13. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für Libanon: Jeder Vierte ein Flüchtling · Kategorien: Libanon, Syrien · Tags: ,

Quelle: NZZ

libanon

Zehntausende haben sich in den letzten Monaten Richtung Europa aufgemacht, aber noch immer leben 1,1 Millionen Syrer in Libanon. Die Lage in dem von 15 Jahren Bürgerkrieg gezeichneten Land mit seinen 4,4 Millionen Einwohnern ist dramatisch. Schulen und Spitäler sind überlastet, die Wasser- und Stromversorgung völlig unzureichend – und die sozialen Spannungen nehmen zu. (Bild: Narciso Contreras / Polaris / Dukas)


Syrer in der libanesischen Sackgasse

Bilder von der grossen Flüchtlingswanderung nach Europa wecken Hoffnungen – und Angst

Viele junge Syrer sind bereit, die Risiken einer Flucht nach Europa auf sich zu nehmen. Doch für die meisten Familien ist die Reise zu teuer und zu gefährlich.

Jürg Bischoff, Beirut

«Libanon ist ein grosses Gefängnis. Auf der einen Seite ist Syrien, da ist Krieg. Auf der zweiten liegt Israel, das ist schlecht. Und auf der dritten ist das Meer, das ist die Hölle.» Doch der 21-jährige Adib, der vor eineinhalb Jahren aus der Umgebung von Hama nach Tripolis in Libanon geflüchtet ist, lässt sich dadurch nicht entmutigen. Er hat einen Plan, um dem «Gefängnis» zu entrinnen. Ein Anwalt soll seinen von der libanesischen Polizei beschlagnahmten Pass zurückzufordern. Dann will er mit dem Fährschiff von Tripolis in die Türkei reisen, wo sich seine Eltern in Sicherheit gebracht haben. Nach dem Besuch bei der Familie geht’s weiter mit Hilfe von Schleppern nach Deutschland. Und wenn er einmal dort ist, lässt er seine Familie nachkommen.

«Als Mensch gesehen werden»

Viele junge Männer, die aus Syrien nach Libanon geflüchtet sind, haben solche Pläne. Ausgelöst wurde die Flucht oft durch ein Aufgebot ins Militär. In Libanon haben sie eine Arbeit gefunden, die zwar schlecht bezahlt ist. Weil sie aber nur für sich selbst sorgen mussten, konnten sie Geld auf die Seite legen. Adib, der als Kellner arbeitete, sagt, das Geld für die Reise habe er beisammen. Auch Mohammed aus Yarmuk, dem grossen palästinensischen Stadtteil in der südlichen Peripherie von Damaskus, hat während drei Jahren in Beirut gearbeitet und für die Reise nach Europa gespart. Als wir ihn mit ein paar seiner Freunde in einem Café treffen, hat er bereits das Flugticket in der Tasche.

Doch weil er Palästinenser ist, der ohne Visum nicht in die Türkei einreisen kann, musste Mohammed eine andere Route wählen als Adib. Sein Flug geht nach Khartum im Sudan, von dort will er durch die Wüste nach Libyen und dann mit einem Boot nach Italien. Ein bestimmtes Ziel hat Mohammed nicht. Wo immer er ein Auskommen finde, da wolle er bleiben, wenn nicht in Italien, vielleicht in Frankreich oder in der Schweiz. Mohammed ist gut ausgebildet und ist überzeugt, dass er mit seinen Fähigkeiten in Europa Chancen hat. «In der Firma, bei der ich in Libanon arbeitete, war ich der Beste, ich musste meinem Chef die Arbeit erklären. Aber verdient hab ich weniger als meine libanesischen Kollegen, und befördert wurde ich nie.» Mohammed glaubt, dass dies in Europa anders ist.

Sicherheit, eine Ausbildung, eine Arbeit, die ihnen ein Auskommen und Anerkennung bringt, das erhoffen sich die Flüchtlinge in Europa. Vor allem ist Europa für die jungen Syrer jedoch der Ort, «wo man als Mensch respektiert wird», wie Adib sagt. Die Geschichte Yusifs illustriert, was er meint. Yusif ist ein 26-jähriger Alawit aus Homs, stammt also aus jener Religionsgemeinschaft, aus der die syrische Präsidentenfamilie kommt und deren Mitglieder als Stützen und Nutzniesser der Diktatur gesehen werden.

Doch Yusif wollte nicht für Bashar al-Asad kämpfen und ging als Lehrer an eine alawitische Schule nach Tripolis. «Doch auch hier ist es wie in Syrien», sagt Yusif. «Die Alawiten sehen mich als Verräter, die sunnitischen Syrer als einen aus Bashars Clan. In einem solchen Land kann ich nicht leben. Ich will, dass man mich als Menschen achtet.» Seiner Familie, die immer noch in Syrien lebt, hat er nicht von seinen Reiseplänen zu erzählen gewagt. Aber er hat es eilig, denn er fürchtet, dass die Grenzen in Europa bald geschlossen werden.

