16. August 2017 · Kommentare deaktiviert für Seenotretter im Mittelmeer: „Dann hast du ein Baby im Arm…“ · Kategorien: Italien, Libyen, Mittelmeer · Tags: ,

Spiegel Online | 16.08.2017

Libyen droht mit Gewalt, Italien schickt Kriegsschiffe: Im Streit über die Flüchtlingshilfe im Mittelmeer steigt der Druck auf freiwillige Retter. Einige wollen trotzdem weitermachen. Hier sagen sie, warum.

Von Peter Maxwill

Für die Seenotretter im Mittelmeer war es bislang keine gute Woche – und es könnte noch deutlich schlimmer werden: Libyen hat Hilfsorganisationen aufgefordert, sich von den Küsten des nordafrikanischen Landes fernzuhalten. Italien plant dort zudem eine Militärmission, die EU hält sich weitgehend bedeckt.

Am Wochenende hatten Hilfsorganisationen wie Sea Eye, Ärzte ohne Grenzen und Save the Children angekündigt, sich vorerst aus dem Rettungsgebiet vor der nordafrikanischen Küste zurückzuziehen. Als Grund nannten sie Drohungen und die Ankündigung aus Libyen, eine „Search and Rescue Zone“ auf internationale Gewässer auszuweiten. Als eines der letzten Schiffe privater Helfer kreuzt nun noch die „Aquarius“ von der Organisation SOS Méditerranée im Mittelmeer.

Lesen Sie hier, wer die Retter sind und was sie bewegt:

Stéphane Broc’h, Seemann, aus Frankreich

„Als ich hörte, wie viele Menschen im Meer ertrinken, konnte ich meinen Job als Seemann nicht weitermachen. Ich habe das Wissen, auf das es bei dieser Mission ankommt. Einen Moment werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen: Es war nachts, wir hatten zwei Meter hohe Wellen und mussten Menschen von einem anderen Schiff auf unser Schiff holen. Es war wie in einem Horrorfilm. Dann hast du ein Baby im Arm und weißt nicht, was du machen sollst, also habe ich ihm ein Lied gesungen, es war total absurd. Das Baby war neun Tage alt. Es geht hier um die Gesichter der Menschen. Was du in den Augen der Menschen lesen kannst oder was sie während der Rettung fühlen, ist etwas komplett anderes, als wenn wir sie an Bord haben. Hier werden sie wieder zu Menschen mit Würde, und dann, wenn wir Europa erreichen, verändern sich die Gesichter wieder. Das ist so seltsam. An Bord muss ich funktionieren. Wenn ich aber zurück nach Hause komme, brauche ich freie Tage, sehe wenige Menschen und dann muss ich zurück auf See, aber anders, ich gehe fischen oder segeln. Aufs Meer hinauszublicken in einem schöneren Kontext ist meine Strategie, um mit diesen Erlebnissen klarzukommen.“

Hauke Mack, Nautischer Sachverständiger, aus Glückstadt

„Die Arbeit auf der „Aquarius“ unterscheidet sich von allem, was man zuvor gemacht hat. Niemand hat vorher mit so einer Menge von völlig verzweifelten Menschen zu tun gehabt, die zum Teil auch gesundheitlich so angeschlagen sind, die solche Horrorerlebnisse hinter sich haben – und das in dieser großen Zahl. Für mich ist am bewegendsten, wenn man mit den Geretteten ins Gespräch kommt, die individuelle Geschichte hört und das Ganze dann in Zusammenhang damit setzt, was man selbst für ein behütetes und geregeltes Leben hat. Hier bekommt man mit, wie die Menschen im Detention Camp gelebt haben, wie der Horrorweg durch die Sahara war, was für ein Leben sie in Libyen führten. Wir erfahren die Hoffnungslosigkeit, aus der heraus sich die Menschen zum Teil sogar wissentlich auf diese hochgefährliche Reise mit den Booten begeben und ein großes Risiko eingehen, dabei ihr Leben zu verlieren.“

