31. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Die Türkei, Europas überforderte Küstenwache“ · Kategorien: Europa, Griechenland, Mittelmeer, Türkei

Quelle: Die Welt

Die Türkei soll die Grenzen vor Flüchtlingen sichern. Dafür bekommt sie viel Geld. Ob das die Flucht Tausender übers Mittelmeer verhindert? Für Merkels Kanzlerschaft die womöglich entscheidende Frage.

Angela Merkels politische Zukunft entscheidet sich womöglich an Orten wie diesem: der kaum besiedelten Küste des türkischen Landkreises Ayvacik. An der schmalsten Stelle sind es neun Kilometer nach Lesbos. Fast zwei Drittel der rund 850.000 Flüchtlinge, die 2015 auf den griechischen Inseln ankamen, landeten dort auf dem Boden der Europäischen Union.

Damit soll es bald vorbei sein. Der Ende November vereinbarte „Aktionsplan“: Die Türkei kontrolliert ihre Küsten besser und verpflichtet sich, illegal eingereiste Flüchtlinge zurückzunehmen. Dafür soll sie von der EU drei Milliarden Euro erhalten. Zudem entfällt für türkische Staatsbürger die Visumpflicht, wenn sie in die EU reisen wollen.

Bis Mitte Januar hat die Gendarmerie in Ayvacik 2000 Flüchtlinge aufgegriffen und 27 Schleuser festgenommen. „Seit einer Woche habe ich kein Boot mehr gesehen“, sagt der Betreiber eines Strandcafés, vor dem sich die Hinterlassenschaften der Flüchtlinge sammeln: Schwimmwesten, Plastiktüten, Rucksäcke. „Vielleicht war Ayvacik zu berühmt geworden. Wenn der Staat es nicht will, könnte kein Vogel fliegen.“

DWO-AP-GR-Inseln

Einige Kilometer südlich in Ayvalik sitzt Landrat Kemal Nazli in seinem Büro in einem einst griechischen Herrschaftshaus. In Ayvalik ist Kemal Nazli der Staat. Könnte gegen dessen Willen wirklich kein Vogel fliegen? Oder ist es unmöglich, eine so ausgefranste Küste abzuriegeln?

„Man könnte mit mehr Mitteln besser kontrollieren. Aber kein Staat könnte jeden Vogel aufhalten, der unbedingt fliegen will.“ Er könne auch nicht alle Männer Tag und Nacht ans Ufer stellen, sie müssten auch andere Aufgaben erfüllen. Im Winter leben im Landkreis 70.000 Menschen; in der Hochsaison fast eine halbe Million. Nazli unterstehen 250 Polizisten und Gendarmen. Die Krise hat daran nichts verändert.

Was der „Aktionsplan“ für sie konkret bedeutet, weiß keiner der lokalen Verantwortlichen. Bislang jedenfalls reichen die Mittel nicht aus, auch in humanitärer Hinsicht nicht, trotz der 4,6 Millionen Euro, die die Türkei täglich für die Versorgung der Flüchtlinge ausgibt. In größeren Orten springen Bürgerinitiativen ein. „Wir haben Bedarf für die Erste Hilfe: Decken, Kleidung, Babynahrung“, erzählt der 41-jährige Veterinärarzt Özgür Öztürk. „Polizei und Gendarmerie waren anfangs skeptisch. Aber jetzt rufen sie uns, wenn sie Flüchtlinge aufgegriffen oder aus Seenot gerettet haben.“

Bauern überlassen Schleusern ihre Felder gegen Geld

Am 5. Januar wurden an der Mündung des Flüsschens Madra die Leichen von 31 Menschen an Land gespült – das bis dahin größte Bootsunglück in Ayvalik. Der Madra markiert die Grenze zur Nachbargemeinde Dikili. Auf der nördlichen Seite reichen die Feriensiedlungen bis an den Fluss, südlich ist Schilfland.

Früher starteten hier jeden Tag Boote, nach dem Unglück kamen Journalisten. Flüchtlinge hat seit Tagen keiner gesehen. „Die Gendarmerie von Ayvalik sagt: Wir sind nicht zuständig. Die von Dikili kommt Stunden später, wenn überhaupt“, berichtet eine Ladenbesitzerin. Später erzählt jemand, dass diese Frau ihr eigenes Geschäft mit der Not betreibe: Eine Rolle Kekse kostet sonst zwei Lira, doch für Flüchtlinge zwei Euro – das Dreifache.

Nicht nur die Schleuser verdienen: Hoteliers, Ladenbesitzer, Taxifahrer, Juweliere, Bauern, die ihre Felder gegen Geld den Schleusern überlassen, Beutejäger am Strand. Kostete die Überfahrt im Vorjahr noch bis zu 3000 Dollar, kann man jetzt schon für 650 Dollar buchen. Dann fährt man allerdings mit 60, 70 Menschen in einem Schlauchboot für 30. Je geringer das Risiko, desto höher der Preis. Die Schleuser versichern: Wer geschnappt wird, braucht für einen zweiten Versuch nicht noch einmal zu bezahlen.

