28. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Wie Facebook zum Flüchtlingshelfer wird“ · Kategorien: Nicht zugeordnet · Tags:

Quelle: Hamburger Abendblatt

Das soziale Netzwerk Facebook ist die Schwarmintelligenz der Verzweifelten. Ihnen dient es als Ratgeber, Tagebuch und Notrufzentrale.

Von Christian Unger

Berlin. Der Wind wird stark sein. Er soll mit 60 Stundenkilometern über das östliche Mittelmeer fegen. Zain postet ein Foto mit dem Wetterbericht für die Inseln zwischen der Türkei und Griechenland in der Gruppe auf Facebook. Und er schreibt: „Achtung! Wichtig! Unerwartet starke Winde in der Ägäis, auf allen Inseln, von Freitag bis Sonntag, mit hohen Wellen. Bitte unterlasst die Überfahrten.“ Eine Flucht wäre lebensgefährlich. An diesem kalten Januarwochenende umso mehr.

607 Menschen werden seinen Eintrag lesen, schauen sich die Wetterkarte an. Und vielleicht werden manche trotzdem losziehen. 607 Menschen gehören zu der Facebook-Gruppe, die sich „Hilfe für Flüchtlinge in Europa“ nennt. Das Titelbild zeigt Menschen in Rettungswesten in einem Schlauchboot. Es ist eine von vielen geschlossenen Gruppen, in die man nur mit einer Einladung eines anderen Mitglieds kommt.

Vor allem Menschen aus Syrien, aus den Städten Damaskus, Aleppo oder Homs sind angemeldet, aber auch aus dem Irak oder Ägypten. Fast alle schreiben auf Arabisch. Es sind Schicksalsgemeinschaften – in dieser Gruppe nur ein paar Hundert Menschen, in einer anderen fast 30.000. Und manche haben unter ihr Profilbild schon ihre neue Heimat eingetragen: Kaiserslautern, Regensburg, Düsseldorf. Sie haben es geschafft.

Abu Hassans Text klingt wie Werbung für Touristen-Ausflüge

Wer vor den Kriegen im Nahen Osten nach Europa flieht, hat nicht viel dabei. Einen Rucksack mit warmen Socken und Pullovern, vielleicht einen Schlafsack, ein bisschen Wasser, Kekse oder ein Stück Obst, soviel Bargeld wie möglich. Und das Handy.

Auch Bilal hatte sein Smartphone dabei, als er vor ein paar Monaten mit Freunden aus der Stadt Suweida im Süden Syriens aufbrach. Sie wollten nach Europa. Ein Freund brachte ihn in die Gruppe. Und bevor es losging, machte er Fotos von Kommentaren bei Facebook. „Du weißt nie, ob du auf der Flucht Zugang zum Internet hast. Auf den Booten, in den Aufnahmelagern, in den Hotels. Also machst du vorher Fotos von wichtigen Informationen und speicherst die auf deinem Handy“, erzählt Bilal. Er ist 23.

Andere Gruppen heißen „Garage der Heimatlosen“ oder „In 20 Tagen nach Europa“. Facebook ist für Flüchtlinge vieles in einem: Reisetagebuch, Ratgeber, Kontaktbörse, Notrufzentrale, Schleusermarkt.

Welcher Taxifahrer bringt mich sicher zur syrischen Grenze? Und wer arbeitet mit Assads Geheimdienst zusammen? Welchen Schleusern an der Küste kann ich vertrauen? „Auf alle diese Fragen findest du Kommentare und Tipps in den Facebook-Gruppen“, sagt Bilal am Telefon. „Darum lieben wir unsere Smartphones.“ Ende Oktober saß er noch auf einer Straße im österreichischen Grenzort Spielfeld. Nun lebt er in einer Asylunterkunft in den Niederlanden. Und wartet darauf, dass die Behörden seinen Antrag bearbeiten.

Facebook funktioniert wie ein Vergleichsportal für illegale Einreisen

Er erklärt, wie Flucht geht. Wenn man sich vor der Überfahrt nach Griechenland nicht sicher sei, ob ein Schleuser ein Betrüger ist, poste man einfach ein Foto und den Namen des Schmugglers auf Facebook. „Menschen antworten dann. Und vielleicht schreibt dann einer: Ja, mit ihm bin ich sicher über das Meer gekommen. Oder er schreibt: Nein, fahre nicht mit diesem Mann, er nimmt viel Geld, sein Boot ist schlecht.“ Facebook funktioniert wie ein Vergleichsportal für illegale Einreisen. Bilal wusste es zu nutzen.

Ein Mann, der sich Abu Hassan nennt, weiß es auch. Er schreibt in einer der Gruppen, dass die Reisen von Istanbul nach Griechenland auch in den Wintermonaten weitergehen. Per Schlauchboot, Jacht oder Jetboot, allerdings „abhängig von der Situation auf See“. Alles eine Frage des Preises, Verhandlungssache. Unter dem Text auf Facebook postet der Mann eine Telefonnummer. Abu Hassans Text klingt wie Werbung für Touristenausflüge. Dabei macht er sein Geschäft mit der Not. „Sicher“ und „viel Erfahrung“ sind seine wichtigsten Werbebotschaften. Abu Hassan ist ein Schleuser.

Ein Platz kostet bis zu 1200 Dollar

Ein anderer Schleuser liefert Preise gleich mit. Er bietet Plätze auf einem Boot von der Türkei nach Griechenland an, 900 bis 1200 Dollar pro Person. 35 Plätze insgesamt. Es gebe auch Boote für 50 Personen, der Preis ist dann nur 600 Dollar pro Platz. Doch dann, so schreibt er, sei das Risiko höher, dass das Boot untergehe.

