22. Juli 2016 · Kommentare deaktiviert für „Menschenjagd in der Migrantenhölle“ · Kategorien: Balkanroute, Bulgarien · Tags:

Quelle: Vice

von Aaron Lake Smith

Diesen Februar wurde ein 30-jähriger Schrottplatzbesitzer und ehemaliger Ringer namens Dinko Valev weltweit bekannt, nachdem er Handyvideos von seiner „Migrantenjagd“ im entlegenen bulgarischen Strandscha-Gebirge, nahe der türkischen Grenze, online gestellt hatte. In einem Film, der zuerst auf Facebook erschien, verhört er einen jungen afghanischen Mann, den er eingefangen hat, bevor er ihn den Behörden übergibt. „Du bist Terrorist?“, fragt Valev. Die Augen des Manns weiten sich, er lacht nervös. „Ich? Nein.“ In einem anderen Video, das an Amateuraufnahmen von Extremsportlern erinnert, springt Valev auf seinen Quad, bevor 15 Migranten—seine Beute—zu sehen sind, die mit dem Gesicht nach unten auf der Erde liegen. „Ich und meine Jungs haben eine Runde gedreht, und seht mal, was wir gefunden haben“, sagt er. „Wer sind diese Leute? Wie lange soll das noch so weitergehen?“

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Valevs Videos haben dieselbe verstörende Qualität wie Aufnahmen von Schlägereien oder andere Abgründe aus dem Deep Web, doch das eigentlich Erschreckende an ihnen ist die Tatsache, dass sie Valev in Bulgarien zum Helden gemacht haben. Und er ist nicht allein: Eine Gruppe von Nationalisten in Tarnkleidung, die sich „Organisation zum Schutz bulgarischer Bürger“ (OZBG) nennt, macht sich seit September 2015 ebenfalls einen Spaß daraus, auf ihren sogenannten „Waldspaziergängen“ Migrantengruppen einzufangen. Im März lobte Premierminister Boiko Borisov die Gruppe öffentlich und wies den Chef der bulgarischen Grenzpolizei an, den Männern für ihren „ehrenamtlichen“ Dienst einen Preis zu verleihen. Politiker haben sich zwar mit ihrem Lob zurückgenommen und Valev wurden im März Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt, doch die neu entdeckte Scham der Regierung hat das Phänomen der Migrantenjagd kaum gebremst. In Valevs Fall scheint diese Entwicklung ihn nur noch mehr zum Volkshelden zu machen. Eine bulgarische TV-Umfrage stellte kürzlich fest, dass 84 Prozent der Teilnehmer seine und andere zivile Patrouillen befürworteten. Ein bekannter bulgarischer Nachrichtensprecher beschrieb ihn als „Superhelden“, der „mit bloßen Händen“ Migranten bekämpfe.

Bulgarien ist das ärmste Land der EU. Es hat auch das Unglück, am Rande Europas zu liegen, wo es eine 250 Kilometer lange Landgrenze mit der Türkei teilt und fast 500 bergreiche Kilometer Grenze mit Nordgriechenland. Durch diese Gebiete sind seit 2011 bis zu 50.000 Asylsuchende gekommen. In wachsender Besorgnis hat die Regierung 31 Kilometer Zaun mit Klingendraht entlang der türkischen Grenze errichtet, die der Direktor der EU-Grenzschutzagentur Frontex als „die wichtigste Landgrenze der EU“ bezeichnet hat. Bulgarien hat vor, den Zaun dieses Jahr auf 160 Kilometer zu verlängern. Während Politiker noch über den richtigen Umgang mit Flüchtlingen und xenophoben Bürgern schwafeln, verdienen andere an der Verzweiflung großes Geld. Im Februar wurde ein Video geleakt, in dem 60 Personen bei der Überquerung der bulgarisch-türkischen Grenze zu sehen sind. Menschenschmuggler sind dabei, und der Grenzschutz sieht scheinbar zu. Im März führte eine Untersuchung des bulgarischen Innenministeriums zur Festnahme von fünf Grenzpolizisten, darunter ein Kommandant, wegen Menschenschmuggels.

