20. Januar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Das würde reichen, um die ganze Welt zu destabilisieren“ · Kategorien: Ägypten, Europa

Quelle: Welt | 19.01.2017

Ägyptens Außenminister Schukri über die Folgen des arabischen Frühlings und den Beitrag seines Landes zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Von der Stabilität am Nil hänge die Balance in Nahost ab.

Samih Schukri war 2011 Ägyptens Botschafter in den USA, als die Menschen in seiner Heimat gegen Präsident Husni Mubarak protestierten. Amerika ließ den alten Verbündeten fallen, der sogenannte arabische Frühling siegte. Doch dann kam Chaos, bis die Armee einschritt. Heute regiert Ex-General Abdel Fattah al-Sisi Ägypten. Und sein Außenminister Schukri berät mit Berlin über die Migrationskrise.

Die Welt: Herr Minister, wie sehen Sie die Lage in Deutschland? Hier sind durch Migration und Terror neue Herausforderungen entstanden.

Samih Schukri: Wir sehen natürlich den Druck, den diese Entwicklung in Deutschland und Europa erzeugt. Aber wir und auch die ägyptische Öffentlichkeit sehen Deutschlands Umgang damit mit großer Achtung. Ihr Land hat große Anstrengungen unternommen, um seiner moralischen Verantwortung gerecht zu werden und bedrohten Menschen zu helfen, Menschen, die aus Konfliktgebieten geflohen sind, vor allem aus Syrien. Selbstverständlich beobachten wir auch den Druck, und die gewisse Instabilität, die das mit sich bringt. Die Situation muss natürlich geregelt werden, aber dabei sollten wir kooperieren. Wir sollten uns gegenseitig unterstützen, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden.

Die Welt: Wenn Sie sich den Sturz der Regime im sogenannten arabischen Frühling ansehen, gibt es da Parallelen mit dem Mauerfall bei uns?

Schukri: Ich wünschte, die Folgen wären die gleichen …

Die Welt: … die kämen erst später.

Schukri: In jedem Fall hat das Ende des Kommunismus ein neues, stärkeres Deutschland hervorgebracht. Aber der „arabische Frühling“ hat zunächst Instabilität gebracht, den Zusammenbruch von Institutionen, die Ausbreitung des Terrors. Natürlich wurde in diesen Prozess auch von außen eingegriffen, mit wenig glücklichen Folgen. Etwa in Syrien und Libyen. Aber das delegitimiert nicht den „arabischen Frühling“ als solchen. Da haben die Bevölkerungen sehr berechtigte Forderungen vorgebracht.

Die Welt: Aber bis zum „arabischen Frühling“ halfen die Staaten der Region, eine Mauer um Europa zu errichten, die auch Migration abhielt.

Schukri: Nein, es gab keine solche Mauer. Die Lebensbedingungen in der arabischen Welt waren einfach besser. Nicht perfekt, aber weniger gefährlich. Es gab kaum Demokratie. Aber vielen Menschen war das nicht so wichtig, weil ihre Priorität war, dass ihre Kinder etwas zu essen auf den Tisch bekommen. Was die Menschen dann in die Migration getrieben hat, waren die Gefahren, die sich aus den bewaffneten Konflikten ergaben. Fragen von Leben und Tod.

Die Welt: Aber solange es einen Gaddafi gab, konnte Berlusconi ihn besuchen und einen Deal mit ihm machen.

Schukri: Ich möchte die Art und Weise, wie manche Leute ihr Land regieren, nicht gutheißen. Das sollte allein in den Händen der Bevölkerungen liegen. Aber sei es in Syrien oder Somalia – wir sehen auf vielfältige Weise, wie Milizen die Macht übernehmen, wenn staatliche Strukturen zerfallen. Und sie handeln nie im Interesse der Gesamtheit der Bürger. Sie kämpfen immer nur für sich.

Die Welt: Ägypten hat eine einzigartige Position als Land, das den „arabischen Frühling“ erlebt hat, aber heute stabil ist.

Schukri: Ja, bei uns hatte auch die Muslimbruderschaft eine Chance, das Land zu regieren. Aber sie hat sich als unfähig dazu erwiesen. Sie hat polarisiert, sie wollte Teile der Gesellschaft ausschließen, sie hat den Staat schlecht gemanagt und seine territoriale Integrität in Gefahr gebracht. Also gingen die Menschen auf die Straße, um diese Regierung abzusetzen und in dem Prozess, der folgte, entstand eine neue Verfassung, mit der Präsident Sisi jetzt regiert.

Die Welt: Damit ist Ägypten auch in einer Position, bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu helfen.

Schukri: Natürlich. Indem wir unsere Gesellschaft stabilisieren und reformieren, Regierung und Parlament, die Wirtschaft, die Justiz, können wir besser mit internationalen Partnern zusammenarbeiten. Und wir können ein Modell des Fortschritts entwickeln, das in die Region ausstrahlt. Darum ist es so wichtig, dass unser Experiment gelingt. Stellen Sie sich vor, in Ägypten geschähe etwas Ähnliches wie in Libyen, unserem Nachbarland. Libyen hat fünf Millionen Einwohner. Wir haben 93 Millionen Einwohner. Wenn sich auch nur ein Prozent davon radikalisiert, haben wir 100.000 Terroristen. Das würde reichen, um nicht nur Europa zu destabilisieren, sondern die ganze Welt.

Die Welt: Seit vergangenem Sommer gibt es vermehrt Berichte über Migranten, die von der ägyptischen Küste aus Richtung EU aufbrechen. Wie kann Europa Ihnen helfen, um dieses Problem zu bewältigen?

Schukri: Wir tun da schon viel, indem wir die wirtschaftliche Lage verbessern und Arbeitsplätze schaffen. Wenn Menschen eine wirtschaftliche Perspektive haben und weder Krieg noch Gewalt fürchten müssen, fliehen sie auch nicht. Daneben nutzen wir alle uns zur Verfügung stehenden Mittel von Militär und Küstenwache, um die Sicherheit auf See zu gewährleisten. Wir retten Schiffbrüchige und zerschlagen die Strukturen krimineller Schlepperbanden.

Die Welt: Manche in Europa schlagen vor, außerhalb Europas Zentren einzurichten, wo Migranten Asyl beantragen und ihren Fall prüfen lassen können. Könnten die auch in Ägypten entstehen?

Schukri: Das sind Einzelheiten, die wir erst besser einschätzen können müssten. Bisher gab es bei uns weder Internierungslager noch Bearbeitungsstellen. Wir haben in den letzten 20 Jahren fünf Millionen Migranten aus Afrika südlich der Sahara aufgenommen, 400.000 bis 500.000 aus Syrien und in etwa die gleiche Zahl aus dem Irak. Sie werden bei uns integriert, sie bekommen Gesundheitsversorgung und Zugang zum Bildungssystem wie Ägypter, Arbeitsmöglichkeiten und staatliche Zuschüsse. Wir haben keine Einrichtungen, um sie zu isolieren oder abzuwimmeln. Das kostet viel Geld, aber wir kennen unsere moralische Verantwortung und nehmen sie an.

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