„Die EU will der Türkei drei Milliarden Euro für drei Jahre zahlen“, sagt der Medizinprofessor Cem Terzi vom Verein Brücke der Völker in Izmir, der sich der medizinischen Hilfe widmet. „Der Umsatz der Schlepperindustrie war im letzten Jahr höher. Glauben Sie, dass dieses Geschäft einfach aufhört? Das ist die größte Wanderungsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Wer sie aus der Nähe erlebt, bleibt nicht unberührt.“

Bald werden wir erleben, dass dieser Befund auch auf Journalisten zutrifft. Im Landkreis Dikili, unweit des Dorfes Bademli, sehen wir von einer Anhöhe ein Schlauchboot. Es ist elf Uhr, die Sonne strahlt, die orangen Schwimmwesten leuchten im blauen Meer. Der zuständige Landrat Mustafa Sezgin will das nicht kommentieren. „Ich kann Ihnen nur Zahlen nennen. Und die habe ich nicht parat.“

Beim Unglück Anfang Januar ist Sezgin, ein fülliger Mittfünfziger mit Doppelkinn und Toupet, anders als sein Kollege Nazli nicht zur Fundstelle gefahren. „Warum soll ich meine Psyche beschädigen?“ Was er dazu sagt, dass Merkels Zukunft auch von seiner Arbeit abhängt? „Dazu sage ich nichts, ich bin Beamter.“

Am nächsten Morgen fahren wir erneut in das Dorf und geraten in eine Straßensperre. Die Gendarmerie hat 250 Syrer und Iraker festgesetzt. Womöglich sind die Gendarmen nun hier, weil wir am Vortag beim Landrat waren. Eine Gruppe hatte in der Nacht versucht, überzusetzen. Doch wegen der hohen Wellen sei nach wenigen Metern Panik ausgebrochen, erzählt der 35-jährige Elektrotechniker Zaid aus Bagdad. Der Steuermann, der 23-jährige Mohammed aus Aleppo, habe das Boot auf Felsen gesetzt. Die Schlepper hätten ihm zuvor kurz gezeigt, wie das Schiff zu steuern sei.

Im Morgengrauen habe die Gendarmerie sie am Ufer aufgegriffen. Ein paar Stunden später ist Zaids Jeans immer noch nass. Die Temperatur liegt am Gefrierpunkt, er hat weder Hose noch Socken zum Wechseln. „Ich will nach Europa, weil es dort Frieden gibt“, sagt er. „Und weil ich nicht an den Islam glaube.“ Die Eltern, die mit ihren Kindern ins Boot stiegen, könne er nicht verstehen.

Neben ihm steht Alaa, ein Friseur aus Damaskus. Sein Sohn ist vier Jahre alt, seine Tochter 13. „Ich mache das wegen meiner Kinder. Wir waren zwei Jahre in Istanbul. Meine Tochter hat dort keine Schule gesehen.“ Die Flüchtlinge haben auf der Dorfstraße zum Aufwärmen Feuer angezündet. Von den Bewohnern lässt sich während des stundenlangen Wartens keiner blicken. Die Hälfte des Dorfes verdiene mit, sagen die Gendarmen. Die Gendarmen hängen mit drin, sagen sie in der Teestube des Dorfes. In Seferihisar wurde kürzlich ein Oberstabsfeldwebel wegen Verdacht auf Beteiligung am Menschenhandel verhaftet.

Ein Schlepper-Lastwagen taucht auf. Die Ladefläche ist mit einer Plane bedeckt, aber darunter erkennt man menschliche Umrisse. Rund 50 Menschen, alle aus Afghanistan, vorn die Männer, hinten die Frauen und Kinder. Die Gendarmen halten den Laster an.

Die Bilanz des Tages: Vier verhaftete Schlepper. Die 303 aufgegriffenen Flüchtlinge werden auf die Wache von Dikili gebracht. „Alle meine Männer sind damit beschäftigt“, sagt der Kommandant der Gendarmerie. „Aber die Syrer dürfen sich frei bewegen. Wir bringen sie nach Izmir oder Istanbul und in paar Tagen sind sie wieder hier.“

Im „Deutschen Feriendorf“ warten manchmal 1000 Flüchtlinge

Einem Tipp aus der Teestube folgend, fahren wir fünf Kilometer hinaus in einen Olivenhain. Menschen laufen uns entgegen, dann kommen sechs Männer mit einem Schlauchboot. Im Wasser liegt ein Boot der Küstenwache. Doch die Flüchtlinge sind noch an Land – und dort ist die Küstenwache nicht zuständig. Es ist kurz vor Sonnenuntergang, es schneit. Vermutlich werden die Schlepper ohne Rücksicht aufs Wetter das Auslaufen befehlen.

