14. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Deutschland schottet sich ab“ · Kategorien: Deutschland · Tags: , ,

Quelle: German-Foreign-Policy

BERLIN (Eigener Bericht) – Berlin schließt die süddeutsche Grenze für Flüchtlinge, stoppt die weitere Einreise von Bürgerkriegsopfern und beginnt mit der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber nach Südosteuropa. Hatten in den vergangenen Tagen tausende Menschen in der Bundesrepublik ihre Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge in bislang einmaligem Ausmaß demonstriert, nachdem Unstimmigkeiten in der Berliner Politik zur unerwarteten Einreise von Zehntausenden geführt hatten, so lässt die Bundesregierung die Hilfsbemühungen jetzt ins Leere laufen. Auf dem heutigen Treffen der EU-Innen- und -Justizminister sollen Schritte zur erneuten Abschottung der EU vorangetrieben werden, darunter die Errichtung von Zentren, in denen Flüchtlinge unmittelbar nach ihrer Einreise in Griechenland, in Italien und womöglich auch in Ungarn festgesetzt werden. In Deutschland ist ein erstes Lager eröffnet worden, in dem Flüchtlinge aus Südosteuropa separiert werden; sie sollen dort für eine schnelle Abschiebung bereitgehalten werden. Vergangene Woche ist ein Abschiebeflug mit 111 Flüchtlingen in das Kosovo gestartet. Die schnelle Deportation droht knapp der Hälfte aller mehr als 250.000 Flüchtlinge, die zwischen Januar und August einreisten. Zugleich werden Forderungen nach einer drastischen Einschränkung staatlicher Leistungen für Flüchtlinge und nach einer Abschaffung des individuellen Grundrechts auf Asyl laut.

Grenzen dicht

Die Bundesregierung hat am gestrigen Sonntag das Schengener Abkommen vorübergehend außer Kraft gesetzt und in Süddeutschland Grenzkontrollen gestartet. Die Einreise ist nur noch mit gültigen Reisedokumenten erlaubt; damit ist die weitere Einreise von Flüchtlingen in die Bundesrepublik gestoppt. Die Behörden haben gegenüber der Deutschen Bahn AG die Einstellung des Zugverkehrs aus Österreich nach Deutschland angeordnet; die Deutsche Bahn hat das Ansinnen an die Österreichische Bundesbahn (ÖBB) weitergeleitet, die sich fügen muss. „Ziel dieser Maßnahme ist es, den derzeitigen Zustrom nach Deutschland zu begrenzen“, erläutert Bundesinnenminister Thomas de Maizière.[1] Im Anschluss an die Aussetzung des Schengener Abkommens durch Berlin hat auch Tschechien seine Grenzkontrollen verstärkt. Am morgigen Dienstag will zudem Ungarn seinen „Grenzzaun“ nach Serbien endgültig schließen; dann soll die ungenehmigte Einreise mit bis zu drei Jahren, bei Beschädigung der Grenzanlagen mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Die deutsche Grenzschließung wird, wie die Bundespolizei bestätigt, voraussichtlich einen längeren Zeitraum dauern.

Ins Leere

Die faktische Schließung der süddeutschen Grenze für Flüchtlinge lässt eine Welle der Hilfsbereitschaft ins Leere laufen, mit der Tausende in den vergangenen Tagen die in Massen nach Deutschland strömenden Flüchtlinge unterstützt hatten. Die in diesem Jahr zunehmende Flucht vor Kriegen und humanitären Notlagen, die zum erheblichen Teil von Deutschland mitverursacht worden sind (german-foreign-policy.com berichtete [2]), hatte in Süd- und Südosteuropa einen Druck aufgebaut, der letztlich zu Unstimmigkeiten in der Berliner Regierungspolitik und zu Pannen in der deutschen Flüchtlingsabwehr sowie infolgedessen zur Flucht zehntausender Menschen nach Deutschland geführt hatte (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Dort hatten zuletzt Tausende die Flüchtlinge auf den Bahnhöfen in Empfang genommen, sich mit ihnen solidarisch gezeigt und praktische Unterstützung in einem für die Bundesrepublik bislang beispiellosen Umfang geleistet. Die faktische Schließung der Grenzen für die Flüchtlinge lässt diese Hilfsbemühungen nun ins Leere laufen.

„Nicht zuständig“

Mit der Schließung der Grenzen beginnt Berlin mit aller Macht, dem „Dublin-System“ wieder Geltung zu verschaffen. Es sieht vor, dass sämtliche Flüchtlinge, die einen Asylantrag stellen möchten, dies in dem ersten EU-Staat tun, den sie erreichen. Für alle, die auf dem Land- oder auf dem Seeweg einreisen, sind dies nach Lage der Dinge vor allem Griechenland, Italien und Ungarn. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Tagen nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie am „Dublin-System“ grundsätzlich festhält. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat dies gestern ausdrücklich bekräftigt: „Nach dem geltenden europäischen Recht ist Deutschland für den allergrößten Teil der Schutzsuchenden nicht zuständig“. Das „Dublin-Verfahren“ gelte unverändert: „Und ich fordere, dass sich alle europäischen Mitgliedsstaaten daran halten“.[4] Um dies zu erzwingen, soll auf dem heutigen Treffen der EU-Innen- und -Justizminister die Einrichtung sogenannter Aufnahmezentren vorangetrieben werden („Hotspot-Approach“). Dabei handelt es sich um Lager unmittelbar an den EU-Außengrenzen – in Griechenland, Italien, womöglich auch Ungarn und der Türkei -, in denen eintreffende Flüchtlinge sofort zusammengeführt werden, um nach rascher Prüfung ihres Asylantrags entweder in der EU umverteilt oder sofort wieder abgeschoben zu werden (german-foreign-policy.com berichtete [5]).

