Stuttgarter Nachrichten | 23.07.2018
In der bosnischen Grenzstadt Velika Kladusa warten 500 Flüchtlinge in einem überschwemmten Lager auf bessere Zeiten. Der Balkanstaat droht Schauplatz einer menschlichen Katastrophe zu werden.
Von Thomas Roser
Sarajevo – Die nächtliche Regenflut hat nichts verschont. Schweigsam bergen übermüdete Lagerbewohner klatschnasse Decken, mit Schlamm überzogene Kleidung und verdorbene Lebensmittel aus Pfützen und Zeltruinen. Auf der aufgeweichten Flusswiese im Nordosten der bosnischen Grenzstadt Velika Kladusa hämmern schwitzende Männer Lattenverschläge, um sich und ihre Habseligkeiten mit darüber gezogenen Plastikplanen gegen die nächsten Niederschläge zu wappnen. Sein Zelt sei „komplett unter Wasser“ gestanden, berichtet der 24-jährige Omar aus dem südmarokkanischen Guelmim: „Es ist ein Chaos. Hier gibt es nichts – und funktioniert nichts.“
Seit über einem Jahr ist der Student auf einem weiten Balkanumweg in Richtung seines Wunschziels Spanien unterwegs. Erst am Vortag habe er erneut versucht, in das nahe Kroatien zu gelangen, so Omar. „Aber es ist einfach zu viel Polizei an der Grenze. Wenn die Kroaten dich erwischen, schlagen sie dich, nehmen dir das Geld ab, zerbrechen die SIM-Karte des Telefons – und bringen dich wieder nach Bosnien zurück“, berichtet der Marokkaner.
Der Nordwestzipfel des Vielvölkerstaats ist zur neuen Sackgasse auf der sich ständig ändernden Balkanroute geworden. Seit Jahresbeginn sollen über 7000 Flüchtlinge in Bosnien und Herzegowina registriert worden sein. Gut die Hälfte von ihnen ist im grenznahen Kanton Una-Sana gestrandet. Allein in Bihac wird deren Zahl auf knapp 3000 geschätzt. In Bosniens am weitesten im Westen gelegener Kommune Velika Kladusa sind es rund 500 Flüchtlinge, die in dem überschwemmten Lager auf bessere Zeiten – und die Überwindung von Sloweniens nur 70 Kilometer entfernter Schengengrenze hoffen.
Die Grenzen sind zu
Nein, froh sei niemand über die unerwünschten Grenzgänger, berichtet eine blonde Mitfünfzigerin: „Es gibt unter den Flüchtlingen wunderbare Menschen – aber auch problematische Leute.“ Viele Anwohner würden Essen und Kleidung ins Lager bringen: „Wir Bosnier haben im Krieg selbst erfahren, was es bedeutet, das eigene Heim verlassen – und fliehen zu müssen.“ Doch viele seien auch durch Einbrüche und den Tod eines im Juni erstochenen Marokkaners beunruhigt: „Es sind einfach sehr viele Menschen – und werden immer mehr. Sie kommen zu uns, weil wir am nächsten an der Grenze liegen.“
„Einfach Pech“, habe er gehabt, seufzt der Pakistani Sajjad, während er mit einem Wassergraben sein Zelt für das nächste Unwetter zu sichern sucht. Als er vor drei Monaten nach Velika Kladusa kam, sei die Route noch kaum genutzt worden: „Fast alle kamen durch.“ Doch kurz vor Sloweniens Grenze habe er sich damals in Kroatien einen Knöchelbruch zugezogen: „Ich wurde nach Bosnien abgeschoben – und lag zwei Monate in Gips.“
Inzwischen sei sein Fuß zwar wieder belastbar, doch gebe es an der Grenze kaum mehr ein Durchkommen, erzählt der 25-jährige IT-Techniker. Fünf Mal sei er bereits von kroatischen Grenzern aufgegriffen, geschlagen und abgeschoben worden. Einmal habe er es zwar selbst nach Slowenien geschafft: „Aber auch die Slowenen bringen dich seit einigen Wochen nicht mehr ins Lager, sondern schieben dich zurück über die Grenze ab.“
Vier Dixi-Toiletten und zwei Duschverschläge für 500 Menschen: Kopfschüttelnd spricht der Beobachter einer UN-Organisation von „absolut unzumutbaren und unhygienischen“ Bedingungen. Es gebe für die Bewohner des Lagers weder vom Staat noch von den UN oder der EU irgendeine Hilfe, klagt der Mann, der seinen Namen und Arbeitgeber lieber nicht nennen will. Ab September werde die regelmäßig überflutete Wiese völlig unter Wasser stehen: „Es ist eine Katastrophe. Wir behandeln die Leute wie Tiere, überlassen sie einfach sich selbst.“
Von einem „neuen Idomeni“ schreibt die slowenische Zeitung „Delo“. Doch im Gegensatz zu dem griechischen Grenzort, wo nach der Abriegelung der Balkanroute 2016 zeitweise bis zu 14 000 Menschen biwakierten, ist von den großen Hilfsorganisationen in Velika Kladusa nichts zu sehen. Zur Hilfe sind die EU und UN im Grenzgebiet zu Kroatien nicht bereit, und Bosniens dysfunktionaler Staat scheint dazu kaum fähig zu sein: Tausende von Gestrandeten sind in Westbosnien weitgehend sich selbst überlassen – und auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen.
