05. Juli 2016 · Kommentare deaktiviert für „Der Deal ist zynisch“ · Kategorien: Deutschland, Europa, Türkei · Tags:

Quelle: Der Freitag

Boykott Aus Protest gegen das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei verzichtet Ärzte ohne Grenzen auf 63 Millionen Euro europäischer Hilfsgelder. Wie politisch ist die Organisation?

Felix Werdermann

Im vergangenen Jahr erhielt Ärzte ohne Grenzen 19 Millionen Euro von EU-Institutionen, 37 Millionen von EU-Mitgliedsstaaten sowie 6,8 Millionen Euro von Norwegen. Auf all diese Mittel soll in Zukunft verzichtet werden. Aus Protest gegen die europäische Flüchtlingspolitik will die medizinische Hilfsorganisation keine finanzielle Unterstützung der Europäer mehr annehmen, sagt Florian Westphal, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland.

der Freitag: Herr Westphal, werden die europäischen Regierungen nun ihre Flüchtlingspolitik ändern?

Florian Westphal: Das halte ich für unwahrscheinlich. Aber ich glaube schon, dass wir die gesellschaftliche Diskussion beeinflussen können. Wir werben für eine Politik, die das Interesse der Menschen auf der Flucht in den Mittelpunkt stellt – und nicht die Abschottung.

Sie begründen Ihren Boykott europäischer Gelder mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei. Es wurde vor ein paar Monaten getroffen, aber die Abschottung gegenüber Flüchtlingen gibt es seit Jahren. Warum haben Sie gerade jetzt beschlossen, kein staatliches Geld mehr anzunehmen?

Wir haben uns zu der Thematik immer wieder geäußert. Wir weisen etwa seit langem darauf hin, dass die EU es den Menschen unmöglich macht, auf einem legalen und sicheren Weg nach Europa zu gelangen, um hier Schutz zu suchen. Wir haben auch die katastrophale Unterbringung und Versorgung der Menschen in Griechenland, auf der Balkanroute und in Italien wiederholt kritisiert. Unsere Entscheidung, auf staatliches Geld zu verzichten, ist insofern ein weiterer Schritt.

Wieso gleich so drastisch?

Weil die Auswirkungen des EU-Türkei-Abkommens fatal sind. In erster Linie geht es darum, dass Menschen auf der Flucht bloß nicht nach Europa gelangen. Wenn sich das Abkommen als Muster für die künftige Flüchtlingspolitik durchsetzt, wäre das eine Katastrophe. Damit würde Europa vor allem moralisch, aber auch rechtlich seinen Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen nicht mehr nachkommen. Wir fürchten zudem, dass dann andere Länder sagen: Wenn sich das reiche Europa nicht seiner Verantwortung stellt, warum sollten wir das tun?

Das Abkommen sieht auch vor, dass Europa syrische Flüchtlinge aufnimmt.

Das stimmt zwar, aber in den ersten drei Monaten haben davon lediglich 511 Menschen profitiert. Außerdem muss nach der Logik des Abkommens für jeden, der kommen darf, zuvor ein anderer sein Leben auf dem Mittelmeer riskiert haben. Das ist zynisch. Alleine in diesem Jahr sind schon mehr als 2.800 Menschen gestorben beim Versuch, über das Mittelmeer Europa zu erreichen.

Wenn Sie die EU-Millionen nicht mehr annehmen, wird das Geld vielleicht für mehr Abschottung ausgegeben.

Das Problem ist doch, dass die Europäische Union und die Mitgliedsstaaten jetzt eine Milliarde Euro an Hilfsgeldern für die Türkei bereitstellen wollen, dass dabei aber die humanitären Grundsätze missachtet werden, zu denen sich die Staaten selbst verpflichtet haben. Eigentlich müssten sie die Mittel entsprechend der Bedürfnisse der Menschen verteilen. Das Geld ist aber an politische Ziele geknüpft, die Türkei soll die Flüchtlinge fernhalten. Das ist ein eklatanter Missbrauch von Hilfsgeldern – und das bewegt sich in einer ganz anderen Größenordnung als das, was wir bisher an staatlicher Förderung erhalten haben.

Andere NGOs nehmen weiterhin EU-Gelder an. Ist das aus Ihrer Sicht in Ordnung?

Ja. Ich erwarte von anderen humanitären Akteuren, dass sie nach den Grundsätzen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit arbeiten. Aber ich verlange nicht, dass sie angesichts der aktuellen Situation die gleichen Schlüsse ziehen wie unsere Organisation.

Wie reagieren Ihre Spender auf Ihre Protestaktion?

Wir erfahren eine Menge Kritik, aber auch eine Menge Zuspruch. Manche erachten unsere Entscheidung als zu politisch für eine medizinisch-humanitäre Organisation. Allerdings überwiegen insgesamt die positiven Reaktionen. Einige Spenderinnen und Spender haben sogar schon signalisiert, dass sie jetzt ihre finanzielle Unterstützung erhöhen werden.

Wenn Sie jährlich auf rund 63 Millionen Euro an staatlichen Geldern verzichten, müssen dann Hilfsprojekte eingestellt werden?

Nein, kurzfristig werden wir das mit unseren Reserven ausgleichen. Wir bilden immer Rücklagen, damit wir in akuten Krisen besonders schnell handeln können. Die deutschen Fördergelder für Projekte in fünf afrikanischen Ländern werden dieses Jahr noch weiterlaufen, die Verträge mit dem Auswärtigen Amt wurden schon vor einigen Monaten abgeschlossen. Die gesamte Konsequenz unserer Entscheidung wird sich erst im kommenden Jahr bemerkbar machen.