Unterdessen haben einige Bulgaren an der Südgrenze es sich zur Aufgabe gemacht, das Land für Asylsuchende so unwirtlich wie möglich zu machen. Valev und die OZBG sind die bekanntesten Gesichter dieser Bewegung, doch neu gegründete bewaffnete Bürgerwehren orientieren sich an Valevs Vorbild. Bulgarien ist „ein Fehlschlag, die Regierung ist korrupt und eine Oligarchie herrscht über das Land“, sagt Iliana Savova, Direktorin des Flüchtlings- und Migrantenprogramms des Bulgarischen Helsinki-Komitees. „Am besten kann man von den eigenen Machenschaften ablenken, indem man jemanden beschuldigt, der sich von der Masse abhebt.“

In Valevs Heimatstadt Jambol wird eine Statue des Menschenjägers erwogen. Seine Bewunderer vergleichen ihn mit Vasil Levski, dem Helden der Freiheitsbewegung im 19. Jahrhundert, der für die Ideale der Französischen Revolution kämpfte und von einem pluralistischen, ethnisch heterogenen und religiös toleranten Bulgarien träumte. Ende März, als Valev aufgrund seiner Menschenrechtsverletzungen von der örtlichen Polizei verhört wurde, versammelten sich mehrere Dutzend Menschen zu seiner Unterstützung. Sie hüllten sich in Flaggen und skandierten „Das Herz und die Seele Bulgariens!“ und „Dinko ist ein Held!“ „Die im Helsinki-Komitee sind totale Nieten“, sagte Valev den TV-Kameras bei seiner Ankunft und schickte ein siegessicheres Lächeln hinterher. „Es ist mir egal … Ich habe getan, was getan werden musste.“

Jambol ist eine heruntergekommene kleine Stadt mit Fabriken und Lagerhäusern aus der kommunistischen Ära, die am überwucherten Ufer des Flusses Tundscha nahe der südöstlichen Grenze zur Türkei liegt. Sie hat in Bulgarien nicht den besten Ruf; eigentlich kannte man sie vor Valevs Aktivitäten nur aus einem schlechten Musikvideo, in dem ein örtlicher Rapper mit einem ausgestopften Raben auf der Schulter durch die Straßen zieht und „Jamboollll … ist die Stadt“ dröhnt.

Valev erwartete mich vor Jambols winzigem Einkaufszentrum in einem Tarn-Jogginganzug. Er ähnelt Vin Diesel—seinem Lieblingsschauspieler—und hat ein großes Tattoo eines orthodoxen Kreuzes auf der Brust und einen Tribal-Sleeve, den er bei jeder Gelegenheit zeigt. Seine rechte Hand, Dennis, begleitete ihn. In einem fort erschienen Männer, um Valevs Hand zu schütteln und ihm zu gratulieren. Im Einkaufszentrum blickte eine Oma, die ihre spielende Enkelin hütete, auf: „Dinko ist da!“ Sie schüttelte ihm ebenfalls die Hand und lobte ihn. Im Café des Zentrums umsorgten ihn zwei Baristas. Valev lehnte sich zurück und bestellte Kuchen.

Valev besteht fest darauf, seine Menschenjagd begonnen zu haben, nachdem eines Tages bei seiner Quad-Fahrt durch den Wald eine Gruppe Migranten aus den Büschen gesprungen sei und versucht habe, ihn zu erstechen. Seither patrouilliere er auf Quads mit einigen Freunden. Auf der ersten Patrouille nahmen sie etwa ein Dutzend Migranten gefangen. Bald darauf, so Valev, habe eine Dschihadisten-Website ein Kopfgeld von 4.000 Dollar auf ihn ausgesetzt. „Ich hatte die Migranten schon vorher gesehen, aber ich jage sie erst, seit sie mich angegriffen haben“, sagte er. „Ich bin eigentlich ein Niemand, aber es musste ja irgendwo seinen Anfang nehmen.“

