13. Januar 2017 · Kommentare deaktiviert für Köln: „So lief die Silvesternacht ab – aus Sicht eines Nordafrikaners“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Quelle: Welt | 12.02.2017

Warum sind viele Nordafrikaner in der Silvesternacht erneut nach Köln gereist? Wie sind sie vernetzt, wovon leben sie? Der Marokkaner Farid O. arbeitet als Sicherheitsmann und kennt seine Landsleute.

Michael Remmert

Silvester, in Köln, vor wenigen Wochen: Farid O. ist dabei. Denn in Köln ist was los. So wie schon 2015. Viele Menschen auf der Straße, vor allem vor dem Hauptbahnhof, mit Blick auf den Dom. Viele Menschen aus anderen nordafrikanischen Ländern. Aber nicht nur – auch Syrer, Iraker, Pakistani.

Silvester in Köln – das ist eine willkommene Abwechslung vom täglichen Einerlei in den Flüchtlingsheimen. Wo die Langeweile herrscht. In Köln, da tut schon allein das Rumlaufen gut, das Gucken, das Lachen. Es steckt an, heitert auf. Die bunten Farben. Das Feuerwerk. Ein paar Bier – klar. „Abhängen“ zusammen, das ist zunächst mal die Hauptbeschäftigung. Farid O. macht einfach mit.

Plötzlich ist der Spaß vorbei. Die Polizisten treiben ganze Gruppen zusammen, in die Mitte der Domplatte, grenzen die Zugänge zum Hauptbahnhof ab. Erst vorne Richtung Dom, dann hinten Richtung Breslauer Platz, dann die Stufen zum Dom. Schließlich den Kreisel an der Marzellenstraße und damit den Zugang zur Altstadt, wo viele Kneipen und Discos sind. Sehr schnell geht das, es dauert weniger als zehn Minuten.

In der Gruppe von Farid O. bleibt es friedlich, Gejohle, ja. Hin und Hergeschubse unter Männern, auch das. Aber alles freundschaftlich. Kumpelhaft. Ein paar anerkennende Pfiffe, wenn gut aussehende Frauen vorbei kommen. Aber mehr nicht. Dann: Platzverweise. Zunächst nur an einzelne, die wahllos aus zehn-, fünfzehnköpfigen Gruppen herausgegriffen werden – wohl weil sie auffallen, durch besonders lautes Gröhlen, übermäßigen Alkoholgenuss, freche, manchmal obszöne Gesten.

Mindestens 80 Prozent der Anwesenden kommen laut Farid O. aus den Maghreb-Staaten. Dann: Alle wieder zurück in den Bahnhof. Und in die Züge Richtung Dortmund, Düsseldorf, Essen, Duisburg, Münster, Aachen. Es gibt Gemurre. Aber auch viele beschwichtigende Worte derer, die noch nicht besonders betrunken sind, auf ihre Kumpels einreden – und ihnen klar machen: „Besser ist das, wenn wir uns fügen. Und in Frieden wieder zurück fahren.“

Ein Haarschnitt wie Fußballstar Neymar

Das Verhalten der Polizei beschreibt Farid O. als „normal“ – eine wegwerfende Handbewegung, dann: „Die tun auch nur ihren Job. Das muss man verstehen.“ Haben die Beamten überreagiert, wurden sie handgreiflich? Nein, das hat er nicht beobachtet. Aber die Domplatte ist groß: „Ich war nicht überall.“

Farid O. kommt aus Nordafrika – genauer: aus Meknes in Marokko. 25 Jahre ist er alt, seit zwei Jahren in Deutschland. Erst in Dortmund. Jetzt in Ratingen bei Düsseldorf. Sein Deutsch: exzellent, in Sprachkursen gelernt.

So exzellent, dass er, der in Marokko Energiewirtschaft studiert hat, in Deutschland jetzt weiterstudiert. Ein Kämpfertyp. Schon äußerlich: athletisch, 1,85 Meter groß. Klarer Blick. Topfit, geistig wie körperlich. Der Haarschnitt erinnert ein bisschen an Brasiliens Fußballstar Neymar – kurz an Seiten und Schläfen, langer Hauptschopf.