Lokale Hilfsgruppen haben an die UN geschrieben
In einem Brief an die Regierung, die EU und die UN-Flüchtlingsorganisationen warnen lokale Hilfsgruppen vor einer Katastrophe für die Menschen. Der Staat bürde die Verantwortung für die Flüchtlinge „seinen verarmten und ausgelaugten Bürgern“ auf. Die UN-Organisationen würden sich ihrer Verantwortung entziehen, obwohl sie ihr Mandat zur Hilfe verpflichte. Der tatenlosen EU komme die Lage offenbar zupass: „Die Weigerung, irgendwelche Verantwortung zu übernehmen, hat dazu geführt, dass Tausende Menschen unter freiem Himmel oder dafür völlig ungeeigneten Gebäuden übernachten.“
Flüchtlingsleid im Flüchtlingsland: An den Folgen des Bosnienkriegs, der von 1992 bis 1995 wütete, hat der Vielvölkerstaat noch immer zu knabbern. Dennoch hat Sajjad neben seinem Zelt die Fahne seines unfreiwilligen Gastlands gehisst. In Velika Kladusa sei die lokale Bevölkerung, „freundlich und hilfsbereit“: „So schlecht die Lage ist: Wir lieben die Bosnier.“
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Zeit Online | 24.07.2018
In der Sackgasse der Balkanroute
Seit auf dem Balkan Grenzen geschlossen wurden, ist für viele Flüchtlinge in Bosnien Endstation. In wilden Camps gibt es kaum Hilfe für sie, keiner fühlt sich zuständig.
Von Thomas Roser, Velika Kladuša
Sein Zelt habe in der Nacht unter Wasser gestanden, „alles ist nass, kaum mehr zu gebrauchen“, sagt der 24-jährige Omar, der aus Guelmim im Süden Marokkos kommt. Auf der aufgeweichten Flusswiese nahe der bosnischen Grenzstadt Velika Kladuša zimmern schwitzende Männer Lattenverschläge, die Plastikplanen halten sollen, damit ihre wenigen Habseligkeiten beim nächsten Mal besser geschützt sind. Aus den Überresten des Camps ziehen sie klatschnasse Decken, schlammgetränkte Kleidung und verdorbene Lebensmittel. Im überschwemmten Nachbarzelt habe das viermonatige Kleinkind eines Landsmannes übernachtet, sagt Omar. Anwohner und freiwillige Helfer würden das provisorische Lager zwar einmal am Tag mit Essen versorgen: „Aber es ist hier nichts organisiert. Bosnien ist ein armes Land. Hier gibt es nichts – und funktioniert nichts. Es ist einfach ein Chaos.“
Seit über einem Jahr ist der schlaksige Student auf einem weiten Umweg über den Balkan in Richtung seines Wunschziels Spanien unterwegs. „Viele Grenzen, viele Probleme“, berichtet er in einfachem Englisch. Erst flog er als Tourist in die Türkei, von dort gelangte er „meist zu Fuß“ über Griechenland, Albanien und Montenegro in das Camp. Erst am Vortag habe er erneut versucht, in das nahe Kroatien zu gelangen, sagt der Marokkaner mit einem Achselzucken: „Aber es ist einfach zu viel Polizei an der Grenze. Wenn die Kroaten dich erwischen, schlagen sie dich, nehmen dir das Geld ab, zerbrechen deine SIM-Karte und bringen dich wieder nach Bosnien zurück.“
Der äußerste Nordwesten Bosniens ist für Transitmigranten zur neuen Sackgasse auf der sich ständig ändernden Balkanroute geworden. Insgesamt sollen seit Jahresbeginn mehr als 7.000 eingereiste Flüchtlinge in Bosnien und Herzegowina registriert worden sein. Gut die Hälfte ist im grenznahen Kanton Una-Sana gestrandet, allein in dessen Hauptstadt Bihać wird ihre Zahl auf knapp 3.000 geschätzt. Weiter nach Westen als bis Velika Kladuša geht es nicht in Bosnien, in dem Camp nordöstlich der Kommune hoffen rund 500 Flüchtlinge auf bessere Zeiten – und die Überwindung von Sloweniens nur 70 Kilometer entfernter Schengengrenze.