Er war wütend, weil die Grenzpolizei ihn angeblich belästigte, was er auf ihre Korruption und Beteiligung am Menschenhandel schob. „Die Grenzpolizei wird bestochen, um Migranten zu schmuggeln, hundertprozentig“, sagte Valev. Obwohl es kaum Hinweise dafür gibt, dass die Korruption an der Grenze so verbreitet ist, wie Valev sagt, liegt der Hysterie eine demografisch begründete Angst zugrunde. Seit die Westbalkanroute, die von den Inseln der griechischen Ägäis durch Mazedonien nach Westeuropa führt, diesen März geschlossen wurde, fürchten viele bulgarische Politiker und Bürger, dass ihr Land zur alternativen Migrationsroute wird. An der griechischen Grenze hält die bulgarische Polizei seit einiger Zeit Übungen mit Wasserwerfern ab, bei denen Hunderte Statisten Migranten darstellen. Bulgarien hat außerdem begonnen, Marineübungen an der Schwarzmeerküste durchzuführen, falls massenweise Migranten diesen Weg wählen sollten. „Wenn Menschenschmuggler Leute über das Schwarze Meer bringen wie über das Mittelmeer“, sagte Javor Siderov, ein Politikwissenschaftler aus Sofia, sei „nicht ausgeschlossen“, dass die Route zu einem wichtigen Korridor werden könne.

Als der Kuchen gegessen war, musste Valev zurück zur Arbeit auf seinem Schrottplatz. Wir stiegen in seinen Mercedes CLS350, an dessen Rückspiegel ein Kruzifix und orthodoxe Ikonen baumelten. Vor meiner Reise hatte ich von seiner Fahrzeugflotte gelesen, die außer dem Mercedes noch einen Hummer, einen Porsche-SUV, einen ausrangierten Transportpanzer und natürlich seine Quads umfasst. Er besitzt auch 20 Pferde. Zahlreiche Gerüchte kursieren bezüglich des Kontrasts zwischen Valevs Beruf und seinen teuren Besitztümern. Manche, wie Savova vom Bulgarischen Helsinki-Komitee, mutmaßen, seine Bürgerwehr sei nur ein Ablenkungsmanöver, da er selbst am Menschenschmuggel beteiligt sei. Diesen Vorwurf nennt er „Bullshit“. Andere bringen ihn mit der bulgarischen Mafia in Verbindung. Die Zeitung Capital behauptete, Valevs unsichtbarer Partner im Schrottgeschäft sei Kamen Schelev, der vor ein paar Jahren als Chef einer brutalen Inkassofirma namens Creditline verurteilt wurde. Der Schrottplatz liegt am Stadtrand, wo Jambol in Felder und Wiesen übergeht. Der riesige, mit alten Bussen vollgestellte Asphaltplatz ist von den Ruinen stillgelegter Fabriken umgeben. Als wir eintrafen, nahmen etwa ein Dutzend Angestellte mit Vorschlaghämmern und Lötlampen Busse auseinander. Kaum war Valev aus seinem Auto gestiegen, hatten ihn die Mitarbeiter umringt. Er verteilte Geldbündel und sprach in diverse Handys, die man ihm hinhielt.

„Hey, kleiner Zigeuner, komm her“, rief er. „Ich ficke deine Mutter.“ Seinen Angestellten konnte jederzeit gekündigt werden; sie erhielten pro zerlegtem Bus 50 bis 60 Leva (25–30 Euro). Die meisten waren Roma—noch immer die unterste Gesellschaftsschicht Bulgariens, die sich weit verbreiteten Vorurteilen ausgesetzt sieht—doch es gab auch einen afrikanischen Neuankömmling, Jamal von der Elfenbeinküste.

