27. Juli 2016 · Kommentare deaktiviert für „Erdoğan verrechnet sich ums Hundertfache“ · Kategorien: Europa, Türkei

Quelle: Zeit Online

Die EU zahlt viel mehr für Flüchtlinge in der Türkei, als Erdoğan behauptet. Doch Teile des Flüchtlingsdeals funktionieren bis heute nicht. Das liegt auch an Europa.

Von Lenz Jacobsen

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nutzte sein Interview in der ARD am Montagabend, um vor allem auf die vermeintlichen Verfehlungen anderer hinzuweisen. „Sie haben versprochen, drei Milliarden Euro werden wir leisten“, sagte Erdoğan über das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei. Dann die Anschlussfrage: „Was hat der Westen geleistet? Leider nichts. Nur Symbolisches, ein oder zwei Millionen kamen vielleicht mal.“

Die knauserigen und verlogenen Europäer, die zwar groß von Menschenrechten reden, aber dann nicht liefern: Das war Erdoğans Botschaft. Er sagte: „Die EU hat ihr Versprechen nicht gehalten.“

Tatsächlich ist Erdoğans Darstellung verzerrend, in manchen Details schlicht falsch. Das beginnt bei den konkreten Zahlen. Nicht „ein oder zwei Millionen“ hat die EU bisher als Teil des Flüchtlingsdeals für syrische Flüchtlinge in der Türkei gezahlt, sondern bis Mitte Juni dieses Jahres schon 105,8 Millionen Euro. Das Hundertfache also. Das geht aus einer Aufstellung der EU-Kommission über alle bisher geförderten Projekte hervor, deren Aktualität die Kommission auf Nachfrage bestätigt.

Das heißt nicht, dass die kompletten 105,8 Millionen Euro bereits für die Flüchtlinge ausgegeben wurden. Aber sie stehen den jeweils unterstützen Projekten, zum Beispiel dem Welternährungsprogramm oder Ärzte der Welt, komplett zur Verfügung.

Zählt man noch jene Projekte hinzu, die bis Mitte Juni bereits genehmigt waren und für deren Finanzierung Verträge unterschrieben sind, die aber ihre Mittel noch nicht erhalten haben, liegt die Summe noch höher, nämlich bei etwas mehr als 740 Millionen Euro. Insgesamt will die EU-Kommission die Verwendung von mehr als zwei der drei Milliarden bereits bis Ende Juli zumindest konkretisiert haben, in den kommenden Tagen also. Dabei sieht sie sich „on track“, also voll im Zeitplan.

Ein Steuerungskomittee entscheidet

Angesprochen auf Erdoğans Vorwürfe, sagt eine Sprecherin der EU-Kommission deshalb, man halte sich an die Vereinbarungen aus dem Deal mit der Türkei. „Gegenteilige Behauptungen, auch zur finanziellen Unterstützung für Flüchtlinge in der Türkei, sind nicht wahr.“

Zwei der drei Milliarden Euro kommen von den Mitgliedsstaaten, eine Milliarde aus dem EU-Budget. Über ihre Verwendung entscheidet, wie es für Brüssel typisch ist, ein extra eingerichtetes „Steuerungskomittee“, das sich aus Vertretern der Mitgliedsstaaten zusammensetzt und von der EU-Kommission geleitet wird. Die türkische Seite hat eine „beratende“ Funktion in dem Komitee.

Nur 468 zurück in die Türkei geschickt

All das heißt nicht, dass Erdoğan mit seiner Kritik im Interview vollkommen Unrecht hätte. Er erwähnt die vielen Milliarden Dollar, zwölf sind es seiner Aussage nach, die die türkische Regierung in den vergangenen fünf Jahren für die Versorgung von Flüchtlingen ausgegeben hat. Allein 2,7 Millionen registrierte Flüchtlinge leben in der Türkei, dazu kommt die Dunkelziffer der Unregistrierten. Ein humanitärer, gesellschaftlicher und ökonomischer Ausnahmezustand, um den sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten erst dann richtig zu kümmern begannen, als viele dieser Flüchtlinge sich auf den Weg aus der Türkei Richtung Europa machten.

Noch in einem anderen Punkt wirft Erdoğan in dem Interview der EU ungehaltene Versprechen vor: bei der so wichtigen Visaliberalisierung für Türken, die nach Europa reisen wollen. Man habe sich schließlich 2013 darauf geeinigt, dass die Liberalisierung 2015 kommen solle, sagte Erdoğan.

Das stimmt zwar, war allerdings immer an Bedingungen geknüpft. Eine Liste von 72 Benchmarks muss die Türkei vorher erfüllen. Dazu gehört eine Änderung der Terrorgesetze, zu der die Regierung nicht bereit ist.

Freiwillige Aufnahme? Gibt es nicht

So gibt der am 18. März beschlossene EU-Türkei-Deal gut vier Monate später ein widersprüchliches Bild ab. Die Zahl der Menschen, die aus der Türkei auf die griechischen Inseln kommen, ist tatsächlich drastisch gesunken. Das könnte allerdings auch mit der geschlossenen Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland zusammenhängen, wegen der die Migranten sowieso kaum weiter nach Zentraleuropa reisen können.

Der Eins-zu-eins-Austauschmechanismus jedenfalls, der als das Herzstück des Abkommens galt und vorsah, dass die EU für jeden von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgeschickten Migranten einen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufnimmt, ist nie wirklich angelaufen. Bis jetzt (Stand 21. Juli) sind nur 468 Personen in die Türkei gesendet worden, die letzten am 16. Juni, also vor knapp sechs Wochen. Die allermeisten sitzen noch immer auf den griechischen Inseln oder auf dem Festland fest, die Asylbehörden kommen trotz EU-Unterstützung mit den Verfahren kaum voran.

Nur auf dem Papier existiert die Regelung für die freiwillige Aufnahme aus humanitären Gründen. Eigentlich wollten die EU-Staaten der Türkei in großem Maßstab Flüchtlinge abnehmen, wenn die Zahlen der auf den griechischen Inseln Ankommenden gravierend zurückgehen. Die Zahlen sind massiv gesunken, im Juli 2016 zum Beispiel kamen bisher 1.293 Menschen, im Juli 2015 waren es 54.899. Doch passiert ist deshalb nichts, die Flüchtlinge bleiben weiter in der Türkei.

So hat Erdoğan zwar mit den Behauptungen über EU-Zahlungen Unrecht und legt die komplizierte Lage zwischen der Türkei und Brüssel zu seinen Gunsten aus. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten in Sachen Flüchtlingsdeal die eigenen Ansprüche tatsächlich erfüllen.

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