18. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Der Balkan wird zum Labyrinth“ · Kategorien: Balkanroute, Deutschland, Kroatien, Serbien, Slowenien · Tags:

Quelle: nzz

Zehntausende Flüchtlinge durchqueren den Balkan auf den Weg in die EU. Kroatien und Slowenien sind zunehmend überfordert. Für kommende Woche wurde ein EU-Krisengipfel angesetzt.

(Reuters/dpa/ap)

Der Balkan droht für Zehntausende Flüchtlinge auf dem Weg in die EU zur Sackgasse zu werden: Nach Ungarn schränkte am Donnerstag auch Kroatien die Einreise von Schutzsuchenden drastisch ein. Hunderte Flüchtlinge machten sich zu Fuss auf den Weg, um über Bahngleise oder Felder die Grenze zu überqueren.

Angesichts des nicht nachlassenden Flüchtlingsstroms soll nun eine Lösung auf höchster Ebene gesucht werden: Für kommenden Mittwoch wurde ein Krisengipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union angesetzt. Für Streit sorgt unter anderem die Verteilung der Flüchtlinge. Die Bundesregierung plant deutlich strengere Regeln für Asylbewerber, die über andere Staaten der EU nach Deutschland eingereist sind.

An Kroatiens Grenze kam es zu dramatischen Szenen, nachdem am Dienstag Ungarn seine Grenze zu Serbien für Flüchtlinge praktisch geschlossen hatte. Viele der aus Syrien und anderen Krisenländern stammenden Menschen wählten daraufhin die Route über die serbisch-kroatische Grenze, um in die EU zu gelangen.

Tumulte an Kroatiens Grenze

Am Grenzort Tovarnik versuchten mit Helmen ausgerüstete Bereitschaftspolizisten drängelnde Flüchtlinge unter Kontrolle zu bringen, die sich einen Platz in einem der bereitgestellten Busse in Aufnahmelager in Zagreb sichern wollten. Es kam zu Handgemengen. Frauen schrien, Kinder weinten. Ein Iraker sagte, Männer würden nicht mehr in die Busse gelassen. «Meine Frau und mein Kind sind weg und sie lassen mich nicht zu ihnen. Mein Telefon funktioniert nicht.» Die Armee wurde einem Agenturbericht zufolge angewiesen, sich bereit zu halten, beim Grenzschutz zu helfen, falls nötig.

Am späten Abend sperrte Kroatien die Strassen zu sieben Grenzübergängen nach Serbien, darunter auch der Grenzübergang in Tovarnik. «Die Massnahme gilt bis auf weiteres», erklärte die Polizei. Insgesamt seien seit Mittwochmorgen 11.000 Flüchtlinge nach Kroatien gekommen, teilte die Polizei mit.

«Wir können keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen», hatte Kroatiens Innenminister Ranko Ostojic bereits am Nachmittag gesagt. «Als wir erklärt haben, wir würden Korridore (für Flüchtlinge) einrichten, meinten wir einen Korridor von Tovarnik nach Zagreb.» Er suggerierte damit, Kroatien werde Flüchtlingen nicht die Weiterreise an die Grenze zu Slowenien erlauben. Noch am Vortag waren Behörden davon ausgegangen, Kroatien sei nur Transitland für die Flüchtlinge.

Slowenien will Flüchtlinge nach Kroatien zurückschicken

Auch Slowenien schloss eine Passage für Flüchtlinge aus. Das Land liegt auf der Route nach Österreich und Deutschland, dem Ziel der meisten Flüchtlinge. Slowenien will Asylbewerber beherbergen oder zurückschicken. Am Abend teilte die slowenische Polizei mit, das Land wolle eine Gruppe von rund 150 Flüchtlingen nach Kroatien zurückschicken. Die Asylsuchenden waren an Bord eines internationalen Zugs nach Zürich aus Kroatien eingetroffen.

Die Flüchtlinge kamen am Bahnhof Dobova an, der als wichtigster Bahngrenzübergang zwischen Slowenien und Kroatien dient. Sie wurden in Autos gebracht, die sie nach Kroatien zurückbringen sollten, wie die staatliche slowenische Nachrichtenagentur berichtete.
Ungarn weitet Flüchtlingsnotstand aus

Weil auch etliche Flüchtlinge die Grenze von Kroatien nach Ungarn passierten, weitete die Regierung in Budapest am Donnerstagabend den Krisenfall auf die Bezirke Baranya und Somogy aus, die an der Grenze liegen. Nach Angaben des regionalen Internetportals «bama.hu» waren am selben Tag rund 200 Flüchtlinge aus Kroatien nach Ungarn gekommen. Der Krisenfall ermächtigt die Behörden zu besonderen Massnahmen gegen Flüchtlinge – etwa zu beschleunigten, faktisch rein formalen Asylverfahren.