Farid O. trägt schwarz: schwarze Jogginghose, schwarze Sneaker, schwarzes T-Shirt. Mit dem Logo eines Security-Unternehmens in Brusthöhe. Wir treffen ihn in einem Flüchtlingsheim in der Ratinger Christinenstraße – mitten in einem ansonsten sehr trostlosen Gewerbegebiet. Hier sind viele Nordafrikaner untergebracht, aber auch Iraker und Syrer.

Politik, Medien, Gesellschaft stellen sich die eine Frage

Warum Köln, warum schon wieder Köln? Und warum sind es fast ausschließlich Nordafrikaner, die der Polizei dort Silvester aufgefallen sind? Die „übergriffig“ wurden? Von Einsatzkräften eingekreist werden mussten, um Schlimmeres zu verhindern? Was steckt dahinter? Planung? Böse Absicht? Oder war alles doch viel harmloser, vielleicht sogar Zufall?

Mehr als 1000 Nordafrikaner wurden in der Silvesternacht in Köln von der Bundespolizei vorübergehend rings um den Hauptbahnhof festgesetzt, rund 900 Platzverweise ausgesprochen. „Fahndungsrelevante Klientel“ heißen diese Personen im Polizeijargon.

Die Behörden waren vorbereitet, angesichts der Eskalation in der Silvesternacht ein Jahr zuvor: Mehr als 100 Zivilbeamte fuhren in den Zügen mit, die zwischen 20 und 23.45 Uhr am Silvesterabend Richtung Köln rollten. Unterstützt wurden die Beamten durch zahlreiche Kollegen in Uniform und rund 250 Sicherheitskräfte der Deutschen Bahn.

Schnell wurde klar: Die Züge waren mit Nordafrikanern überfüllt, viele fuhren ohne Ticket.

Um etwa 22.30 Uhr kam es zu einer ersten kritischen Situation: Rund 300 Nordafrikaner stiegen auf einmal aus einem Zug aus, der aus dem Ruhrgebiet kam. Aber nicht am Hauptbahnhof, sondern eine Station vorher, auf der rechten Rheinseite, am Bahnhof Deutz. Die Männer waren laut Bundespolizei stark alkoholisiert, suchten Streit und waren auf Randale aus. Von diesem Moment an galt bei der Polizei die Parole: Sofort jeden Ärger unterbinden.

Farid O. hat alle Kontakte auf dem Smartphone

Weil er sehr gut Deutsch und neben dem Französischen auch verschiedene arabische Dialekte spricht, arbeitet Farid O. heute nebenher in einem Flüchtlingsheim in Ratingen – als Sicherheitsmann. Dort wohnen Nordafrikaner, Syrer, Iraker. Farid O. kennt sie alle, natürlich. Und er ist, wie alle anderen, vernetzt – in WhatsApp-Gruppen, über Facebook, Snapchat.

Die Vernetzung – ein großes Thema bei den Sicherheitsbehörden. Wer ist da eigentlich mit wem vernetzt, und warum?

Farid O. stellt gleich klar: „Natürlich tauschen sich Flüchtlinge untereinander aus. Aber das ist so gut wie immer nur lokal. Man hat 150 Leute in einer Gruppe, höchstens. Je nachdem, wo man wohnt, können die Gruppen auch viel kleiner sein.“ Er selber sei eine Ausnahme, sagt er, er habe mehr Kontakte als viele andere – aber auch nur, weil er auch schon einige Monate in Dortmund gelebt hat. So kenne er „Kollegen“ im Ruhrgebiet und im Rheinland.

Düsseldorf zwischen Shisha-Bar und Koran-Zirkel

Ratingen – das liegt sehr nah an der Maghreb-Hochburg Düsseldorf: Die Straßenbahn oder S-Bahn braucht weniger als eine halbe Stunde zur Düsseldorfer Ellerstraße. Dort gibt es marokkanische, algerische und tunesische Supermärkte, Restaurants, Klubs, Cafés – aber auch Koran-Zirkel oder Säle, die für islamische Gottesdienste verwendet werden. Auch Salafisten sind darunter. Radikale Denker. Aber in erster Linie: Ein Treffpunkt für Nordafrikaner aus ganz NRW.

Die Ellerstraße liegt im Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk, rund 200 Meter vom Eingang des Hauptbahnhofs entfernt. Dortmund, Bochum, Essen, Krefeld, Mönchengladbach, Duisburg und natürlich Köln – alle Städte weniger als eine Stunde per Bahn entfernt. Rund 15 Millionen Menschen leben in einem Umkreis von 80 Kilometern, darunter mehrere Tausend Nordafrikaner.