Ich fragte Valev, wie er Migranten anstellen und gleichzeitig Migranten jagen könne. Seine Antwort erinnerte mich an die Einstellung so mancher rechtskonservativer US-Amerikaner: „Ich habe nichts gegen die Leute, die schon hier leben“, sagte er. „Es sind die Leute, die hier eine Invasion machen, mit denen ich ein Problem habe.“

Am späten Nachmittag erschien ein bulgarisches TV-Team. Valev erzählte spontan davon, wie die Grenzpolizei ihn ein paar Nächte zuvor angehalten hatte, weil die Zulassung seines Autos abgelaufen war. „Die Flüchtlinge überqueren die Grenze, und was macht die Polizei? Nichts“, sagte er. „Ich bin einfach enttäuscht, dass sie Streit mit mir suchen.“ Als eine Video-Crew vom Spiegel auftauchte, versuchte Valev sich kurz auf Deutsch, bevor er wieder zu Englisch wechselte: „What you want now?“, fragte er und bot an, seine Quad-Künste vorzuführen.

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Am nächsten Tag besuchte ich ein Asylzentrum am Rand eines kleinen Grenzdorfs namens Pastrogor. Hier warten Menschen monatelang, während ein Regierungsausschuss ihre Asylanträge bearbeitet und Videos von ihren Befragungen sichtet, um zu entscheiden, ob sie genug Grauen erlebt haben, um in Europa leben und arbeiten zu dürfen. Man hatte mir gesagt, Syrern werde die höchste Priorität eingeräumt. Das Asylzentrum war ein rostiger, militaristischer Bunker, umgeben von einem Metallzaun, geschützt durch Wachpersonal und die umliegenden Berge. Es sah aus wie ein Gefängnis. Als ich ankam, winkten einige Bewohner durch ein großes, offenes Fenster.

In Bulgarien gibt es aktuell etwa ein halbes Dutzend Migrantenzentren für alle, die auf legalem Weg Asyl suchen, und drei Gefangenenlager für jene, die beim Versuch einer illegalen Grenzüberquerung festgenommen werden (hier landen meist die Menschen, die von den flüchtlingsfeindlichen Gruppen eingefangen werden). Die meisten Einrichtungen sind in schlechtem Zustand und abgelegen. Das Bulgarische Helsinki-Komitee berichtete, ein Lager nahe Jambol, in dem Dorf Elhovo, sei aufgrund von „kläglichen Hygiene- und Lebensverhältnissen“ vorübergehend geschlossen worden, so Savova. Laut der NGO Bordermonitoring Bulgaria ist eine Einrichtung in Sofia mit rassistischem Graffiti und Hakenkreuzen vollgeschmiert. Die Asylsuchenden erhalten Mahlzeiten, doch es gibt keine Küchen oder Unterstützungsdienste, die sie während ihrer langen Wartezeit leisten könnten.

Beamte verwehrten uns den Zugang zum Lager in Pastrogor, doch zwei Männer kamen stattdessen heraus: Idriss, ein fröhlicher Mann mittleren Alters von der Elfenbeinküste, und ein Kurde, der sich Rom nannte und aus Nordsyrien geflohen war. Idriss bezeichnete sich als den „ältesten Flüchtling“ im Lager; er sei seit vier Monaten da und erzähle seine Geschichte immer wieder den Beamten. In der Heimat war er zum Christentum konvertiert, bevor er seine Familie zurückgelassen hatte und nach Europa aufgebrochen war. Idriss und Rom hatten beide den offiziellen Grenzübergang an der nahegelegenen Stadt Swilengrad gewählt und sich absichtlich erwischen lassen, sodass der Asylprozess in Gang kam.

