Quelle: German-Foreign-Policy
BERLIN/STRASBOURG/BRUXELLES (Eigener Bericht) – Die von Deutschland forcierte Radikalisierung des europäischen Abschieberegimes findet ihren Niederschlag in einem „Handbuch“ der EU-Kommission zum Thema „Rückführungen“. Das offizielle Dokument weist die Repressionsbehörden der EU-Mitgliedsstaaten an, „alle notwendigen Maßnahmen“ gegen Flüchtlinge zu ergreifen, um diese zur Ausreise zu nötigen. Bei Abschiebungen ist explizit die Anwendung von Gewalt vorgesehen – etwa durch das Anlegen von Fesseln oder die zwangsweise Gabe von Betäubungsmitteln. Jeder Migrant, der versucht, sich der Abschiebung zu entziehen, oder sich dieser widersetzt, kann laut „Handbuch“ bis zu achtzehn Monate inhaftiert werden. Dies gilt auch für Kinder und ganze Familien und beinhaltet die Psychiatrisierung „aggressiver“ Gefangener. Einmal abgeschobene Flüchtlinge können zudem mit Einreiseverboten von bis zu zwanzig Jahren belegt werden, wenn sie nach Auffassung der Behörden eine „Bedrohung der öffentlichen Ordnung“ darstellen. Der EU-Kommission zufolge wird das „Handbuch“ den Repressionsorganen der EU-Mitgliedsländer künftig als „wichtiges Schulungsinstrument“ für die einheitliche Realisierung von „Rückführungen“ dienen.
Einheitliche Abschiebepraxis
Wie die EU-Kommission mitteilt, hat sie ein „Handbuch“ erarbeitet, das den Repressionsbehörden der EU-Mitgliedsstaaten „praktische Anweisungen“ gibt, „wie sie die Rückkehr jener Migranten begleiten, die kein Bleiberecht in der Europäischen Union erhalten“.[1] Das offizielle Dokument listet demnach alle „Instrumente“ auf, die bei Abschiebungen in Anschlag gebracht werden können, und erläutert die „Bedingungen für die Festnahme“ ebenso wie „Haftbedingungen“, „Abschiebemethoden“ und „Einreiseverbote“. Erklärtes Ziel ist die „einheitliche“ und „wirksame“ Durchführung von Abschiebungen aus der gesamten EU [2], weshalb künftig alle mit „Rückführungen“ beauftragten Repressionsorgane des Staatenbundes auf Grundlage des „Handbuchs“ geschult werden sollen.
Zwangsmaßnahmen
Laut „Handbuch“ sind die Repressionsorgane der EU-Mitgliedsländer gehalten, „alle notwendigen Maßnahmen“ zu ergreifen, um die „Rückkehr“ unerwünschter Ausländer zu „erzwingen“. Dem von der Abschiebung Betroffenen sei zu diesem Zweck unmissverständlich „klar zu machen“, dass „widerständiges Verhalten“ weder geduldet noch zum „Abbruch der Operation“ führen werde. Besonderes Augenmerk widmet das „Handbuch“ den Abschiebungen per Passagierflugzeug, die bis dato den Regelfall in der EU darstellen. Hierfür sei der jeweilige Flüchtling zunächst „peinlich genau“ zu durchsuchen und aller Gegenstände zu entledigen, die eine „Bedrohung der Sicherheit“ darstellen könnten, heißt es. Wehre sich der illegalisierte Migrant gegen seine Abschiebung, kämen auch „Zwangsmaßnahmen“ wie etwa Fesselungen in Betracht; dabei sei jedoch darauf zu achten, dass der Betroffene „normal atmen“ könne. Selbst eine Sedierung des Flüchtlings durch die zwangsweise Gabe von Betäubungsmitteln sieht das „Handbuch“ vor – sofern dadurch die „Flugsicherheit“ gewährleistet werden kann. Lediglich die „Übergabe“ des illegalisierten Migranten an die Behörden seines Heimatlandes solle „ohne Handschellen oder andere Fesseln“ erfolgen, heißt es. Explizit erwünscht ist dagegen die Abschiebung unbegleiteter Kinder und allein reisender Jugendlicher.[3]
Abschiebehaft