„Wer viel in Düsseldorf ist, der kennt eben viele Leute, auch in anderen NRW-Städten. Und alle kommen immer wieder nach Düsseldorf, auch um abzuhängen, oft einfach aus Langeweile“, weiß Farid O.

Aber nicht jede Fahrt nach Düsseldorf sei eine harmlose kleine Tour, um ein paar Freunde auf einen Tee zu treffen. „Der Drogenhandel spielt eine wichtige Rolle, leider. Und in Düsseldorf wird gedealt, da bestimmen die Druglords, wer wo was in NRW verkaufen darf.“ Farid O. spricht offen, denn natürlich liest er deutsche Zeitungen, schaut fern, verfolgt die Diskussion über seine Landsleute, andere Nordafrikaner.

Was der Begriff „Nafri“ bei Farid O. auslöst

Er ist sauer auf die, die sein Land und eine ganze Region in den Schmutz ziehen. Die nicht, wie er, Deutsch lernen wollen, die nicht, wie er, ihre im Heimatland erworbenen Kenntnisse in eine Ausbildung oder einen Studiengang in Deutschland stecken, um möglichst schnell integrierbar zu werden.
Er kennt den Begriff „Nafri“ – den er weder diskriminierend noch schlimm findet, sondern passend. Vor allem wenn er das Wort „Intensivtäter“ hört. „Viele, die aus den nordafrikanischen Ländern hier sind, wissen genau: Sie haben keine Chance auf Asyl.“ Warum sind sie dann in Deutschland? „Weil sie in kriminelle Machenschaften verstrickt sind. Wie sollen sie sonst hier zu Geld kommen? Sie dürfen ja auch nicht arbeiten. Sie können oder wollen nicht studieren“, sagt Farid O.

Dazu fehle ihnen auch aus Geldmangel zu Hause die Vorbildung. Die wenigsten hätten ausreichend Geld, um beispielsweise als Selbstständige ein Geschäft oder ein Restaurant zu eröffnen. Das gelinge nur einer verschwindend geringen Zahl von Ausnahmen: „Meistens sind es Leute, die schon in den Heimatländern zu einer gehobenen Schicht gehören und über genügend Geld verfügen – in Marokko sind es Leute, die der Königsfamilie nahe stehen, in Algerien sind es Freunde und Bekannte der Militärdiktatur. Und in Tunesien muss man schon aus Zeiten des Touristenbooms Geld gerettet haben. Also alles Eliten – aber das sind nicht die Leute, die Silvester in Köln sind oder immer wieder negativ auffallen.“

Sondern? „Die, die hier Ärger machen, gehören schon zu Hause zum Prekariat. Sie sind schon dort arbeits- und mittellos.“ In Tunesien betrage die Arbeitslosigkeit in manchen Regionen bis zu 80 Prozent, in Marokko zum Teil 40 Prozent in den Städten, in Algerien sehe es oft nicht besser aus. „Man hat Heerscharen von jungen Männern, die in allen drei Ländern stets am Rande des Existenzminimums leben. Und sie haben keine Chance. Es gibt dort keine Aussicht auf Besserung. Sie suchen ihr Heil in Deutschland.“

Keine Chance, echten Sex zu erleben

Der wirtschaftliche Aspekt – das ist das eine. Aber für Farid O. noch viel schlimmer: Diese jungen Männer haben zu Hause keine Chance, jemals echten Sex zu erleben. „Wenn Du in Nordafrika kein Geld hast, dann kannst Du nicht heiraten. Und wenn Du nicht heiratest, dann kannst Du noch nicht mal eine Frau küssen. Das verbietet der Islam. Und echter Sex mit allem drum und dran – das kannst Du völlig vergessen. Nicht in Nordafrika ohne Ehe.“ Er selber habe seit einem halben Jahr eine Freundin, eine in Deutschland geborene Marokkanerin.