Risiko und Legalität

Die Zahl der vom Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) in Libanon registrierten Flüchtlinge ist seit dem April dieses Jahres um 70 000 Personen zurückgegangen. Gemessen an den 1,1 Millionen angemeldeten Syrern ist dies wenig, was wohl Libanons geografischer Isolation zuzuschreiben ist. Wohin die Leute gegangen sind, kann das UNHCR nicht sagen. Einige sind wohl nach Syrien zurückgekehrt, doch ein Teil von ihnen wird zu neuen Ufern aufgebrochen sein. Dafür, dass die Wanderung gerade in diesem Sommer solche Dimensionen angenommen hat, gibt es verschiedene Erklärungen.

Maria Minkara von Basmeh wa Zeituneh, einer von Syrern für Syrer gegründeten Hilfsorganisation in Beirut, erklärt: «Anfangs glaubten alle Flüchtlinge, nach ein paar Monaten würden sie nach Hause zurückkehren. Nachdem sich diese Erwartung nicht erfüllt hat, herrscht eine grosse Entmutigung. Hier gibt es für die meisten keine Arbeit, die Kinder können nicht in die Schule, Familienmitglieder können nicht nachziehen. Sie haben hier nichts zu verlieren und haben das Gefühl, sie seien eine Bürde.» Mit einer Schule, Handarbeitsateliers für Frauen und mit Freizeitprogrammen für Jugendliche versucht Minkaras Organisation, den Flüchtlingen Halt zu geben. «Wenn jemand zu uns kommt, der nach Europa gehen will, informieren wir ihn über die Möglichkeiten wie die Aufnahmeprogramme gewisser Staaten. Aber wir raten ihnen ab, illegale und riskante Fluchtwege zu wählen», sagt Minkara.

Ftein, eine junge Mutter, die im Atelier von Basmeh wa Zeituneh mit Sticken ein Zubrot verdient, hat beim UNHCR einen Antrag zur Aufnahme in einem Drittland gestellt. Ihr Mann arbeite als Schreiner, aber von seinem Lohn allein könne die Familie nicht leben. Sie würde nur einen sicheren und legalen Weg der Auswanderung wählen, sagt sie, «die Bilder von den vielen Flüchtlingen in den kleinen Booten machen mich traurig». Doch die Chance von Ftein, legal ein Asylland zu finden, ist klein. Das Uno-Hochkommissariat rechnet damit, in diesem Jahr höchstens 9000 Flüchtlinge in seinem Wiederansiedlungsprogramm unterbringen zu können.

Dar al-Zahra ist ein grosses Spital in Tripolis, das auch syrischen Flüchtlingen offensteht. Sein Direktor, Nasser Maamari, findet noch andere Erklärungen für die Flüchtlingswelle. Der Krieg in Syrien habe die Wirtschaft in Libanon getroffen, vor allem den Bausektor, in dem traditionell viele Syrer beschäftigt seien. Die Fernsehbilder von der Wanderung der Flüchtlinge durch den Balkan verbreiteten auch bei jenen, die bisher nicht daran gedacht hätten, die Vorstellung von einem Europa, in dem leichter ein Auskommen zu finden sei als hier. «Die Leute sind unter Druck, ebenfalls aufzubrechen. Für jene aber, die den Preis der Reise nicht bezahlen können, ist es umso schwerer, wenn sie hier ausharren müssen.»

Ein teurer Ausweg

Der Preis für eine Reise nach Deutschland, so sagen Syrer in Tripolis, sei rund 4000 Franken. Für die meisten Flüchtlingsfamilien ist dieser Ausweg aus der libanesischen Sackgasse schlicht unerschwinglich. Noch bitterer ist die Lage freilich für Suhail, einen 53-jährigen Offizier der syrischen Armee, der in Tripolis festsitzt. Er sei auf der Seite der Aufständischen, sagt Suhail, und sei deshalb für acht Monate in einem Gefängnis des syrischen Regimes gewesen. Nach seiner Freilassung sei er von Jabhat al-Nusra, dem syrischen Kaida-Ableger, gefangen genommen worden, offenbar weil dessen Mitglieder ihn im Verdacht hatten, im Gefängnis mit dem Regime paktiert zu haben. Es sei ihm schliesslich gelungen, zu fliehen und sich bis nach Tripolis durchzuschlagen.

Aber Suhail ist im Hause seines Schwagers blockiert, bei dem er Aufnahme gefunden hat. «Ich habe keine Papiere. Wenn mich die Polizei an einem Checkpoint aufhält, liefern sie mich vielleicht nach Syrien aus. Deshalb habe ich Angst, nach Beirut zu gehen, um bei einer Botschaft einen Asylantrag zu stellen. Ich wage mich kaum aus der Wohnung hinaus. Meine Frau und meine zwei Töchter wollten zu mir kommen. Aber die Syrer haben sie an der Grenze aufgehalten, einen Monat ins Gefängnis gesteckt und zurückgeschickt. Was kann ich tun?»

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