05. Dezember 2015 · Kommentare deaktiviert für „Europa driftet auseinander“ · Kategorien: Europa, Griechenland, Türkei · Tags: ,

Quelle: NZZ

Konflikte um die Flüchtlingspolitik

Osteuropäische Staaten sabotieren mit rechtlichen und politischen Schritten die EU-Flüchtlingspolitik. Auch der Ärger über Griechenland und der Druck auf das Schengen-System nehmen zu.

von Niklaus Nuspliger, Brüssel

Diesen Freitag befassen sich die EU-Innenminister erneut mit der Flüchtlingskrise. Doch statt sich angesichts des drohenden Kollapses des Schengen-Systems zusammenzuraufen, liegen sie im Streit ob der Umsetzung der EU-Strategie. Diese fusst auf drei Pfeilern: Erstens sollen 160 000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland auf die übrigen EU-Staaten umgesiedelt werden. Zweitens soll die Türkei dafür sorgen, dass weniger Flüchtlinge nach Europa gelangen und dass die Aussengrenze weniger durchlässig wird. Und drittens sollen in den Staaten an der Aussengrenze Registrierungs-Zentren entstehen, was die Flüchtlingsströme in geordnete Bahnen führen soll.

Klagen eingereicht

Alle drei Pfeiler sorgen unter den EU-Staaten für Zwist. Eigentlich müssten pro Monat mehr als 6000 Flüchtlinge umgesiedelt werden, soll die Zahl von 160 000 innert zweier Jahre erreicht werden. Umverteilt worden sind aber bisher erst 160 Flüchtlinge, da die Hälfte aller EU-Staaten noch keinen einzigen Platz für die Flüchtlingsaufnahme bereitgestellt hat.

Nun haben die Slowakei und Ungarn gegen die Umsiedlungen beim Europäischen Gerichtshof Klage eingereicht und damit eine neue Eskalationsstufe gezündet. Robert Fico, der sozialdemokratische slowakische Ministerpräsident, argumentiert, die EU überschreite ihre Kompetenzen und der Beschluss über die Umsiedlungen hätte einstimmig gefasst werden müssen. Die Slowakei müsste 802 Flüchtlinge aufnehmen. Die Innenminister der Slowakei, Ungarns, Tschechiens und Rumäniens hatten sich im September gegen die Umsiedlungen gestellt, waren aber überstimmt worden.

Rechtlich bewegen sich die Slowakei und Ungarn auf dünnem Eis, da die EU-Verträge eine Notfall-Klausel vorsehen, die «vorläufige Massnahmen» zugunsten eines Staates ermöglicht, der sich wegen eines «plötzlichen Zustroms von Drittstaats-Angehörigen in einer Notlage» befindet. Doch auch die neue polnische Regierung will die Umsiedlungen politisch bekämpfen. Deutschland, Schweden und andere Zielländer wollen hingegen eine Flüchtlings-Verteilung permanent im EU-Recht verankern, weshalb weitere Auseinandersetzungen programmiert sind.

Widerstand aus Osteuropa zeichnet sich auch gegen die am Sonntag besiegelte Kooperation zwischen Brüssel und Ankara ab. Diese sieht vor, dass die Türkei die Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge verbessert und den Strom nach Europa erheblich reduziert. Wenn Ankara die Grenzen dicht macht, soll die EU die Türkei im Gegenzug auch über die Abnahme von Flüchtlingskontingenten direkt entlasten. Während die Umsiedlungen Flüchtlinge betreffen, die auf eigene Faust nach Europa gereist sind, handelt es sich hierbei um Neuansiedlungen (also um die Aufnahme von Flüchtlingen von ausserhalb Europas in Kooperation mit der Uno).

Dagegen wehrt sich Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban. Er wittert einen «Geheimplan» zur zwangsweisen Verteilung von 500 000 zusätzlichen Flüchtlingen auf die EU-Staaten – was der Erste Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, prompt als «Unsinn» bezeichnete. Die EU-Innenminister hatten bereits im Juli die «Neuansiedlung» von 20 000 Flüchtlingen aus Krisengebieten beschlossen. Nun will die EU-Kommission bis Mitte Dezember einen Vorschlag für die Neuansiedlung weiterer Flüchtlinge zur Entlastung der Türkei vorlegen. Am Sonntag fand dazu eine Sitzung einer Kerngruppe von EU-Regierungschefs statt.

Im Gegensatz zu den Umsiedlungen, für die eine EU-Rechtsgrundlage besteht, fallen die Neuansiedlungen nach bisheriger Lesart unter nationale Kompetenz, weshalb nur ein freiwilliges EU-Programm möglich ist. Allerdings dringen etwa die Niederlande darauf, dass alle EU-Staaten einen Beitrag leisten und nicht bloss jene, die ohnehin schon viele Flüchtlinge beherbergen. Auch hier bahnen sich neue Konflikte an.

Debatte um Grenzkontrollen

Verärgert sind die Staaten, welche die Hauptlast der Flüchtlingskrise tragen, auch über Griechenland. Der Aufbau von Hot Spots zur Registrierung der Flüchtlinge kommt nur schleppend voran, Athen nimmt die EU-Hilfen zögerlich in Anspruch – aus Furcht, dass am Ende alle Flüchtlinge in Griechenland bleiben. Erst nachdem in den Medien die überspitzte Drohung eines Ausschlusses Griechenlands aus «Schengen» laut wurde, hat Athen neue Notfallhilfe angefordert. Dies wird die Innenminister nicht daran hindern, am Freitag die im Schengen-Kodex als Notmassnahme vorgesehene Möglichkeit zu prüfen, an gewissen Binnengrenzen für die Dauer von zwei Jahren Kontrollen einzuführen – mit der Begründung, dass es beim Schutz der Aussengrenze in Griechenland gravierende Mängel gibt. Ein solcher Schritt würde es etwa ermöglichen, die Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich weiterhin aufrechtzuerhalten.

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