„Ganz Europa besteht jetzt aus Stacheldraht“, sagte Idriss. „Eine Grenze zu überqueren ist jetzt sehr riskant. Aber ich bin hier und würde gerne in Bulgarien bleiben.“ Er sprach etwas Bulgarisch und wusste von Jamal, seinem Landsmann, der bei Valev arbeitete. Ich fragte ihn, warum er hierhergekommen sei, anstatt die Ägäis nach Griechenland zu überqueren, wie so viele andere, die hoffen, in einem Land mit einem robusteren Asylsystem zu landen, wie Deutschland oder Schweden. Er sagte mir, die Angst vor dem Ertrinken habe seine Route vorgegeben—allein 2016 sind 1.361 Menschen auf diesem Weg gestorben oder vermisst gegangen. „Ich weiß nicht, wo ich jetzt wäre, wenn ich es übers Meer versucht hätte.“

(Savova sagte mir später, Idriss werde vermutlich kein Asyl erhalten—niemand von der Elfenbeinküste wurde bisher in Bulgarien aufgenommen.)

Rom sprach sehr wenig Englisch und kein Bulgarisch, doch er ließ durchblicken, dass er hoffte, es bis nach Deutschland zu schaffen. Monate zuvor war er aus kurdisch kontrolliertem Gebiet in Nordsyrien geflohen, weil er nicht zum Kampf gegen Daesh, also den IS, zwangsverpflichtet werden wollte. „Syrien ist sehr gut, aber die Regierung nicht“, sagte er. „Riesenproblem der Kurden mit Daesh. Feuer, Feuer.“

„Er will damit sagen“, unterbrach Idriss, „dass Daesh die Kurden angreift.“ Er legte seinem Freund die Hand auf die Schulter und lächelte. „Er hier ist kein Kämpfer.“ Alle lachten.

Während Idriss und Rom im bürokratischen Fegefeuer leben, haben andere noch weniger Glück. Bürgerwehren haben bisher mehr als 100 illegale Migranten eingefangen. Bulgarische Grenzbeamte haben andere verprügelt und erpresst, so Human Rights Watch. Im Oktober 2015 erschoss ein Grenzpolizist einen afghanischen Asylsuchenden. Diesen März erfroren eine Jugendliche und eine Frau in der bergigen Region um Malko Tarnovo. Laut BBC bat der Bürgermeister des Städtchens Topòlovgrad das Verteidigungsministerium um 30 AK-47, Transportpanzer und andere Militärausrüstung für seine „freiwillige Grenzpatrouille“ aus 200 einheimischen Männern. Die Stadt wollte sich zwei Grenzstationen aneignen und sie in Ausbildungszentren für die Männer verwandeln. Letztendlich zog der Bürgermeister die Anfrage zurück und behauptete, man habe ihn missverstanden, doch die Lage schien sich dennoch immer weiter zuzuspitzen.

Eines Abends saß ich auf der Terrasse des einzigen besseren Hotelrestaurants in Topòlovgrad. Die Stadt ist klein und staubig wie Jambol, nur ohne den Rapper mit dem ausgestopften Raben. Ich war gekommen, um mich mit einem Ex-Schmuggler zu treffen, den ich Tim nennen werde. In der halben Stunde, die unser Gespräch dauerte, nahm Tim nichts zu sich und rauchte auch nicht.

Er sagte, er sei ins Geschäft eingestiegen, nachdem eine Gruppe von Schmugglern ihn mithilfe eines Dolmetschers in einem Café angesprochen habe. Sie gaben ihm Geld und sagten, er könne es behalten, wenn er eine Gruppe Fremder durch den Wald nach Bulgarien führe. Auf seiner ersten Reise verdiente er 700 Euro für jede der fünf Personen. Jemand hatte nummerierte Steine im Wald verteilt, und bei einem solchen habe er mit den Flüchtlingen warten sollen, erklärte er. Ein Türke in der Grenzstadt Edirne habe alles organisiert. „Manchmal gibt es einen Deal mit der Polizei, manchmal nicht“, sagte Tim. Hin und wieder habe er Grenzbeamte im Wald gesehen. Wenn sie ihn manchmal gesehen hätten, sagte er, „gingen sie weiter, als hätten sie mich nicht bemerkt“.