Über die Türkei und Griechenland suchen nach wie vor Zehntausende den Weg aus Syrien, Afghanistan oder den Lagern des Libanon den Weg nach Westeuropa. Bulgarien verstärkte seine Truppen an der Grenze zur Türkei.

Deutschland verstärkt Kontrollen an Grenze zu Tschechien

In der EU setzte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Forderung nach einem EU-Gipfel durch. Er soll einen Tag nach einem Treffen der EU-Innenminister stattfinden, die einen zweiten Versuch unternehmen, die Verteilung von 120’000 Asylsuchenden in der Union zu regeln. Am Montag war dies nicht gelungen. Vor allem osteuropäische Staaten wehren sich gegen die Aufnahme der Flüchtlinge und pochen auf freiwillige Vereinbarungen. Deutschland und Frankreich streben dagegen verbindliche Flüchtlingsquoten an.

In Deutschland verstärkte die Bundespolizei die Kontrollen auch an der Grenze zu Tschechien, nachdem am Sonntag Kontrollen an der österreichischen Grenze eingeführt worden waren. Die Bahnstrecke Salzburg-München blieb in beiden Richtungen gesperrt. Dies galt auch für den Nahverkehr über die österreichische Grenze in dieser Region. In den vergangenen Tagen waren die Flüchtlinge vor allem in Zügen über Österreich nach Deutschland eingereist. Hierzulande kamen trotz Grenzkontrollen am Mittwoch wieder über 7000 Asylbewerber an. Am Donnerstag wurden allein im Bereich der Bundespolizeiinspektion Rosenheim bis zum Nachmittag 2300 Flüchtlinge registriert.
Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge tritt zurück

Der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Manfred Schmidt, trat unterdessen überraschend zurück. Er habe aus persönlichen Gründen um seine Entlassung gebeten, teilte das Bundesinnenministerium mit. Die Opposition wertete Schmidts Rücktritt jedoch als Versuch, Ressortchef Thomas de Maiziere aus der Schusslinie zu nehmen. «Das ist ein Bauernopfer», sagte Grünen-Chefin Simone Peter der Nachrichtenagentur Reuters. De Maiziere trage die Verantwortung für fehlendes Personal und andere Missstände in der Behörde. Auf die Frage, ob er selbst Rücktrittsgedanken habe, sagte der Minister in Rosenheim: «Nein, ich arbeite.«

Das BAMF ist für die Asylverfahren zuständig, konnte aber über 250’000 Anträge bislang noch nicht bearbeiten, während permanent neue hinzukommen. Die Bundesregierung erwartet mindestens 800’000 Asylsuchende in diesem Jahr.

Die Bundesregierung plant eine Verschärfung der Regeln für Asylbewerber. Einem Reuters vorliegenden Gesetzentwurf zufolge sollen unter anderem Menschen von gesetzlichen Leistungen ausgeschlossen werden können, deren Asylverfahren nach den sogenannten Dublin-Regeln in einem anderen EU-Land abgewickelt werden müssten und die somit eigentlich ausreisepflichtig sind. Menschen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive sollen dagegen möglichst schnell in Gesellschaft und Arbeitswelt integriert werden.

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siehe auch: taz

Auch Kroatien macht zu

Kroatien will nun doch keine Flüchtlinge nach Slowenien reisen lassen. Auch eine weitere Aufnahme von Menschen sei nicht möglich.

BERLIN/ZAGREB/TOVARNIK rtr/ap | Der Balkan droht für Zehntausende von Flüchtlingen auf dem Weg in die EU zur Sackgasse zu werden: Nach Ungarn schränkt auch Kroatien die Einreise von Schutzsuchenden drastisch ein. „Wir können keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen“, kündigte Innenminister Ranko Ostojic am Donnerstag an. Angesichts des nicht nachlassenden Flüchtlingsstroms soll nun eine Lösung auf höchster Ebene gesucht werden.

Kommenden Mittwoch wollen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die umstrittene Verteilung der Flüchtlinge beraten. In Deutschland trat überraschend der Chef der Flüchtlings-Behörde BAMF, Manfred Schmidt, zurück.

In Kroatien spitzte sich die Lage zu, nachdem am Dienstag Ungarn seine Grenze zu Serbien für Flüchtlinge praktisch geschlossen hatte. Viele der aus Syrien und anderen Krisenländern stammenden Menschen wählten daraufhin die Route über die serbisch-kroatische Grenze, um in die EU zu gelangen. Zwischen Mittwoch und Donnerstag kamen nach kroatischen Angaben 6.500 Hilfesuchende ins Land.

