11. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Je intensiver der Grenzschutz, desto stärker die Schlepper“ · Kategorien: Deutschland, Europa · Tags: , ,

Quelle: Zeit Online

Europa sollte seine Grenzen öffnen, sagt die Politologin Regine Schönenberg. Erst die Abschottung verschafft den Schlepperbanden ein Milliardengeschäft.

Interview: Alexandra Endres

ZEIT ONLINE: Frau Schönenberg, die EU will 160.000 Flüchtlinge umverteilen, aber zugleich ihre Außengrenzen stärker sichern. Frontex soll zu einer voll funktionsfähigen Grenztruppe ausgebaut werden, ab Oktober sollen noch mehr Militärschiffe auf dem Mittelmeer patrouillieren, um Schlepper mit ihren Booten zu jagen und Flüchtlinge zu retten. Auch die Bundeswehr ist beteiligt. Ist das der richtige Weg?

Regine Schönenberg: Ganz im Gegenteil. Je intensiver man die Grenzen nach außen schützt, umso mehr stärkt man die kriminellen Netzwerke der Schlepper. Der Menschenhandel ist überhaupt erst durch die gut gesicherten Außengrenzen der EU so ein profitables Geschäft geworden, ähnlich lukrativ wie der Waffen- und der Drogenhandel. Mich wundert es deshalb, wenn nun beispielsweise Innenminister Thomas de Maizière sagt, das Geschäft der Schlepper widere ihn an. Die Grundlagen dafür hat er selbst geschaffen!

ZEIT ONLINE: Ein starker Vorwurf.

Schönenberg: Seit die Europäische Union mit dem Schengen-Abkommen ihren Bürgern intern Reisefreiheit gewährt, schottet sie sich nach außen ab. Das macht die Einreise viel schwieriger als vorher. Oder nehmen sie Deutschland: Seit das Asylrecht geändert wurde, ist es kaum noch möglich, hier einen Antrag auf Schutz zu stellen.

ZEIT ONLINE: Es sei denn, man kommt illegal ins Land.

Schönenberg: Auf legalem Wege sind die Hürden jedenfalls kaum zu überwinden – und erst recht nicht ohne professionelle Hilfe. Nur deshalb brauchen die Flüchtlinge Schlepper. Je schwieriger aber die Einreise wird und je riskanter, desto teurer lassen sich die Schlepper bezahlen.

ZEIT ONLINE: Je mehr Grenzer und Schiffe wir zur Abwehr schicken, desto professioneller werden die Schlepper?

Schönenberg: Genau. Das schaukelt sich gegenseitig hoch. Den Effekt beobachten wir in allen Bereichen der Organisierten Kriminalität, zum Beispiel auch im Drogenkrieg: Je höher die Sicherheitsaufwendungen, desto stärker werden die kriminellen Banden. Sie können flexibler agieren als staatliche Institutionen und sind ihnen deshalb immer einen Schritt voraus.

ZEIT ONLINE: Manche bringen Flüchtlinge auch einfach aus Mitgefühl über die Grenze.

Schönenberg: Es gibt beides, und natürlich muss man das sauber voneinander trennen. Ein wohlmeinender Bürger, der aus Österreich nach Ungarn fährt, um Flüchtlingen über die Grenze zu helfen, ist kein Schlepper. Ein Fischer an der Mittelmeerküste auch nicht, der aus purem Mitleid und ohne Geld zu verlangen eine Familie ein Stück in seinem Boot befördert. Solche Leute darf man nicht kriminalisieren. Aber hier geht es um professionelle Menschenschleuser.

ZEIT ONLINE: Wer sind diese Profis?

Schönenberg: Es sind Leute, die beispielsweise die Route über den Balkan schon seit Jahren kontrollieren. Sie haben die Grenzbeamten und Zöllner bestochen und die Transportwege deshalb im Griff. Bislang wurde die Route hauptsächlich für den Transport von illegalen Arbeitskräften und Zwangsprostituierten genutzt, für den Kinder- und Organhandel. Jetzt sind es eben Flüchtlinge. Und weil die Nachfrage so groß ist, steigen auch Leute ins Geschäft ein, die ganz offensichtlich keine Ahnung von der nötigen Logistik haben. Sonst wären zwischen Österreich und Ungarn nicht 71 Menschen in einem Lkw erstickt.

ZEIT ONLINE: Welches Interesse haben die Schlepper denn daran, dass die Flüchtlinge überleben?

Schönenberg: Sie erhalten ihren Lohn oft erst bei erfolgreichem Grenzübertritt. Die Flüchtlinge tragen nicht so viel Bargeld bei sich, aber sobald sie über eine Grenze gelangen, kontaktieren sie ihre Familie zu Hause, die dann das Geld überweist. Jeder, der stirbt, bedeutet für die Schlepper einen Verlust.