„Wunderbare Menschen, aber auch problematische Leute“
Nein, froh sei niemand über die unerwünschten Grenzgänger, sagt eine blonde Mitfünfzigerin an der Ausfallstraße nach Bihać: „Es gibt unter den Flüchtlingen wunderbare Menschen, aber auch problematische Leute – und Spannungen.“ Viele hier würden den Lagerbewohnern Essen und Kleidung bringen: „Wir Bosnier haben im Krieg selbst erfahren, was es bedeutet, das eigene Heim verlassen und fliehen zu müssen.“ Doch ebenso viele seien beunruhigt. Es werde über die steigende Zahl von Einbrüchen berichtet, im Juni habe ein Afghane einen Marokkaner erstochen. „Es sind einfach sehr viele Menschen – und es werden immer mehr. Sie kommen zu uns, weil wir am nächsten an der Grenze liegen“, sagt die Frau.
„Einfach Pech“ habe er gehabt, sagt der Pakistaner Sajjad, während er einen kleinen Graben um sein Zelt aushebt, als Schutz vor dem nächsten Unwetter. Als er vor drei Monaten nach Velika Kladuša gekommen sei, habe er nur zwei Dutzend andere Flüchtlinge hier getroffen: „Die Route war noch unbekannt, fast alle kamen durch“, sagt der 25-jährige IT-Techniker. Doch kurz vor der Grenze nach Slowenien habe er sich damals in Kroatien einen Knöchel gebrochen: „Ich wurde nach Bosnien abgeschoben – und lag zwei Monate in Gips.“ Den Fuß könne er jetzt wieder belasten, aber an der Grenze komme man kaum noch durch. Fünfmal sei er bereits von kroatischen Grenzern aufgegriffen, geschlagen und abgeschoben worden. Einmal habe er es sogar nach Slowenien geschafft: „Aber auch die Slowenen bringen dich seit einigen Wochen nicht mehr ins Lager, sondern schieben dich sofort zurück über die Grenze ab.“
Kopfschüttelnd weist ein als Beobachter entsandter UN-Mitarbeiter auf die Dixi-Kabinen auf der Uferwiese. „Absolut unzumutbar und unhygienisch“ seien vier Toiletten und zwei Duschverschläge für 500 Menschen, sagt der Mann, der seinen Namen lieber nicht nennen mag. Weder vom Staat noch von der UN oder EU gebe es für die Bewohner des Lagers irgendeine Hilfe oder ein Konzept. Ab September werde die jetzt schon regelmäßig überflutete Wiese völlig unter Wasser stehen. „Es ist eine Katastrophe. Wir behandeln die Leute wie Tiere, überlassen sie einfach sich selbst“, sagt der UN-Beobachter. Viele der Campbewohner hätten zwar „nirgendwo Aussicht auf Asyl“: „Aber es handelt sich auch bei ihnen um Menschen – mit Anspruch auf ein Mindestmaß an menschenwürdiger Behandlung.“
Ein neues Idomeni?
Als „neues Idomeni“ sieht die slowenische Zeitung Delo die Lage bereits. Doch im Gegensatz zu der griechischen Landgemeinde an der mazedonischen Grenze, wo nach der Abriegelung der Balkanroute 2016 zeitweise bis zu 14.000 Menschen monatelang in einem improvisierten Camp hausten, ist von den großen Hilfsorganisationen in Velika Kladuša wenig zu sehen. Zur Hilfe sind die EU und UN im Grenzgebiet zu Kroatien nicht bereit und Bosniens dysfunktionaler Staat kaum fähig: Tausende von Gestrandeten sind in Bihać und Velika Kladuša weitgehend sich selbst überlassen – und auf die Hilfe der Bevölkerung und kleiner lokaler Initiativen angewiesen.