Allen Schutzsuchenden werde die Weiterfahrt zu Registrierungszentren rund um die Hauptstadt Zagreb ermöglicht, sagte Ostojic. Aber jene Ausländer, die kein Asyl beantragen wollten, würden aber als illegale Immigranten angesehen. „Als wir erklärt haben, wir würden Korridore (für Flüchtlinge) einrichten, meinten wir einen Korridor von Tovarnik nach Zagreb“, sagte er in Tovarnik.

Flüchtlinge durchbrechen Absperrung

Er suggerierte damit, Kroatien werde Flüchtlingen nicht die Weiterreise an die Grenze zu Slowenien erlauben. Noch am Vortag waren Behörden davon ausgegangen, Kroatien sei nur Transitland für die Flüchtlinge.

Am Grenzort Tovarnik versuchten mit Helmen ausgerüstete Bereitschaftspolizisten drängelnde Flüchtlinge unter Kontrolle zu bringen, die sich einen Platz in einem der bereitgestellten Busse sichern wollten. Mehr als 2.000 Flüchtlinge durchbrachen dennoch eine Polizeiabsperrung. Dabei wurden Dutzende Menschen verletzt. Die Personen seien übereinandergestürzt und hätten sich gegenseitig niedergetrampelt, sagte er.

Zuvor hatten die Flüchtlinge in praller Hitze stundenlang auf Züge und Busse gewartet, die sie in Aufnahmezentren bringen sollten. Als die Busse dann eintrafen, drängten mehrere Gruppen in diese Richtung und überrannten die Polizei. Später machten sich Gruppen von Flüchtlingen zu Fuß auf den Weg. Den Beamten gelang es nicht, die Menge zu bändigen.

Auch Slowenien schloss eine Passage für Flüchtlinge aus. Das Land liegt auf der Route nach Österreich und Deutschland, dem Ziel der meisten Flüchtlinge. Slowenien will Asylbewerber beherbergen oder zurückschicken. Über die Türkei und Griechenland suchen nach wie vor Zehntausende aus Syrien, Afghanistan oder den Lagern des Libanon den Weg nach Westeuropa.

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siehe auch: der Standard

Kroatien will für Flüchtlinge kein offenes Tor nach Europa sein

von Adelheid Wölfl aus Tovarnik

Tausende warten im kroatischen Grenzort Tovarnik. Kroatiens Innenminister verkündete am Abend, keine Flüchtlinge nach Slowenien reisen zu lassen

We want to go! We want to go!“ Hinter der Reihe der kroatischen Polizisten, die die Menge zurückhalten, stehen Flüchtlinge, die ihre Hände im Rhythmus in die Luft heben und fordern, sofort durchgelassen zu werden. Tausende von ihnen sind am Donnerstag in der kroatischen Grenzstadt Tovarnik hinter der serbischen Grenze gestrandet.

Am Donnerstagnachmittag kippt die Ungeduld in Aggression. Einige Flüchtlinge durchbrechen die Absperrungen der Polizei. Viele laufen ins Dorf hinein. Manche beginnen, aus dem slawonischen Grenzort Richtung Zagreb zu gehen. Die Dorfbewohner stehen verwundert an den Straßenkreuzungen. Eine Kroatin sagt:_“Die müssen wieder von hier weggehen.“ Die Flüchtlinge sitzen in den Vorgärten, im Straßengraben, vor den Getreidesilos, einfach überall.

Kein Korridor Richtung Slowenien

Es ist sehr heiß. Es gibt zu wenig Wasser. Rettungswagen flitzen mit Blaulicht und Sirene durch die verschlafenen slawonischen Dörfer nach Tovarnik. Auch der kroatische Innenminister Ranko Ostojić kommt am Donnerstagnachmittag nach Tovarnik.

Obwohl die kroatische Regierung zuvor davon gesprochen hatte, einen Korridor für die Flüchtlinge Richtung Slowenien einzurichten, ist nun alles anders. Bei einer Pressekonferenz verkündet Ostojić, dass sich Kroatien an die Schengen-Regeln halten werde und dass es solche Korridore nicht geben werde, solange der EU-Ministerrat nichts Gegenteiliges beschließt. „Wir sind kein offenes Tor nach Europa“, so Os-tojić in Richtung der Flüchtlinge. „Bleibt in Griechenland, Mazedonien oder Serbien.“

„Keine weiteren Flüchtlinge“

Die bisher aufgenommenen Flüchtlinge würden in Erstaufnahmezentren untergebracht, die Kapazitäten seien aber bereits erschöpft. Sollten Flüchtlinge bereits nach Slowenien gekommen sein, würden sie wieder in Kroatien aufgenommen. „Wir können keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen“, sagte Ostojić. Die Flüchtlinge könnten sich aber in den Registrierungszentren rund um Zagreb melden.