Manche Familien zahlen mehr als 10.000 Euro. Für eine Fahrt, die als Tourist auf einer Fähre gerade einmal 45 Minuten dauert – und vielleicht 30 Euro kostet.

„Du wählst die Telefonnummer auf Facebook“, sagt Bilal. „Dann bekommst du nach einem ersten Gespräch eine neue Nummer und sprichst alles andere in Chatgruppen wie What’s App ab.“ Den Treffpunkt, die Uhrzeit, den Preis.

Die Gruppen auf Facebook sind geheim. Doch auch die Polizei kann sich hier über die Fluchthelfer informieren. Denn Facebook sei oft der erste Kontakt zwischen Flüchtling und Schleuser, sagen auch Beamte des Bundeskriminalamts (BKA).

Auch die Fahrer für Boote oder Lastwagen suchen die Schleuser über soziale Netzwerke. Getarnt als einfache „Arbeitsangebote“. Oftmals wissen die Arbeitssuchenden gar nicht, dass sie Menschen schmuggeln sollen. Vor allem die europäische Polizeibehörde Europol durchsucht das Internet nach „Menschenhandel“. Eigentlich ist die EU-Grenzagentur Frontex dafür da, unerwünschte Einreisen nach Europa zu verhindern.

Nach der Fahrt über das Meer beginnt die Balkan-Route

Um aber auch Methoden von Kriminalpolizisten nutzen zu können, wird jede Fluchthilfe pauschal als „banden- und gewerbsmäßige Einschleusung“ bezeichnet – durchgesetzt hat sich die Berufsbezeichnung „Schlepper“ oder „Schleuser“. Doch verhaften lässt sich mit einer Internetrecherche kaum ein Schleuser – und wenn, agieren dort meist nur Unterhändler großer Netzwerke oder Kleinkriminelle. Die Bosse bleiben untergetaucht. Oftmals können die Beamten nur Inhalte von den Seiten löschen. Eine Fahndung über Staatsgrenzen und außerhalb der EU ist mühsam und hat selten Erfolg.

Für Hamad ging es fast schief. Er hat sich auf seinen Fluchthelfer verlassen. Doch zweimal habe der Motor des Bootes versagt, erzählt der Syrer. Stundenlang seien sie über das Meer getrieben. „Beim dritten Anlauf in einem Schleuserboot sind wir fast ertrunken.“ Sie hätten dann mit dem Handy einen Notruf abgesetzt, dann rettete sie die griechische Küstenwache. Andere Flüchtlinge posten Notrufe mit Koordinaten ihrer Position auch auf Facebook, erzählt Hamad. Irgendjemand lese das dann und alarmiere die Küstenwache. Doch nicht alle haben Glück. Schon mehr als 140 Menschen ertranken seit Jahresbeginn im Mittelmeer.

Nach der Fahrt über das Mittelmeer beginnt für Flüchtlinge wie Bilal und Hamad die Reise durch den Balkan – der Weg in die EU. Und Facebook bleibt ihr Ratgeber auf der riskanten Route. „Ich habe auf Facebook gelesen, dass Ungarn die Grenze schließt“, erzählt Bilal. „Also mussten wir alle nach Slowenien.“ In Serbien, warnte jemand in einer Gruppe, solle man kein Taxi fahren. „Zu viel Mafia.“

Nicht auf jede Information ist Verlass

Entscheidungen der Politik verbreiten sich schnell in den sozialen Netzwerken der Flüchtlinge. Das „Selfie“ mit Merkel und den Syrern wurde sofort gepostet. Viele klickten „Gefällt mir“. Als Deutschland seine Asylgesetze verschärfte, postete jemand die Nachricht auf Arabisch. Mit jeder neuen Meldung aus den Regierungen der EU-Staaten arbeiten die Netzwerke neue Routen aus: offene Grenzen in Mazedonien, und wer als Ziel Deutschland oder Österreich angebe, komme noch durch Slowenien durch.

Nicht auf jede Information sei Verlass, sagt Hammad. Heute lebt er in Schweden, wo auch sein Onkel ist. Manchmal entstehen Gerüchte, jemand postet Falschmeldungen. Aber oft ist es eine der wenigen Informationen, die Menschen auf ihrer Flucht haben. Facebook ist die Schwarmintelligenz der Verzweifelten. Und sie aktualisiert sich manchmal im Minutentakt. Vor allem weil viele in den Gruppen aktiv sind, die schon in Europa angekommen sind. Sie helfen ihren „Brüdern und Schwestern“, die noch auf der Flucht sind.

Einer erklärt auf Arabisch, was bei einem Asylantrag nicht fehlen darf. Ein anderer schreibt, wie wichtig eine Krankenversicherung in Deutschland ist – ohne die gehe beim Arzt nichts. Facebook ist ihr Leitfaden durch die deutsche Bürokratie.

Noch ein Kommentar steht seit ein paar Stunden im Netz. Ein Syrer warnt vor Schlägern in Chemnitz. Sie sollen auf ein 13 Jahre altes Mädchen eingedroschen haben. Der Mann veröffentlicht ein Bild. Die Lippe des Mädchens ist blutig, sie hat blaue Flecken auf ihrer geschwollenen Nase. Ein anderer kommentiert das Foto: „Es existiert keine Kraft außer durch Allah“. Manchmal ist Facebook auch ein Raum für Gott.

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