir. Und wir kennen den Protest der Flüchtlinge in den Lagern und jener an den Grenzen, die dafür kämpften, die Route wieder zu öffnen. Doch ihre Geschichte ist zu unbedeutend, um damit Schlagzeilen zu machen. Ihre Anwälte sind engagierte Reporter und verantwortungsbewusste Medien, die Bildern Platz einräumen, ohne ihren Wert in Klicks zu bemessen. In diesem Fall sind es die Schweizer Fotografen Maurice Haas und Christian Grund.

Die beiden haben das Schicksal des Schlafenden auf einem stillgelegten Geleise – und dasjenige Tausender anderer Namenloser – in ihren Reportagen festgehalten: Flüchtlinge auf dem Weg durch Europa, ihre schutzlose Hoffnung und masslose Erschöpfung nach der Flucht über das Meer bei der Ankunft in Lesbos; ihre bodenlose Hoffnungslosigkeit und wortlose Resignation, wenn sie schliesslich dorthin verschlagen werden – ins Flüchtlingslager Idomeni.

Alle Macht der Ohnmacht

Das Schweizer Jahrbuch von Reporter ohne Grenzen hat die Dokumente von Haas und Grund publiziert. Es sind bildgewordene Gewissensbisse oder Stiche ins Herz, zu ehrlich, um in der Tagespresse dem Leser zugemutet zu werden, zu schonungslos für den schnellen Konsum. Schwarz-Weiss-Fotografie von Maurice Haas, entfärbte Farbigkeit bei Christian Grund, alle Macht der Ohnmacht – menschliches Strandgut.

Flucht, Exodus. Sie sind das grosse Thema dieses Bildbandes, den die Schweizer Sektion von Reporter ohne Grenzen jedes zweite Jahr publiziert. Die aktuelle Ausgabe ist eine Gewissensprüfung mit immensem Beunruhigungspotenzial: Die Not hat, auch wenn hier keinen Namen, so doch immer ein Gesicht. Fünf Schweizer Ausnahmetalente geben es den Namenlosen zurück: Maurice Haas und Christian Grund, Pascal Mora, Mark Henley und Christian Schmid. Sie sind und waren die Zeugen der Menschen auf der Flucht, aus Syrien und anderen Ländern des Nahen Ostens, aus Afrika und Asien.

Die Fotografen widmen sich jenen, die immer die «Anderen» bleiben. Es sind die Traumatisierten, die noch unter den widrigsten Bedingungen um jeden Bissen, jedes Feuerholz Hoffnung kämpfen: in dem inzwischen geräumten Lager Idomeni, heute ohne jede Infrastruktur und zersprengt, zerstreut über ganz Europa; in den Flüchtlingslagern im Nordirak, an der Grenze zur Türkei, in Jordanien oder in der kurdischen Enklave im Nordwesten Syriens.

Ein Kurde kommt zudem in eigener Anschauung zu Wort. Der Journalist Khusraw Mostafanejad erzählt die Geschichte seiner mehrjährigen Flucht durch Europa und von seinen Erfahrungen mit dem Schweizer Asylwesen in eigenen Worten. Mostafanejad lebt inzwischen in der Schweiz, er wurde vorläufig aufgenommen. Das Thema Kurdistan, so seine Erfahrung, interessiere Schweizerinnen und Schweizer wenig.

Ein Frauenteam verantwortet die neue Ausgabe, es hat den Inhalt in eine spannende Dramaturgie gebracht, die Bilder bestechend kuratiert und zu Bild-Essays verdichtet: Thérèse Obrecht Hodler und die Foto-Autorität und Mitbegründerin der Agentur Lookat, Nicole Aeby. «Grenzen» ist das heimliche Motto der Publikation, im realen wie im unfassbaren Sinne. Wenn Flüchtlinge an Mauern, Stacheldrähten scheitern, an Grenzen, welche anderseits Waren problemlos passieren, ist das die Grenze, die sich materialisiert. Eine andere Grenze fotografiert Matthieu Gafsou, wenn er das Darknet zeigen will. Im Amazon für Kriminelle kann man Drogen und Waffen kaufen; das Darknet ist aber auch ein sicherer Hafen für Medienschaffende im Kampf gegen die Zensur.

«Auf der Suche nach dem Paradies und zurück» wiederum von Yves Leresche hat einen expliziten Schweiz-Bezug und führt an die Grenze der Integration und zu dem, was Politiker darunter verstehen. Am Beispiel der Roma in der Schweiz zeigt Leresche das Schicksal rumänischer Roma, die 25 Jahre nach dem Sturz von Ceausescu noch immer dort sind, wo sie früher waren – unterwegs, auf der Strasse zwischen der Schweiz und Rumänien. Sie sind stigmatisiert und chancenlos, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Leresche, der Westschweizer Spezialist, spricht von einer «verlorenen Generation», sein Bild- und Textbeitrag ist eine erhellende Analyse, körpernah und körperwarm geschrieben und fotografiert.

Nicole Aeby und Thérèse Obrecht Hodler haben Bilder von bestechender Qualität versammelt, unbequeme Bilder, schroffe Bilder etwa wie die monochromen Irritationen von Gafso. Die Dokumente von Tanya Habajouqua demgegenüber sind von absurdem Humor. Die jordanische Fotografin zeigt die begrenzten Vergnügungen junger Palästinenserinnen, die sich einiges einfallen lassen, um ihren Alltag mit kleinen Freuden zu schmücken und die Macht der Besetzer zu vergessen.

Zorn und Trauer

Dass in einem Bildband auch die Texte von grosser Qualität sind, ist keine Selbstverständlichkeit. Der Autor Urs Mannhart etwa schildert eine Reise, die er mit dem Fotografen Beat Schweizer nach Transnistrien unternahm. «Unbefestigte Ufer» heisst ihre Geschichte über den Alltag des Landes zwischen der Moldau und der Ukraine. Man liest die Erzählung so gespannt, wie man Mannharts Bücher liest, er hat mindestens so viel Aufmerksamkeit in diese Beobachtungen investiert wie in seine literarischen Projekte.

Inwiefern aber können uns Bilder von Flüchtlingen noch erschüttern? Oder uns wenigstens noch erreichen? Der Bub Alan Kurdi lag am 2. September 2015 für die Augen der Weltöffentlichkeit tot am Strand bei Bodrum. Der Zorn und die Trauer über alle anderen, seitdem namenlos ertrunkenen Kinder sind inzwischen zur stummen Ohnmacht versickert. Ihr gegenüber ist dieser Bildband ein Kontrapunkt. Seine Wucht schlägt eine Bresche in die Themen, die in der öffentlichen Erhitzung alle Aufmerksamkeit abziehen.

Es sind die Stellvertreterkriege um Burkas, Nikabs oder Burkinis, die verschleiern, worum es in der Flüchtlingsdebatte eigentlich geht: um Menschen und Menschenwürde, um Moral und Integrität.

Reporter ohne Grenzen (Hrsg.): Deutsch/französisch, durchgehend bebildert, ca. 16 Franken. Zu beziehen via www.rsf-ch.ch.

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