250 Flüchtlinge an slowenischem Grenzübergang

Am Abend erreichten rund 250 Flüchtlinge mit dem Zug die Grenze zu Slowenien. Am Grenzübergang Dobova wurden die Flüchtlinge von der Polizei aufgehalten. Mehrere Dutzend Flüchtlinge kamen auch am Grenzübergang Obrezje an.

Der sozialdemokratische Premier Zoran Milanović hatte zuvor anlässlich des Besuchs von Bundeskanzler Werner Faymann in Zagreb gesagt, dass Kroatien sich nicht wie Ungarn verhalten werde: „Wir werden konstruktiv und kooperativ sein, aber unsere Ressourcen sind begrenzt.“ Auch Österreichs Kapazitäten seien begrenzt, fügte Milanović hinzu, allerdings sei Österreich „größer und sehr reich“.

Unter den Flüchtlingen, die aus Mazedonien nach Serbien kommen, hat sich seit Mittwoch herumgesprochen, dass die ungarisch-serbische Grenze dicht ist und sie diese nicht mehr passieren können. Deshalb reisen sie nun nach Kroatien. Auch manche, die sich an der ungarischen Grenze befanden.

Kroatische Sonderpolizisten vor Ort

Aus Südserbien kommend fahren die Flüchtlinge nun mit dem Bus direkt in die serbische Grenzstadt Šid, von dort geht es weiter in Richtung Tovarnik. Tovarnik ist eine Gemeinde mit vielleicht 2700 Einwohnern. Dutzende kroatische Sonderpolizisten sind vor Ort, sie tragen Knieschutz und sind bewaffnet. Die Bilder von der serbisch-ungarischen Grenze, wo am Mittwoch die ungarische Polizei nach dem Einsatz von Tränengas von Flüchtlingen mit Steinen beworfen wurde, sodass 20 Beamte verletzt wurden, sind auch in Kroatien registriert worden.

Neben dem Bahnhof in Tovarnik stehen viele Busse. Sie bringen die Flüchtlinge weiter, „zum nächsten Bahnhof“, wie die Polizei sagt. Bis Donnerstag, 19 Uhr, ließen sich 9200 Flüchtlinge im EU-Staat Kroatien registrieren. Die Flüchtlinge selbst kennen mittlerweile die neue Route, auch wenn einige noch Griechenland zu Kroatien sagen und glauben, dass sie hinter Slowenien nach „Aus tralien“ gelangen würden.

Faymann von Zagreb nach Ljubljana

Faymann fuhr am Donnerstag von Zagreb weiter nach Ljubljana und traf sich dort mit dem slowenischen Premier Miro Cerar. Der liberale Cerar betonte, dass Slowenien die Schengen-Außengrenze schützen und sich strikt an die Regeln halten werde. Beide Premiers sprachen sich für mehr Kooperation und Solidarität unter allen EU-Staaten in der Flüchtlingsfrage aus. „Es ist eine Zeit, wo wir beweisen müssen, dass wir kein Europa wollen, in dem jeder versucht, seine Probleme auf dem Rücken des anderen zu lösen“, sagte Faymann.

Der Kanzler forderte auch „radikale und sofortige Maßnahmen an den Außengrenzen“, etwa eine EU-Finanzierung für Flüchtlingslager in Jordanien, dem Libanon und der Türkei. Auch unter manchen Flüchtlingen setzt sich diese Einschätzung durch.

„Man muss das aufhalten“

Insbesondere die Syrer machen sich zunehmend Sorgen, dass ihre Flucht von anderen „ausgenutzt“ wird, die sich den Kriegsflüchtlingen anschließen. „Sie werden sehen, jetzt kommen auch die Ägypter, die Jemeniten, die Leute aus Zentralasien. Sie alle werden nach Deutschland gehen. Man muss das aufhalten, sonst werden es immer mehr“, sagt der Computerfachmann Abdullah S. aus Aleppo.

„Woher kommt ihr?“, fragt sein Freund Baruk ein paar junge Männer, die sich anstellen, um hier in Tovarnik in den Bus zu kommen. „Aus Afghanistan“, antworten sie. „Das sind Lügner“, sagt Baruk, „die kommen wahrscheinlich aus Turkmenistan, jedenfalls verstehen sie Türkisch. Das sind keine Afghanen.“

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