Zwecks Erzwingung der Ausreise können in der EU unerwünschte Ausländer laut „Handbuch“ bis zu achtzehn Monate in Abschiebehaft genommen werden. Zur Begründung reicht demnach allein die Annahme der zuständigen Repressionsbehörden, der Flüchtling beabsichtige, sich seiner „Rückführung“ zu entziehen oder diese zu behindern. Als Indiz hierfür gelten dem „Handbuch“ bereits Handlungen des Betroffenen, die den Schluss zulassen, dieser könne sich „eventuell nicht in Übereinstimmung mit dem Gesetz“ verhalten. Für besonders „aggressive“ Abschiebehäftlinge ist die Unterbringung in „speziellen Zentren“ vorgesehen – sollte dies aus „medizinischen Gründen“ notwendig sein, dürfe selbst die Einweisung in die geschlossene Psychiatrie in Erwägung gezogen werden, heißt es. Abschiebehaft ist darüber hinaus explizit auch für Kinder und ganze Familien vorgesehen.[4]
Belohnen und bestrafen
Daneben referiert das „Handbuch“ eine Vielzahl repressiver „Alternativen“ zur Abschiebehaft. Denkbar seien unter anderem Aufenthaltsbeschränkungen, die Verhängung einer rigiden polizeilichen Meldepflicht, der Entzug der Personaldokumente, eine „elektronische Überwachung“ der Betroffenen oder ihre Verpflichtung zur Stellung einer „Kaution“. Die geschilderten Maßnahmen könnten wiederum mit einer von Sozialarbeitern durchgeführten „individuellen Beratung“ gekoppelt werden, die dem jeweiligen Flüchtling die Vorteile einer „freiwilligen Rückkehr“ in sein Heimatland aufzeigt, heißt es. Im Idealfall werde der Migrant durch eine „angemessene Mischung von Belohnungen und Bestrafungen“ dazu gebracht, bereits „frühzeitig“ mit den Abschiebebehörden zu „kooperieren“, erklärt die EU-Kommission.[5]
Einreiseverbote
Einmal abgeschobene Flüchtlinge können dem „Handbuch“ zufolge mit Wiedereinreisesperren von bis zu zwanzig Jahren belegt werden. Die Regelung trifft vor allem Migranten, die die zuständigen Behörden als „Gefahr“ für die „öffentliche Ordnung“ oder die „nationale Sicherheit“ einstufen. Eine entsprechende „Bedrohung“ wird demnach bereits unterstellt, wenn der Betreffende in der Vergangenheit gegen ausländer- oder aufenthaltsrechtliche Bestimmungen eines EU-Mitgliedsstaates verstoßen hat. Folgerichtig sollen Einreiseverbote laut „Handbuch“ auch nicht nur im nationalen Rahmen, sondern EU-weit Gültigkeit haben. Gewährleistet werde dies durch einen sofortigen Eintrag im sogenannten Schengen-Informationssystem, in dessen Datenbanken alle unerwünschten Ausländer gespeichert sind und auf das die EU-Grenzschutzbehörden exklusiven Zugriff haben, heißt es. Explizit gewünscht ist dabei ein „abschreckender Effekt“.[6]
Supervision
Analog zur EU-Grenzschutzagentur FRONTEX, deren Abschiebebefugnisse zur Zeit stark erweitert werden (german-foreign-policy.com berichtete [7]), befürchtet offenbar auch die EU-Kommission massiven Widerstand gegen die von ihr empfohlene „Rückführungspraxis“. Nicht umsonst wird im „Handbuch“ die Implementierung nationaler „Kontrollgremien“ zur „Supervision“ von Abschiebungen gefordert. Mit der angemahnten „Neutralität“ der entsprechenden „Beobachterteams“ dürfte es jedoch nicht allzu weit her sein: Erklärtes Ziel ist es, diejenigen, die Flüchtlinge gegen ihren Willen mit Zwang und Gewalt zur Ausreise nötigen, vor „ungerechtfertigter Kritik“ zu schützen.[8]
Fussnoten
[1] Europäische Kommission: Flüchtlingskrise: die Europäische Kommission handelt. Straßburg 09.09.2015.
[2] Europäische Kommission: Flüchtlingskrise: die Europäische Kommission handelt – Fragen und Antworten. Straßburg 09.09.2015.
[3], [4], [5], [6] European Commission: Return Handbook. Brussels 09.09.2015.
[7] Siehe dazu Abschreckende Wirkung (I).
[8] European Commission: Return Handbook. Brussels 09.09.2015.