Im Laufe der Zeit wurden Tims Gruppen immer größer, während der Preis pro Person sank. „Der Preis schwankt“, sagte er. „Flüchtlinge zahlen mehr, wenn sie ihre Familie mitbringen.“ Als der Grenzzaun errichtet wurde, stiegen die Menschenschmuggler vom Wald auf ein System von Kleinbussen und Lastern um. Die Polizei erwischte Tim schließlich mit einem Kleinbus voller Flüchtlinge und nun ist er auf Bewährung.

Erstaunlicherweise hatte ich Tim durch einen Bekannten Valevs kennengelernt—Dimitar Semerdjiev, einen der prominentesten Geschäftsmänner von Topòlovgrad. Er ist mittleren Alters, trägt Jogginganzüge und lässt sich „Boss“ nennen; dem Bürgermeister der Stadt, der eine freiwillige Patrouille verlangt hatte, diente er als Stellvertreter. Ich war neugierig, was seine angeblichen Mafiaverbindungen anging—er sagte, er besitze mehrere Hotels, und ich hatte gelesen, er halte sich einen Tiger und sei die rechte Hand eines der berüchtigtsten bulgarischen Mafiosi, Brendo alias „der Kokain-König“. Als ich ihn fragte, was Menschen wie er in Topòlovgrad von den Menschenschmugglern hielten, hatte er erwidert: „Willst du einen kennenlernen?“ Zehn Minuten später waren wir mit Tim in Semerdjievs Hotel. Es war unklar, in welchem Verhältnis sie zueinanderstanden, doch Tim bezeichnete Semerdjiev als „Boss“.

Es ist leicht nachvollziehbar, warum jemand wie Tim zum Schmuggler wird: Ein Fünftel der bulgarischen Bevölkerung verdient weniger als 150 Euro im Monat—weniger als ein Fünftel dessen, was Tim an einem Tag verdiente. Zwei Millionen Menschen aus Bulgarien sind indes selbst Migranten, die versuchen, anderswo in Europa Geld zu verdienen—oft in denselben westeuropäischen Ländern, in welche die Flüchtlinge gelangen wollen.

Bevor ich das Land verließ, besuchte ich mit Valev die bulgarische Hauptstadt Sofia. Eine Gruppe besorgter Bürger hatte vor, ihm eine Ehrenmedaille für seine Migrantenjagd zu verleihen. Wir erreichten das Denkmal für den „Befreier-Zaren“ Alexander II. gegenüber der Bulgarischen Nationalversammlung, wo etwa 20 Nationalisten eine unangemeldete Demo abhielten. Militärhymnen dröhnten aus ihren Lautsprechern. Ein Mann trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „Kein Islam in Europa!“.

Als Valev aufs Podium stolzierte und seine Rede hielt, überkam mich der Eindruck, dass die Migrantenjagd für ihn in erster Linie ein Sport und keine echte politische oder ideologische Berufung zu sein schien. Allerdings passte dieser grausame Sport perfekt zu den Vorstellungen des bulgarischen Patriotismus und wurde mit Bewunderung und Ruhm quittiert—immerhin stellte er ja auch Immigranten ein und hatte erst eine zweistellige Anzahl von Menschen eingefangen. Sein Verhalten schien eher als Negativwerbung für sein Land („Haltet euch fern von Bulgarien!“) und als Demonstration seines angeblichen maskulinen Könnens zu fungieren. Vielleicht gilt Valev deswegen vielen als Held: Er steht für eine moralisch verwerfliche Botschaft der Fremdenfeindlichkeit, die aktuell in Europa immer mehr Gehör findet. Diese Botschaft ist auch gleichzeitig ein Ausdruck sturen Wunschdenkens, denn die Kriege im Irak und Syrien wüten weiter und Bulgarien sowie der Rest der EU werden sich der Flüchtlingskrise nicht entziehen können.

„Wir müssen unser Vaterland schützen“, rief Valev seinen jubelnden Unterstützern zu, bevor er in seinem Mercedes davonfuhr. „Ich will, dass die Leute hier im Land bleiben und nicht auswandern.“

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