Alain Theo Fredonic, Taucher, aus Paris

„Ich bin Taucher, spezialisiert darauf, Menschen zu retten. Jeder Tag ist ein neuer Tag an Bord. Leben retten, den Menschen Trost geben, gleichzeitig physisch und im Kopf fit und wach zu sein, um diese Arbeit zu machen, ist eine wahre Herausforderung. Ich habe immer ziemlich fordernde Jobs gemacht, von daher bin ich in gewisser Weise gewöhnt daran. Aber wenn du ein Neugeborenes von einem Boot runterholst, ist das hart. Es ist hart und gleichzeitig macht es mich glücklich, das tun zu können.“

Anton Shakouri, studierter Schiffsbauer, aus Koblenz

„Die erste Begegnung mit einem Flüchtlingsboot hat mich sehr gepackt und danach vieles für mich verändert. Ich habe mir über meine Lebensweise Gedanken gemacht, ich habe mich gefragt, ob sie Migration fördert oder ob es den Menschen dadurch besser geht. Vorher habe ich viel an mich selbst gedacht, heute sehe ich das globale Problem. Bislang hatte ich Glück, nach jedem extremen Fall wieder gute Momente zu haben. Es sind keine schönen Bilder, Tote zu bergen oder extrem Verletzte oder Menschen die unterernährt sind. Aber ich war auch zweimal an Bord, als Kinder geboren wurden.“

Wie lange die Helfer auf der „Aquarius“ noch Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten können, ist derzeit nicht abzusehen. SOS Méditerranée ist jedoch nicht die einzige Gruppe, die ihr Engagement fortsetzen möchte: Die Dresdner Hilfsorganisation „Mission Lifeline“ plant, im September erstmals mit einem eigenen Schiff im Mittelmeer Schiffbrüchigen zu helfen.

Derzeit werden der Organisation zufolge die letzten Wartungsarbeiten in Malta abgeschlossen, bevor die „Lifeline“ in wenigen Wochen zur ersten Mission starten soll. „Trotz der zunehmenden Kriminalisierung von privaten Seenotrettungsorganisationen“, sagt „Mission Lifeline“-Chef Axel Steier, „lassen wir uns nicht von der Pflicht abbringen, Menschenrechte und internationales Seerecht im Mittelmeer zu verteidigen.“

Aus Sicht vieler Seenotretter ist die aktuelle Situation ein Dilemma: Aufgrund des harten Vorgehens der libyschen Behörden würden tatsächlich weniger Migranten in unsicheren Booten internationale Gewässer erreichen, sagt Stefan Dold von Ärzte ohne Grenzen dem SPIEGEL. Das bedeute allerdings, dass die Flüchtlinge in libysche Lagern gebracht würden.

„Die Situation in diesen Lagern ist absolut menschenunwürdig“, so Dold. Es mangele oftmals an Nahrung und Wasser, zudem gebe es Berichte über Gewalt und Willkür. „Es ist fürchterlich, dass Menschen aufgehalten werden, die vor Elend und Gewalt fliehen“, sagt Dold.

Für Ärzte ohne Grenzen sei es daher ein wichtiges Ziel, das Schiff „Prudence“ wieder auf Rettungseinsätze zu schicken. „Wir bemühen uns derzeit bei der EU und den libyschen Behörden um Sicherheitsgarantien für unser Schiff und um die Zusicherung, dass wir weiter gemäß grundlegender humanitärer Prinzipien arbeiten können“, sagt Dold. „Dazu gehört auch, dass wir die Geretteten nicht nach Libyen bringen können.“

Dass es dazu kommt, scheint jedoch höchst unwahrscheinlich. „Derzeit sieht es danach aus“, sagt Dold, „dass die libyschen Behörden und die EU eine Situation herbeiführen, in der für private Seenotretter kein Platz mehr ist.“

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