12. Juli 2016 · Kommentare deaktiviert für „Die neue EU-Grenz- und Küstenwache: Hoffnungen und Illusionen“ · Kategorien: Europa · Tags: ,

Quelle: NZZ

Die neue EU-Grenzagentur soll den Schutz der Aussengrenze verbessern und so die Reisefreiheit in der EU retten. Doch die Behörde bleibt auf Kooperation innerhalb und ausserhalb Europas angewiesen.

Europas Liste von Unzulänglichkeiten, Unterlassungen und Umsetzungsproblemen in der Flüchtlingskrise ist lang. Bei der Schaffung einer europäischen Grenz- und Küstenwache aber haben die EU-Kommission, das Europaparlament und die Mitgliedstaaten Handlungsfähigkeit bewiesen. Im Rekordtempo einigten sie sich in den letzten Wochen auf einen im Dezember präsentierten Gesetzesvorschlag – in der Hoffnung, mit dem besseren Schutz der Aussengrenze lasse sich die gefährdete Reisefreiheit im Schengenraum retten.

Nach der Überwindung letzter Formalitäten wird die neue Verordnung im Herbst in Kraft treten. Doch bei der in Warschau angesiedelten EU-Grenzschutzagentur Frontex sind die Vorbereitungen bereits angelaufen. Frontex wird das strukturelle Gerüst für die Nachfolgeorganisation bieten, aber einen neuen Namen erhalten und in der Grenz- und Küstenwache aufgehen. Wie Frontex-Mitarbeiter jüngst im Gespräch in Warschau erklärten, sucht man nach Wegen, um die Aufstockung von derzeit 350 auf 1000 Mitarbeiter bis 2020 räumlich und organisatorisch zu bewältigen.

Stresstests für Mitgliedstaaten

Die neue Grenz- und Küstenwache erhält mehr Mittel, aber auch neue Kompetenzen. Als wichtige Neuerung nannte Frontex-Direktor Fabrice Leggeri am Montag vor Journalisten in Brüssel die Schaffung eines permanenten Reserve-Pools von 1500 Grenzwächtern für Kriseninterventionen. Der Pool sei eine Lehre aus 2015, als Leggeri die Mitgliedstaaten um die Bereitstellung von 775 Grenzwächtern ersuchte, worauf die Mitgliedstaaten nicht vorbereitet waren.

Selbst wenn die Schengen-Staaten, zu denen auch assoziierte Länder wie die Schweiz gehören, künftig also eine nach einem Verteilschlüssel berechnete Zahl von Beamten bereithalten müssen: Der souveränitätspolitisch heikle Grenzschutz bleibt eine nationale Aufgabe, die Beamten sind weiterhin von ihren nationalen Behörden angestellt. Entsprechend werden die Frontex-Missionen Triton und Poseidon im Mittelmeer auch künftig unter dem Kommando italienischer und griechischer Behörden stehen. Eine echte europäische Grenzwache bleibt folglich eine Illusion.

Allerdings besteht Anlass zur Hoffnung, dass sich die neue Behörde gegenüber den Mitgliedstaaten besser behaupten kann. Neu führt sie in den Mitgliedstaaten obligatorische Stresstests durch, um zu prüfen, wie gut die nationalen Behörden personell und ausrüstungsmässig auf eine Krise an der Aussengrenze vorbereitet sind. Verbesserungsvorschläge sind von den Mitgliedstaaten umzusetzen. Zwar betonen Experten in Warschau, die EU-Agentur bleibe dabei auf die Kooperation der Mitgliedstaaten angewiesen. Doch verweigert sich ein Staat, kann der Fall an die EU-Kommission und an den Rat der EU-Staaten eskaliert werden, die als ultima ratio beschliessen können, gegenüber dem fehlbaren Schengen-Staat wieder Grenzkontrollen einzuführen (was indes schon nach heutigem Recht möglich ist).

Einsätze in Drittstaaten?

Mit der Reform anerkennt die EU zum ersten Mal offiziell, dass Grenzschutz mehr ist als die Abriegelung einer Demarkationslinie. Neu ist von integriertem Grenz-Management die Rede. Der Grenzschutz beginnt bei der Kooperation mit Herkunfts- und Transitländern und endet bei der Rückführung von Migranten ohne Bleiberecht. Gerade bei Rückführungen wird die neue Agentur eine wichtigere Rolle spielen als Frontex.

Der Türkei-Deal hat Europa vor Augen geführt, dass effektiver Grenzschutz auf der Kooperation der Behörden auf beiden Seiten der Grenze beruht. Die neue EU-Grenzschutzagentur soll nun auch in Drittstaaten tätig werden können. Auf die Befürchtungen, die Agentur werde zum Komplizen autoritärer Regime, entgegnet Leggeri, dass solche Einsätze nur in Ländern denkbar seien, die gewisse menschenrechtliche Standards erfüllten. Neu geschaffen wird zudem ein Beschwerdemechanismus für Klagen wegen Grundrechtsverletzungen. Viele Kritiker stellen sich auch darum gegen die Frontex-Reform, weil sie nicht mit der Schaffung neuer legaler Einreisewege für Asylsuchende nach Europa kombiniert wird – was auch einer Forderung Leggeris entspricht.

Insofern ist die neue Grenzagentur nur Teil einer Lösung für die Flüchtlingskrise. Zum einen bleibt die völkerrechtliche Pflicht zur Rettung von Schiffbrüchigen ebenso bestehen wie das Verbot, Flüchtlinge ohne Einzelfallprüfung abzuschieben. Zum anderen ändert auch das beste Grenz-Management nichts am Krieg in Syrien oder am Wohlstandsgefälle zwischen Afrika und Europa.

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