ZEIT ONLINE: Auf dem Mittelmeer gab es bislang keine etablierten Schlepper-Routen – und dort sterben viele.

Schönenberg: Womöglich etablieren die Routen sich dort gerade. Wer Tausende Euro kassiert, um Flüchtlinge auf ein Schlauchboot zu pferchen und sie dann auf eine lebensgefährliche Überfahrt schickt, ist ganz sicher kein Menschenfreund, sondern Teil eines kriminellen Netzwerks. Und je mehr Geld diese Netze jetzt umsetzen, desto stabiler werden sie.

ZEIT ONLINE: Um welche Summen geht es da?

Schönenberg: Um Milliarden. Der Menschenhandel ist logistisch aufwendiger als der Drogen- oder Waffenhandel, weil die Leute versorgt werden müssen. Dafür muss man Zwischenhalte organisieren. Auch deshalb sind die Preise hoch – und damit die Einnahmen.

Schönenberg: Lassen Sie uns davon ausgehen, dass die Familien immer das fitteste Mitglied losschicken, weil es die besten Chancen hat. Damit die Flucht gelingt, legen die Familien oft das komplette Ersparte zusammen, manchmal das von Generationen. Alles wird für den Hoffnungsträger verkauft: Grundstücke, Häuser, Familienschmuck. Wenn wir nun in diesem Jahr 800.000 Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen und jeder schätzungsweise 10.000 Euro an seine Schlepper zahlt, dann wären das hochgerechnet acht Milliarden Euro – in einem Jahr.

ZEIT ONLINE: Geld, das in Schlepperbanden fließt, weil Europas Grenzen für die Flüchtlinge dicht sind?

Schönenberg: Ja, Geld, das sich die Leute rechtmäßig erarbeitet haben, stärkt nun die Organisierte Kriminalität. Könnten die Flüchtlinge auf legalem Weg zu uns kommen, würden sie es als Startkapital nutzen. Sie wollen ja keine Almosen, sondern selbst etwas zustande bringen. Und das Schlimme ist: Die illegalen Strukturen, die sich nun verfestigen, werden bestehen bleiben, selbst wenn die Zahl der Flüchtlinge wieder abnimmt. Dann werden die Schmuggelrouten eben für andere Geschäfte genutzt.

ZEIT ONLINE: Wir können die Grenzen doch aber schwerlich für alle öffnen.

Schönenberg: Ich bin da anderer Meinung. Europa hat das Geld, um Banken zu retten, lässt aber Flüchtlinge ertrinken. Gemeinsame Werte? Von wegen. Nähmen wir sie ernst, würden wir uns viel mehr für den Schutz der Flüchtlinge einsetzen.

Immerhin sind wir nicht ganz unschuldig an den Ursachen für ihre Flucht: Als der Kosovo unter ausländischer Verwaltung stand, hat das die korrupten Strukturen noch verstärkt – kein Wunder, dass jetzt so viele Kosovaren ihr Heil im Ausland suchen. Anderswo hat Deutschland Waffen geliefert, mit denen jetzt geschossen wird. Die Opfer kommen zu uns, und wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir ihnen am besten helfen können. Vor dieser Verantwortung können wir uns nicht drücken.

ZEIT ONLINE: Was schlagen Sie vor?

chönenberg: Deutsche Botschaften in Bürgerkriegsländern sollten direkt dort humanitäre Visa ausstellen. Dann kann man die Leute ausfliegen, statt vom Krieg traumatisierte Menschen, die ohnehin schon alles verloren haben, auf eine unsichere Fluchtroute in die Abhängigkeit von Schleppern zu schicken. Das gilt für Länder wie Syrien und Afghanistan. Wir müssten gerade den Afghanen helfen, die dort einen Job für die Bundeswehr oder die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hatten.

ZEIT ONLINE: Nicht alle, die zu uns kommen, sind Kriegsflüchtlinge. Was ist mit den anderen?

Schönenberg: Meist kommen die am besten Ausgebildeten und die Wagemutigsten zu uns. Wir sollten darauf achten, was diese Leute uns bringen. Menschen aus Ländern, in denen es keinen Krieg und keine Verfolgung gibt, könnten wir die Einreise durch Arbeits- oder Studentenvisa ermöglichen. Ein neues Einwanderungsgesetz könnte das regeln – und all das wäre viel besser, als dermaßen große Summen in die Organisierte Kriminalität zu pumpen. Es gibt so viele Möglichkeiten, Flüchtlinge positiv zu integrieren und gleichzeitig illegale Geschäfte zu beschneiden. Auf sie sollten wir uns konzentrieren.

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