23. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Für jeden, der weiterdarf, kommen zwei Neue an“ · Kategorien: Balkanroute, Österreich, Slowenien

Quelle: Die Welt

Das österreichische Spielfeld ist das neue Zentrum der Flüchtlingskrise. Österreich kapituliert vor dem Ansturm aus Slowenien und lässt Flüchtlinge über die Grenze. Ergreifende Szenen spielen sich ab.

„Alle sofort setzen. Folgt unseren Anweisungen, und keine Kämpfe.“ Diese Ansage tönt in arabischer und englischer Sprache durch das Niemandsland an der Grenze zwischen Slowenien und Österreich. Die Flüchtlinge folgen den Anweisungen. Sie sind hungrig, durstig und von den Strapazen gezeichnet. Rund 1000 Menschen setzen sich auf den kalten Asphalt. Wer den Anweisungen nicht folgt, darf auch nicht weiterreisen, so die Drohung.

Der slowenisch-österreichische Grenzübergang Spielfeld ist das neue Zentrum der Flüchtlingskrise. Hunderte Flüchtlinge marschierten am Freitagmorgen auf den viel befahrenen Bahngleisen in Richtung Norden. Die Strecke wurde für den Eisenbahnverkehr gesperrt.

Das österreichische Bundesheer und die Polizei picken sich eine Gruppe heraus und stellen die Menschen in zwei Reihen auf. An einem Kontrollpunkt werden sie noch kurz aufgehalten. Als das Signal gegeben wird, dass es weitergeht, sprinten ein paar junger Männer auf den bereitgestellten Bus zu. Sie drängeln sich am Eingang und kämpfen darum, wer als Erster einsteigen darf.

Auf der Balkanroute, die über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien bis hierher nach Spielfeld führt, haben die Flüchtlinge bereits oft die Erfahrung gemacht, sich durchsetzen oder warten zu müssen. Eine Frau im Rollstuhl scheint den Kürzeren zu ziehen, weil sie aufgrund des Gerangels nicht an den Buseingang kommt. Die Panik vergeht jedoch schnell. Die österreichischen Beamten an der Grenze zu Spielfeld lassen nur 50 Personen gleichzeitig aus der Transitzone heraus. Jeder bekommt seinen Platz im Bus.

Nachdem Ungarn seine Grenzen zu Serbien und Kroatien mit Zäunen dichtgemacht hatte, war zuletzt Slowenien zu einem neuen Brennpunkt in der Flüchtlingskrise geworden. Von Samstag bis Freitagmorgen kamen nach Behördenangaben 47.510 Flüchtlinge in das nur zwei Millionen Einwohner zählende EU-Land. Die Menschen wollen meist weiter nach Österreich und Deutschland. Allein am Freitag kamen nach Polizeiangaben in Ljubljana 14.000 Flüchtlinge in Slowenien an. Am Vortag seien es 12.000 gewesen. Das kleine EU-Land fühlt sich mit dem Ansturm auf seine Grenze völlig überfordert.

Kurz hinter dem Grenzübergang steht eine kleine Gruppe von serbischen und bulgarischen Fahrern auf einem Parkplatz. Sie sind mit ihren Privatautos unterwegs und verlangen 250 Euro für die 250 Kilometer Fahrt von Spielfeld nach Wien: „Die organisierten Busse machen uns das Geschäft kaputt. Wie soll man denn da Geld verdienen?“, jammert einer von ihnen mit einer Zigarette im Mund und betont, dass er seit Stunden in der Kälte wartet.

Mitleid muss man aber nicht haben. Als der österreichische Hotspot noch in Nickelsdorf an der ungarischen Grenze war, haben die Fahrer ein gutes Geschäft gemacht. Seit Ungarn seine Grenze zu Kroatien und Serbien mit Zäunen dichtgemacht hat, verläuft die Flüchtlingsroute nun über Slowenien – und Spielfeld ist das neue Nickelsdorf.

Auf dem Parkplatz hinter dem Niemandsland erklingt eine Stimme mit Berliner Dialekt. Die 31-jährige Zeinab al-Saadi aus Berlin-Kreuzberg wartet vor der Transitzone auf ihre Cousine aus Damaskus und deren sieben- und fünfjährige Töchter. Sie ist schon zum dritten Mal losgefahren, um ihre Cousine in Empfang zu nehmen.