Entweder melden wir diese Menschen und durchkreuzen ihre Hoffnungen. Oder wir melden sie nicht und müssen uns womöglich Vorwürfe machen. Wir melden sie. „Mal sehen“, sagt der Kommandant. „Wir haben weder Kapazitäten noch Platz“, sagt einer seiner Adjutanten.

Am nächsten Tag in Cesme. Von der Küste aus sieht man die Häuser der griechischen Insel Chios. An einer Bucht außerhalb des Ortes verwittert, von der Straße nicht einsehbar, eine nicht fertiggestellte Siedlung. Der Name: „Deutsches Feriendorf“. „Hier warteten manchmal tausend Flüchtlinge auf ihre Boote“, erzählt ein junger Mann.

„Die Gendarmerie kam alle paar Wochen vorbei. Am nächsten Tag waren die Flüchtlinge wieder da. Vor zwei Wochen hat der Gouverneur Sondereinheiten geschickt. Jetzt kommen die Gendarmen fünfmal am Tag.“

Das Deutsche Feriendorf mag geräumt sein, doch die Ausweichstelle ist keine zwei Kilometer entfernt. Im Gebüsch am Ausgang der Bucht stoßen wir auf eine Gruppe von Iranern und Afghanen. „Die Organisatoren haben gesagt, dass wir hierherlaufen sollen“, erzählt der Mittdreißiger Faysal. Er ist vor ein paar Tagen aus Kabul nach Istanbul geflogen.

Das Meer hatte er nie zuvor gesehen. Auf der Rückfahrt laufen uns Grüppchen mit leichtem Gepäck entgegen. Es wird nicht bei den erwarteten 45 Passagieren bleiben. Polizei ist nicht zu sehen. Dieses Mal sagen wir nichts.

Was ist in dieser Situation das Richtige? Esra Simsir lächelt verlegen. Sie leitet in Izmir das Büro des Vereins Asam, der in der Türkei das UN-Flüchtlingshilfswerk vertritt. „Wir versuchen, die Menschen zu überzeugen, in der Türkei zu bleiben oder auf legalem Weg die Ausreise zu versuchen“, sagt sie. Die Türkei habe viel zu wenig gemacht, um ihnen eine Perspektive zu geben. Die jüngst beschlossenen Arbeitserlaubnisse seien ein Anfang.

Aber was wird vor Inkrafttreten des „Aktionsplans“ passieren? „Wir erwarten eine Explosion“, antwortet Simsir. „Sobald das Wetter milder wird, rechnen wir mit Zahlen wie im Spätsommer.“ Die Statistik stützt diese Vermutung: 1694 Flüchtlinge wurden im Januar 2015 auf den griechischen Inseln registriert. Bis zum 27. Januar dieses Jahres waren es 50.668. Doch die Massenflucht findet nicht mehr so offen statt, auch nicht von der Drehscheibe Izmir aus.

Am Bahnhof Basmane schlafen keine Menschen mehr, und die wenigen Geschäfte, die noch Schwimmwesten im Schaufenster haben, führen nur Markenware. Die lebensgefährlichen Imitate sind nach Razzien verschwunden. Unter der Theke sollen sie weiterhin verkauft werden. In den Cafés von Basmane sieht man nur die Vermittler.

Die meisten sind selbst Syrer, Fußvolk der Schlepper. Mit uns reden wollen sie nicht. Die Alternative: Telefonnummern, die auf Facebook kursieren. Wir rufen an: „Ich habe zehn Freunde aus Afghanistan. Kannst du helfen?“ – „Ja. Bring sie morgen früh zum Busbahnhof von Istanbul.“ – „Wohin bringst du sie?“ – „Didim, von da nach Samos.“ – „Was für ein Boot, wie viele Leute?“ – „Barkasse, elf Meter, Maximum 50 Leute.“ – „Wie viel?“ – „1000 Dollar.“ – „Dann sage ich denen 1250.“ – „Kein Problem, sag: 1250, 1500, was du willst.“

Am Freitag, einen Tag nachdem wir die Flüchtlinge im Gebüsch bei Cesme entdeckt haben und drei Tage nach der Operation bei Dikili, birgt die griechische Küstenwache vor Samos 25 Leichen, darunter zehn Kinder. Faysal hingegen hat es geschafft. Zaid aus Dikili können wir nicht erreichen. Mohammed ist zurück in Izmir. Alaa schickt uns Fotos aus dem Raum, in dem sie 30 Stunden zusammengepfercht wurden. Am Samstag meldet er sich aus Samos. In Ayvacik, wo es zuletzt so ruhig schien, eilt die türkische Küstenwache zu einer havarierten Barkasse. 75 Überlebende, 33 Tote.

Kommentare geschlossen.