Köln. Hier sind „Bützchen“ normal. An Silvester. Zu Karneval. Rheinischer Frohsinn, Küsschen hier, Küsschen da. Mit Wildfremden. „Das sind natürlich Signale, die von nordafrikanischen Männern vollkommen falsch gedeutet werden“, sagt Farid O. „Das kulturelle Missverständnis besteht auf beiden Seiten: Deutsche Frauen wissen oft nicht, was Männer aus Nordafrika umtreibt, die noch nie wirklich Sex hatten und damit quasi Trieb-Pulverfässer sind.“ Und nordafrikanische Männer verstünden natürlich überhaupt nicht, dass die „Bützchen-Kultur“ eben keine Einladung zum Sex sei, sondern lediglich Ausdruck einer – oft feucht-fröhlichen – Feiertradition ohne weitere Hintergedanken.

Für Farid O. sind viele seiner Landsleute in einem Teufelskreis gefangen: „Sie können keinen Sex haben, können nicht arbeiten. Sie kommen nicht an Geld. Jedenfalls nicht auf legalem Weg. Also sind sie kriminell. Entweder sie klauen, was sie sehen. Oder sie geraten in den Drogenhandel.“

Der IS wirbt mit Bildern von Fünf-Sterne-Hotels

Oder aber, und auch das passiert, sie werden vom IS rekrutiert. Der, sagt Farid O., sei in Deutschland, in Düsseldorf, aktiv. Denn: „Der IS hat Geld. Keiner der jungen Nordafrikaner, die hier in Deutschland leben, könnten sich jemals ein Fünf-Sterne-Hotel in Miami leisten. Aber der IS schickt Neuangeworbene dahin, stellt die Bilder ins Netz. Das lockt natürlich viele am Ende doch an.“

Ein Pakt mit dem Teufel, sagt Farid O.: „Wenn Du Dich dem IS verschreibst, bist Du so gut wie tot. Entweder fällst Du irgendwo auf dem Schlachtfeld. Oder man verlangt von Dir, dass Du Attentäter wirst. Oder Du kommst im Drogenkrieg ums Leben, denn der IS mischt da mit, auch in Deutschland.“ Trotzdem gebe es immer wieder Verzweifelte, die mitmachen. Und der IS sei gnadenlos. „In allen Bereichen.“

War die Silvesternacht nun geplant?

Warum nun ausgerechnet Köln an Silvester? Warum nicht doch Düsseldorf? „Ganz einfach“, sagt Farid O., „erstens kommst Du aus jeder NRW-Stadt ohne Umsteigen nach Köln. Und außerdem: Da steigst Du aus, gehst zehn Meter aus dem Hauptbahnhof raus und da fängt die Party auf der Domplatte schon an.“

Düsseldorf sei schwieriger. Die Altstadt ist ein Stück weit weg vom Hauptbahnhof entfernt. Außerdem habe sich rumgesprochen, dass man in Köln in viele große Discos auch als Nordafrikaner problemlos reinkommt: „Die Türsteher sind da super tolerant. Man kann sich an einer Cola ewig festhalten, braucht nicht viel Geld. Auch das ist in Düsseldorf anders. Da kommst Du nicht in die Klubs und Discos.“

Gibt es so was wie einen politischen Hintergrund? Absicht? Deutschenhass? „Quatsch,“ sagt Farid O., „natürlich gibt es Frust. Keine Arbeit. Keine Frau. Keine Aussicht, dauerhaft bleiben zu können. Alkohol. Da kommt Aggressionspotential zusammen. Das kann man nicht leugnen. Es wird laut. Die Polizei schreitet ein. Das ist verständlich aus Sicht der Polizei, sie muss ja für Ordnung und Sicherheit sorgen. All das heizt die Stimmung auf.“ Aber wer hier eine ideologisch geplante Konfrontation sieht, liege definitiv falsch.

Die Lösung? Die kennt Farid O. auch nicht: „Schwierig, denn im Prinzip sind die allermeisten Nordafrikaner nicht integrierbar – sie dürfen nicht arbeiten, haben kein Geld, müssen von Transferleistungen leben.“ Jeden Tag sähen sie die Verlockungen der westlichen Welt, die sie niemals erreichen können. „Sie haben keine Chance auf Asylgewährung. Ich wünschte, dass die, die hier nur mit krimineller Energie unterwegs sind, wieder gingen. Denn sie machen das Leben für die, die hier fleißig Deutsch lernen und über die Bildung integrierbar werden möchten, sehr, sehr schwer.“
Bildung – ein Begriff, der hängen bleibt. Immerhin. Ein Hoffnungsschimmer. Aber für wie viele?

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