Die beiden letzten Male hatten Schlepper der Cousine erzählt, sie sei fast am Ziel, doch das war gelogen. Nun ist sie ohne Schlepper mit einer Gruppe syrischer Flüchtlinge zu Fuß unterwegs: „Ich gehe hier nicht weg, bis sie kommt. Sie ist seit einem Monat unterwegs und durchlebt die Hölle, aber in Syrien kann sie nicht bleiben“, sagt Zeinab al-Saadi über ihre Cousine. Sie wird vom 32-jährigen Mustafa Altinbas begleitet, ebenfalls aus Kreuzberg.

Altinbas darf an der Absperrung vorbei und bringt eine Kiste mit Kleidung in das Niemandsland zwischen Österreich und Slowenien. Er stellt sie auf dem Boden ab. Prompt rennt ein Dutzend Flüchtlinge los und streitet sich um den Inhalt: ein paar Jacken und zwei Paar Schuhe. Es kommt zu Rangeleien. Altinbas steht fassungslos daneben: „Das ist das Schlimmste, was ich jemals gesehen habe. Warum wird den Menschen denn nicht geholfen?“ Nachts wird es kalt in Spielfeld, und viele Flüchtlinge haben keine warme Kleidung.

Schon an der slowenisch-kroatischen Grenze im Flüchtlingslager Brezice kam eine aggressive Stimmung auf: Viele Flüchtlinge verstehen nicht, warum sie auf dem Balkan alle paar Kilometer in ein neues Land kommen und wieder aufgehalten werden. Am Mittwoch begannen Zelte im Flüchtlingslager zu brennen. Im slowenischen Brezice glauben die meisten Helfer und Beamten, die Bewohner hätten die Zelte selbst angezündet – aus Protest gegen die Bedingungen.

Ein Joint und zwei beliebte Worte

Die Fahrt von Brezice nach Spielfeld dauert mit dem Auto rund eineinhalb Stunden. Doch viele Flüchtlinge müssen sich bis zu drei Tage gedulden, bis sie diese Strecke hinter sich bringen. Am Donnerstag besuchte die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner Spielfeld, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Die Ministerin wählte klare Worte: „Wir müssen an der Festung Europa bauen.“

Den Schlüssel hierzu sieht sie in Hotspots an den EU-Außengrenzen sowie einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge in Europa. Die Ministerin zeigte Verständnis dafür, dass die Menschen möglichst schnell weiter nach Deutschland wollen. Die Sicherheitsvorkehrungen in Spielfeld wurden verschärft, seit Tausende die Absperrung an der Grenze einfach überrannten und nicht länger auf die Polizeiansagen hörten. Die Einsatzkräfte kapitulierten vor dem Ansturm und ließen die Menschen gewähren. Der Stimmung am Grenzübergang bleibt weiterhin angespannt.
Spielfeld
Foto: AFP Flüchtlinge warten im österreichischen Spielfeld auf ihre Weiterreise

Es gibt aber auch Freude und Hoffnung. Inmitten dieser Menschenmenge zwischen Slowenien und Österreich sitzt eine Gruppe auf dem kalten Asphalt, klatscht in die Hände und singt auf Arabisch Lieder über das Leben und die Freiheit. Der Gruppe geht es auch nicht besser als den anderen, aber sie machen eben das Beste daraus. Vielleicht ist die Stimmung bei ihnen auch besser, weil ein Joint durch die Runde geht.

Unter ihnen befindet sich auch der 20-jährige Mohammed aus dem syrischen Latakia. Er möchte nach Dortmund, weil dort die Schwester eines Freundes lebt. Mohammed zückt sein Smartphone und zeigt ein Bild, auf dem er im Deutschlandtrikot mit einer deutschen Flagge steht. Er hat zwei Worte gelernt, die ihm an seinem Ziel große Beliebtheit bringen dürften: „Deutschland, Weltmeister.“

Um 20.30 Uhr ist die Sonne längst verschwunden. Die vielen Scheinwerfer erzeugen ein warmes Licht, das nicht zu den niedrigen Temperaturen passt. Die singende Gruppe aus Syrien wird von der Realität eingeholt und legt sich zum Schlafen auf den Asphalt. Einer aus der Gruppe sagt: „Für jeden, der weiterdarf, kommen zwei an, die hier warten müssen.“ Derweil fährt eine Kolonne von zwei Dutzend Bussen auf den Straßen Sloweniens an die österreichische Grenze.

Kommentare geschlossen.