Mit einer Handvoll Mitstreiter ist die Österreicherin Romana Olijnyk als freiwillige Helferin mit einem Kleintransporter voller Hilfsgüter auf eigene Faust nach Velika Kladuša gereist. Es fehle an Essen und Medikamenten, an Schuhen, Decken, Zelten und Schlafsäcken, sagt sie. Zudem kehrten viele „von der Polizei verprügelt und mit Verletzungen“ von der Grenze zurück. Alles werde mit privaten Spenden der Anwohner finanziert, aber es reiche vorn und hinten nicht: „Es herrscht das Chaos, es ist erschreckend. Und es kommt keine Hilfe.“
Trocken, aber leer sind die 50 weißen Großzelte vor den ausgebeinten Hallen des einstigen Agrarkombinats Agrokomerc neben der Gokartbahn im Industriegebiet von Velika Kladuša. Die Zentralregierung in Sarajevo hat hier ein vorläufiges Flüchtlingslager errichten lassen, das bessere Bedingungen bieten würde als das wilde Camp auf der Uferwiese. Aber es bleibt vorerst eine Geisterstadt. Denn nicht nur die Stadtverwaltung sträubt sich gegen die Inbetriebnahme – wegen der Nähe zur EU-Außengrenze gibt es auch Widerstand in Brüssel, im nahen Kroatien und bei den UN-Hilfsorganisationen.
Im benachbarten Serbien seien mit EU-Hilfe während der Flüchtlingskrise von 2015/2016 auch Auffangzentren in unmittelbarer Nähe der kroatischen Grenze eröffnet worden, die teilweise noch heute operierten, erregt sich Bosniens Sicherheitsminister Dragan Mektić. Die EU tue jedoch nichts, um seinem Land zu helfen, und verschlimmere so die „Migrantenkrise“ in ihrer Nachbarschaft noch weiter: „Ich bin absolut unzufrieden und verbittert über das Verhalten der EU gegenüber Bosnien und Herzegowina.“
„Wir lieben die Bosnier“
Die Kantonsverwaltung wirft derweil der bosnischen Regierung Tatenlosigkeit vor: Ohne finanzielle Hilfe des Zentralstaats werde das Problem einfach den betroffenen Kommunen und dem Kanton aufgebürdet. Jeder schiebt dem anderen die Verantwortung zu, sodass in Bosniens verschachteltem Staatslabyrinth nicht nur das Wohl der gestrandeten Flüchtlinge auf der Strecke bleibt, sondern auch die Interessen der Anwohner.
In einem offenen Brief an Bosniens Regierung, die EU und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR warnen lokale Hilfsorganisationen wie SOS Velika Kladuša oder Souls of Sarajevo vor einer humanitären Katastrophe. Der bosnische Staat sei keineswegs so arm, dass er einigen Tausend Menschen nicht helfen könnte. Doch die Verantwortung dafür bürde der Staat „seinen verarmten und ausgelaugten Bürgern“ auf. Die UN-Hilfsorganisationen würden sich gleichzeitig jeglicher Verantwortung entziehen, obwohl sie ihr Mandat eigentlich zur Hilfe verpflichte. Der tatenlosen EU komme die Lage angesichts ihrer Politik der Abschreckung zupass.
Flüchtlingsleid in einem Flüchtlingsland, wo die Menschen die Folgen des Kriegs in den Neunzigern selbst noch nicht ganz hinter sich gelassen haben. Der Pakistani Sajjad hat dennoch die Flagge seines unfreiwilligen Gastlandes gehisst, an einem selbst gezimmerten Mast neben seinem Zelt. Überall habe er auf seiner 15-monatigen Odyssee von Peschawar in Richtung Frankreich „nur Schwierigkeiten“ gehabt, sagt der junge Mann. Doch in Velika Kladuša sei nicht nur die lokale Bevölkerung, sondern auch die Polizei „freundlich und hilfsbereit“: „So schlecht die Lage hier ist: Wir lieben die Bosnier.“