08. Dezember 2013 · Kommentare deaktiviert für Frontex, Eurosur – Berliner Zeitung · Kategorien: Italien, Libyen, Marokko, Syrien, Tunesien, Türkei · Tags: , , , , , ,

„[…] So war es auch am 11. Oktober, als Wasser in das völlig überfüllte Boot lief. Die Flüchtlinge gaben ihre geografische Position durch. Sie befanden sich 230 Kilometer von der Küste Maltas entfernt, aber nur 130 Kilometer von Lampedusa – allerdings in einem Gebiet, das zur „Such- und Rettungszone“ Maltas gehört. Also gab die Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung in Rom den Fall an Malta ab. Als ein maltesisches Flugzeug endlich vor Ort eintraf und Schwimmwesten und Schlauchboote abwarf, war das Boot schon gesunken. Nur 212 Flüchtlinge konnten aus dem Meer gerettet werden. Sowohl die italienische Finanzpolizei, zuständig für Immigration, als auch die Küstenwache von Lampedusa, zuständig für Rettung aus Seenot, als auch ein mit Hubschrauber bestücktes Kriegsschiff der italienischen Marine, das nur 48 Kilometer entfernt war, hätten nachweislich zwei Stunden vor dem Sinken des Bootes vor Ort sein können. 268 Menschen hätten überlebt. […]

„Der Radar reicht 115 Kilometer weit“, erklärt Pakkala, „auf der Kamera können wir große Schiffe auf 40 Kilometer Distanz, Personen auf 10 Kilometer erkennen. Täglich fliegt er drei bis vier Stunden Patrouille. Er fliegt langsam, etwa zweihundert Stundenkilometer. Spätestens 75 Meilen vor der libyschen Küste dreht er ab, dann ist er auch 75 Meilen von Lampedusa entfernt. Alle 30 Minuten gibt er der Frontex-Kommandozentrale in Rom seinen Rapport durch. […]

Der Vorwurf, der Frontex gemacht wird, ist, dass sie wegschaut, wenn Flüchtlinge in ihrem Operationsgebiet von Grenzpolizisten in Not gebracht werden – durch sogenannte Push-back-Aktionen. Push-back, das heißt zurückstoßen. Vor allem im griechisch-türkischen Grenzgebiet in der Ägäis – Gebiet der Frontex-Operation „Poseidon“ – wurden vermutlich über tausend Flüchtlinge von griechischen Polizeibeamten, die meist Gesichtsmasken trugen, gewaltsam abgedrängt. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl berichtet von zahlreichen Fällen, in denen Flüchtlingen Benzin und Ruder weggenommen wurden, bevor man sie in türkischen Hoheitsgewässern aussetzte. 149 Menschen, die meisten von ihnen afghanische oder syrische Flüchtlinge, unter ihnen viele Kinder und schwangere Frauen, seien in der Ägäis ertrunken. […]

In einer ARD-Sendung vom 17. Oktober allerdings erklärte sein Chef, der Finne Ilkka Laitinen: „Die Abwehraktionen waren über Jahre Doktrin; ich würde sogar sagen, eine Strategie, die viele EU-Staaten anwandten.“ Und auf die Nachfrage des Reporters, ob auch er Push-back angewandt habe, meinte der Frontex-Chef: „Ja, wir mussten ja der Verordnung folgen.“ In dieser Verordnung aus dem Jahr 2010 steht, wie beim Push-back im Einzelnen vorzugehen ist.

Dass das Push-back gegen internationales Recht verstößt, hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon im Februar 2012 festgestellt. Er gab damit der Beschwerde von 24 Flüchtlingen aus Eritrea und Somalia recht, die drei Jahre zuvor auf hoher See von der italienischen Finanzpolizei gestoppt und nach Libyen verfrachtet worden waren, wo damals noch Berlusconis Freund Gaddafi herrschte. Nach der europäischen Menschenrechtskonvention hat jeder Flüchtling ein Recht, angehört zu werden und einen Asylantrag zu stellen. Kollektivausweisungen sind nach Artikel 19 der EU-Grundrechtecharta verboten. Und das Push-back in der Ägäis verstößt gleich mehrfach gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Auf die Frage des ARD-Reporters, ob es Push-back auch noch nach dem Urteil des Straßburger Gerichts gegeben habe, sagte Frontex-Chef Laitinen: „Ich kann nicht leugnen, dass es das auch nach 2012 gegeben hat.“ Nach eigenen Angaben hat sich Frontex daran allerdings nicht mehr beteiligt. Eine neue Verordnung, die zurzeit vom Europäischen Parlament und vom Rat debattiert wird, soll nun Klarheit schaffen, unter welchen Voraussetzungen Push-back doch mit dem internationalen Recht vereinbar ist. […]

Gerade findet in der Flüchtlingsabwehr ein Paradigmenwechsel statt, das Zauberwort heißt Eurosur. Das Kürzel steht für European Border Surveillance System (Europäisches Grenzüberwachungssystem). Im Kern geht es darum, die Informationen von Hafenbehörden, Polizei, Grenzschutz, Küstenwachen international zu vernetzen und auch Daten von Satelliten und Drohnen in dieses Verbundsystem einzuspeisen. 244 Millionen Euro sind dafür bis 2020 eingeplant.

Vor allem soll verhindert werden, dass Flüchtlinge überhaupt an den Toren der Festung Europas anklopfen können. Marokko hat sich bereits vertraglich verpflichtet, Flüchtlinge vor der Küste abzufangen. Tunesien hat in dieser Woche unterschrieben. Generell werden Abkommen mit Drittstaaten angestrebt, damit diese Flüchtlingen den Weg nach Europa versperren. Die EU bietet ihnen Grenzüberwachungshilfe an. Mit Libyen wurde im Mai ein entsprechendes Abkommen geschlossen. Die EU schickt hundert Experten, darunter zwanzig deutsche Polizisten aus Bund und Ländern nach Tripolis. Sie sollen bei Ausbildung, Monitoring und Beratung der libyschen Grenzbehörden helfen. Eine solche Zusammenarbeit, das hatte der Frontex-Chef Laitinen schon 2011 verkündet, sei „der Schlüssel zum Erfolg eines europäischen Grenzmanagements“.

Am vergangenen Montag ist Eurosur offiziell für sämtliche Mittelmeer-Anrainerstaaten in Kraft getreten. Wenn die Rechnung aufgeht, wird Libyen, das die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat und in den vergangenen zwei Jahren Zehntausende illegale Einwanderer nach Niger, Tschad und in den Sudan zurückverfrachtet hat, keine Flüchtlinge mehr nach Europa entwischen lassen und dafür sorgen, dass keine Flüchtlinge mehr über seine Südgrenze ins Land einsickern. Der Sudan seinerseits wird keine Flüchtlinge aus Eritrea mehr aufnehmen. Und Eritreer wie Mesfin, der noch das Glück hatte, auf einem Seelenverkäufer heil in Lampedusa anzukommen, werden dann eben in Eritrea bleiben müssen.

„Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen“, heißt es im Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, beschlossen von der UN-Vollversammlung 1948. Noch wird in Eritrea auf Republikflüchtlinge geschossen. Vielleicht wird es bald nicht mehr nötig sein“

 

via Der versperrte Weg nach Europa | Magazin – Berliner Zeitung

Beitrag teilen

Kommentare geschlossen.