05. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Dramatische Fotos vom Flüchtlingsdrama“ · Kategorien: Medien · Tags: ,

Quelle: nzz

Zweifelhafter Betroffenheitskult

Soziale Netzwerke und Massenmedien verbreiten die Fotos eines toten Knaben am Strand. Der Betroffenheitskult hinterlässt einen bitteren Geschmack.

von Rainer Stadler

Seit Mittwoch zirkulieren in sozialen Netzwerken die Bilder eines Knaben, der tot an einem Strand in der Türkei liegt. Verschiedene Zeitungen, nicht nur boulevardeske, placierten die Aufnahme auf ihren Titelseiten. Die flächendeckende Präsenz der Foto, die von der türkischen Dogan News Agency hergestellt wurde, war für zahlreiche Online-Medien wiederum ein Anlass, das Publikum darüber zu informieren, dass Europa darob erschüttert sei.

Erschütternd wäre, wenn die Öffentlichkeit erst jetzt Anteilnahme aufbringen könnte für das, was vor den Grenzen Europas geschieht. Seit Monaten berichten die Zeitungen, die Fernseh- und Radiosender wie auch die Online-Medien über den Versuch von Zehntausenden Personen, in den Wohlstandsgesellschaften des Westens Schutz oder Arbeit zu finden. Wer nur einigermassen am Zeitgeschehen interessiert ist und über ein Minimum an Empathie verfügt, muss schon lange wissen, was für tragische Szenen sich vor den neu errichteten Zäunen und den Küsten des Abendlands abspielen. Braucht es dazu noch die laute Aufmachung der Foto eines toten Knaben?

Die Massenmedien kaschieren ihren Voyeurismus mit einem Betroffenheitskult, dessen Legitimation sie neuerdings daraus ableiten, dass die ohnehin an chronischer Hysterie leidenden sozialen Netzwerke wieder einmal in besonders starke Erregung geraten sind. Man reagiert auf ein angebliches Marktbedürfnis. Doch die Mediengesellschaft schaut nur in den Spiegel und sieht sich selber. Die kurzlebigen Bekundungen von Betroffenheit sind letztlich ebenso sehr ein soziales Zeichen für Abgestumpftheit und ein allgemeines Desinteresse am Geschehen auf diesem Globus. Das moralische Bewusstsein scheint erst jetzt zu erwachen, da das Flüchtlings- und Migrationsdrama näher rückt und bereits in unseren Hinterhöfen und Strassen sichtbar wird.

Seit einigen Tagen ist in der Medienarena eine Kehrtwende zu beobachten. Boulevardblätter skandalisieren den Rassismus, appellieren ans moralische Empfinden ihres Publikums und zeigen in Berichten, dass Flüchtlinge und Migranten auch Menschen sind, denen respektvoll zu begegnen ist. Diese publizistische Haltung ist ehrenwert. Die weniger schöne Folge ist allerdings, dass die emotionsgeladene Aufbereitung des Themas keinen Unterschied mehr macht zwischen Rassisten und denjenigen, die kritische Einwände zur Bewältigung der Zuwanderungsströme haben. Die medial gesteuerte Empathie für das Schicksal der Flüchtlinge wird abklingen in dem Mass, wie die Zuwanderung anhält. Was wird dann geschehen?

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