Dann sollen Privatspender die Rolle des Staates übernehmen?

Es wird sicher nicht leicht, aber wir sind zuversichtlich, dass wir die wegfallenden EU-Mittel so kompensieren können. Man muss dafür die Verhältnisse kennen: Die fehlenden 63 Millionen Euro entsprechen nur einem Anteil von 4,3 Prozent unserer ge-samten Einnahmen weltweit. Privatspenden hingegen machen 92,3 Prozent aus, da wollen wir jetzt noch zulegen. Die restlichen Einnahmen kommen von anderen Regierungen und internationalen Gebern.

Wie politisch ist Ärzte ohne Grenzen?

Wir sind eine humanitär-medizinische Organisation, aber wir beschäftigen uns natürlich mit Themen und Fragen, die als sehr politisch wahrgenommen werden. Wir tun das, weil wir mit den Menschen, um die es hier geht, um die es uns geht, um die es gehen sollte, direkten Kontakt haben durch die medizinische Arbeit. Beispielsweise die 8.000 Schutzsuchenden, die auf den griechischen Inseln festsitzen: Viele von ihnen wurden nach Abschluss des EU-Türkei-Abkommens im März wie in Gefängnissen inhaftiert. Darunter sind ganz viele Minderjährige, schwangere Frauen, ältere Menschen. Wir sind auch mit drei Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer unterwegs. Im vergangenen Jahr mussten wir in Europa in einem Ausmaß Nothilfe leisten, wie wir es uns nie hätten vorstellen können. Unsere medizinische Hilfe vor Ort ist die Triebfeder für unsere öffentlichen Stellungnahmen. Was wir nicht tun, ist politisch Partei zu beziehen.

Wenn Sie den EU-Türkei-Deal kritisieren, dann beziehen Sie doch Position.

Aber wir unterstützen keine spezifische Partei in einem Konfliktgebiet. Wir haben unsere Erfahrungen und daraus ziehen wir unsere Schlüsse. Das haben wir immer getan, schon seit der Gründung von Ärzte ohne Grenzen. Vorrang hat die direkte medizinische Hilfe für Menschen in Not, aber wir werden immer wieder öffentlich machen, welche Probleme die Menschen haben und wodurch die Probleme entstehen. Das ist alles nicht neu und Teil unseres Mandats. Als die europäischen Regierungen beispielsweise nichts getan haben, um den Ebola-Betroffenen in Westafrika zu helfen, da haben wir das auch kritisiert. Damals hat uns allerdings niemand vorgeworfen, wir würden jetzt zu politisch werden.

Könnten Sie insgesamt nicht viel mehr Menschen helfen, wenn Sie versuchen, die Politik zu ändern, als wenn Sie an den Symptomen einer verfehlten Politik herumdoktern müssen?

Die Folgen dieser Politik werden von unseren Kolleginnen und Kollegen teilweise natürlich als sehr frustrierend wahrgenommen. Das ist auch nicht verwunderlich: Die Menschen, die fliehen vor Konflikten, vor Verfolgung, vor Gräueltaten, die tun das nicht aus freien Stücken. Wir wissen, dass es am besten wäre, wenn es gar nicht zu den Situationen käme, die diese Menschen zur Flucht zwingen. Nur müssen wir akzeptieren, dass die Welt leider nicht so ist. Momentan geht der Trend eher in die andere Richtung. Die Zahl der Menschen auf der Flucht nimmt zu.

Und das nehmen Sie so hin?

Unsere Aufgabe ist es, diesen Menschen in ihrer akuten Not zu helfen. Diese Grenzen der humanitären Arbeit sind extrem frustrierend, aber auch notwendig. So wird klar, was wir ausrichten können. Allerdings wird die humanitäre Arbeit nie eine politische Lösung ersetzen. Sie wird den Konflikt in Syrien nicht befrieden können und sie darf auch nicht vortäuschen, dass sie dazu imstande wäre.

Auch von den USA nehmen Sie keine Gelder an, schon seit 2004. Was war der Anlass?

Das war damals vor allem eine Reaktion auf den Afghanistan-Einsatz und die Politik der US-Amerikaner, die darauf abzielte, die Nichtregierungsorganisationen als sogenannte force multipliers zu verwenden, also zu instrumentalisieren als zivile Verbündete in ihrer Militärkampagne. Das ist für uns natürlich ein No-Go.

Vom deutschen Auswärtigen Amt haben Sie auch kein Geld für Ihre Arbeit in Afghanistan angenommen.

Weil Deutschland in Afghanistan Konfliktpartei war.

Verfolgt nicht jede Regierung überall im Ausland politische Interessen? Dann dürften Sie eigentlich gar keine staatlichen Gelder mehr annehmen.

Wir wägen stets im Einzelfall ab. Es gibt viele Projekte, da nehmen wir gar kein Geld von staatlichen Gebern, das war der Fall für Syrien, aber auch bei der Flüchtlingsarbeit in Europa. Wir schauen immer: Wo besteht das Risiko, dass eine staatliche Finanzierung bei der Bevölkerung oder bei den Konfliktparteien den Eindruck hinterlassen könnte, dass Unabhängigkeit nicht mehr gewährleistet ist? Im Zweifelsfall verzichten wir auf staatliche Gelder.

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