Europäische Mindeststandards

Zur Abwehr unkontrollierter Flucht in die EU abseits der geplanten „Aufnahmezentren“ stimmt die Bundesrepublik stillschweigend auch brutalen Maßnahmen wie der Grenzabschottung Ungarns zu. Entgegen anderslautenden Äußerungen Berliner Spitzenpolitiker, die sich vergangene Woche PR-wirksam kritisch gegenüber dem Bau des ungarischen „Grenzzauns“ gegeben hatten, hat der deutsche Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), am Freitag in Budapest die tatsächliche Berliner Regierungsposition reflektiert. Die EU-Außengrenzen müssten gesichert werden, erklärte Weber: „Der Zaun ist zunächst mal dazu da, den Zustrom zu kanalisieren, um zu kontrollieren, wer über die Grenze kommt. Diese Idee unterstütze ich voll.“ Es gehöre auch „zu den Positionen der EVP“, dass „Grenzen beschützt und bewacht werden“. Hochgerüstete „Grenzzäune“ existieren schon seit Jahren an anderen Stellen der EU-Außengrenzen – an den Grenzen Griechenlands und Bulgariens zur Türkei (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Nach seinem Besuch in Budapest traf Weber in dem ungarischen „Erstaufnahmelager“ in Bicske ein, das von Menschenrechtlern zuletzt scharf kritisiert worden ist. „Mein Eindruck ist, dass die Einrichtungen in Ungarn die europäischen Mindeststandards erfüllen“, erklärte der EVP-Fraktionschef.[7]

Massenabschiebungen

Mit weiteren Maßnahmen ist in Kürze zu rechnen. So sollen sämtliche Länder Südosteuropas zu „sicheren Drittstaaten“ erklärt werden; Flüchtlinge von dort können dann direkt abgewiesen werden. Politiker von Bündnis 90/Die Grünen haben in der vergangenen Woche die nötige Zustimmung in Aussicht gestellt. Um Abschiebungen schneller vollziehen zu können, hat das Bundesland Bayern mittlerweile ein erstes Flüchtlingslager eröffnet, in dem ausschließlich Flüchtlinge aus Südosteuropa separiert werden, die zu 99 Prozent kein Asyl erhalten; zunächst sind drei derartige Lager mit einer Kapazität von insgesamt rund 1.500 Plätzen im Raum Ingolstadt geplant. Die Abschiebungen nach Südosteuropa sind längst im Gange: Am vergangenen Freitag wurden um 6 Uhr früh 111 Flüchtlinge aus dem Kosovo aus ihren Lagern abgeholt und mit einer eigens gecharterten Maschine nach Pristina deportiert. Dasselbe Los steht fast der Hälfte der in diesem Jahr nach Deutschland gelangten Flüchtlinge bevor. Von den 256.938 Personen, die laut Angaben des Bundesinnenministeriums zwischen Januar und August in Deutschland Asyl beantragten, kamen 38.245 aus Albanien, 33.824 aus dem Kosovo, 20.864 aus den übrigen Teilen Serbiens, 10.244 aus Mazedonien und 5.420 aus Bosnien-Herzegowina – insgesamt 108.597. Ihnen droht die Abschiebung.

Standards reduzieren

Ergänzend werden Forderungen laut, das Grundrecht auf Asyl spürbar einzuschränken. Die Bundesrepublik „leiste“ sich bislang „das liberalste Asylrecht in Europa mit den höchsten Versorgungsstandards“, behauptete am vergangenen Donnerstag der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU). Anlässlich der aktuellen Flüchtlingskrise müsse das Asylrecht in der EU vereinheitlicht werden; dabei müsse man „die deutschen Standards … europäisieren, also … reduzieren“: „Das fängt mit der Höhe von Geld- und Sachleistungen an“.[8] Ähnlich hat sich am Wochenende auch der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger geäußert. Es solle in Deutschland „eine gewisse Annäherung an die Leistungen in anderen EU-Staaten“ geben, sagte Oettinger: „Wir benötigen eine gewisse Harmonisierung der materiellen Leistungen für Asylbewerber in Europa“. Darüber hinaus solle „das Grundgesetz … so geändert werden, dass Asylverfahren künftig viel schneller als bisher zum Abschluss gebracht werden“.[9]

Asylrecht: „Europafähig“?

Bayerns Finanzminister geht noch einen Schritt weiter und stellt das bestehende Asylrecht gänzlich in Frage. Letztlich werde „auch unser Grundgesetz“ auf den Prüfstand kommen müssen, verlangt Markus Söder: „Die Kernfrage lautet: Ist das individuelle Grundrecht auf Asyl europafähig“?[10] Damit steht ein Grundelement des humanitären Rechts in Deutschland zur Debatte.

Fussnoten

[1] Vorübergehende Grenzkontrollen eingeführt. www.bundesregierung.de 13.09.2015.
[2] S. dazu Auf die Flucht getrieben (I), Auf die Flucht getrieben (II), Auf die Flucht getrieben (III) und Auf die Flucht getrieben (IV).
[3] S. dazu Rückschlag für Berlin.
[4] Vorübergehende Grenzkontrollen eingeführt. www.bundesregierung.de 13.09.2015.
[5], [6] S. dazu Der „Hotspot Approach“ zur Flüchtlingsabwehr.
[7] Weber verteidigt Flüchtlingspolitik der ungarischen Regierung. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.09.2015.
[8] Markus Söder: Das Asylrecht muss eingeschränkt werden. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.09.2015.
[9] Grundgesetzänderung und geringere Asylleistungen. www.welt.de 13.09.2015.
[10] Markus Söder: Das Asylrecht muss eingeschränkt werden. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.09.2015.

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