German-Foreign-Policy | 22.06.2018
BERLIN/TRIPOLIS (Eigener Bericht) – Die EU schlägt die Einrichtung von Sammellagern für Flüchtlinge in Nordafrika vor und will etwaige Asylgesuche dort exterritorial bearbeiten. Dies geht aus den Unterlagen für den EU-Gipfel Ende kommender Woche hervor. Demnach sollen künftig Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer aufgegriffen werden, nicht mehr nach Europa, sondern zurück nach Nordafrika gebracht werden. Werden ihre Asylanträge abgelehnt, werden sie von dort in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Der frühere deutsche Außenminister Sigmar Gabriel bringt parallel einen Militäreinsatz in Libyen ins Gespräch. Tatsächlich hat die EU den Schritt zur Nutzung von Lagern in Nordafrika im Rahmen ihrer Flüchtlingsabwehr längst vollzogen. So unterstützt sie internationale Organisationen, die sich in Libyen um in Lagern inhaftierte Flüchtlinge kümmern, um mit ihrer Hilfe einige wenige Flüchtlinge nach Europa zu holen, die Mehrheit hingegen zur vorgeblich freiwilligen Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu veranlassen. Die Maßnahmen werden zum Teil von Deutschland finanziert.
„Willkommenszentren“
Vor dem EU-Sondertreffen zur Flüchtlingsabwehr an diesem Sonntag und dem EU-Gipfel Ende nächster Woche, der sich ebenfalls insbesondere der Migrationspolitik widmen wird, werden zum wiederholten Male Plädoyers für den Aufbau von Lagern für Flüchtlinge in Nordafrika laut. Entsprechende Forderungen hat bereits vor 14 Jahren der damalige deutsche Innenminister Otto Schily (SPD) gestellt [1]; sie sind seitdem mehrfach neu vorgebracht worden, unter anderem vom ehemaligen deutschen Innenminister Thomas de Maizière, von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Aktuell wird der heutige deutsche Innenminister Horst Seehofer mit der Aussage zitiert, es sollten „große Lager in Libyen“ errichtet werden; während de Maizière die Lager „Willkommenszentren“ nennen wollte, spreche Seehofer jetzt von „Schutzzonen“.[2] „Asylzentren an der afrikanischen Mittelmeerküste“ hat auch der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel Ende letzter Woche ins Gespräch gebracht. Gabriel plädierte gleichzeitig für eine bewaffnete Intervention in Libyen: Man solle die dort bestehenden, gewöhnlich von brutalen Milizen betriebenen und zum Teil zum Sklavenhandel genutzten Lager „zerstören“ – „wahrscheinlich auch mit bewaffneter Hilfe“.[3]
„Ausschiffungsplattformen“
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat das Vorhaben nun auf die Tagesordnung des EU-Gipfels Ende kommender Woche gesetzt. Demnach plant Tusk, „regionale Ausschiffungsplattformen“ („regional disembarkation platforms“) aufzubauen, um dorthin diejenigen Flüchtlinge zu überstellen, die auf dem Mittelmeer aufgegriffen wurden – mutmaßlich von der sogenannten libyschen Küstenwache oder von Kriegsschiffen der EU. In den Einrichtungen – der Sache nach wird es sich um Lager handeln, da die Flüchtlinge irgendwie versorgt werden müssen – sei zu prüfen, ob die betreffende Person ein „Wirtschaftsmigrant“ sei oder „internationalen Schutz“ benötige, heißt es in der Vorlage des Ratspräsidenten für den EU-Gipfel.[4] Dieses Vorgehen weicht insofern von den bisherigen Praktiken ab, als auf dem Mittelmeer aufgegriffene Migranten nicht mehr in die EU gebracht würden. Das widerspricht dem völkerrechtlichen Verbot, Flüchtlinge ohne Prüfung ihres Anliegens zurückzuweisen. Tatsächlich soll das neue Konzept Tusk zufolge „den Anreiz reduzieren, sich auf gefährliche Reisen“ – gemeint ist die Überfahrt über das Mittelmeer – „einzuschiffen“. Als etwaige Standorte für die „Ausschiffungsplattformen“ werden zuweilen Albanien, meist jedoch Länder in Nordafrika, etwa Tunesien, genannt. Auch Libyen wird trotz des Bürgerkriegs in Betracht gezogen.
Spalte und herrsche
Jenseits der jüngsten Pläne des Ratspräsidenten hat die EU den Übergang zur Nutzung von Lagern im Rahmen ihrer Flüchtlingsabwehr in Nordafrika faktisch längst vollzogen. So unterstützt sie internationale Vereinigungen, die sich in Libyen um in Lagern inhaftierte Flüchtlinge kümmern – das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die International Organization for Migration (IOM) -, um mit ihrer Hilfe die Flüchtlinge aufzuteilen: in einige wenige, denen die Reise in die EU erlaubt wird, und eine übergroße Mehrheit, die in ihr Herkunftsland zurückkehren muss. Wie sich dies in der Praxis abspielt, geht aus einem im Mai fertiggestellten Bericht der EU-Kommission hervor.
Rettung als Vorwand
Demnach fördert die EU zunächst einmal Maßnahmen, die den Aufenthalt von Flüchtlingen in den furchtbaren Haftlagern libyscher Milizen erträglicher gestalten sollen. So unterstützt sie etwa die IOM dabei, internierte Flüchtlinge mit Decken, Matratzen und Hygienebedarf auszustatten und sie notdürftig medizinisch zu versorgen.[5] Darüber hinaus hilft sie dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bei seinen Bemühungen, Kontrollbesuche in den Lagern durchzuführen und Flüchtlinge freizubekommen. Unmittelbar anschließend setzt ein Programm an, das Ende November am Rande eines EU-Afrika-Gipfels beschlossen worden ist und das unter dem Vorwand, Flüchtlinge „retten“ zu wollen, faktisch ihre Abschiebung organisiert – auf formal freiwilliger Basis.[6] Ein Beispiel bietet die „freiwillige Rückkehr“ von rund 150 Flüchtlingen aus Libyen nach Somalia, die die IOM Ende Mai organisierte. Hatten die Somalier ursprünglich gehofft, in der EU Zuflucht zu finden, so hat die IOM sie aus Libyen in ihr Herkunftsland zurückbringen lassen und unterstützt sie nun im Bemühen, sich im kriegszerstörten und terrorgeplagten Somalia neu zu integrieren.[7] Insgesamt hat die IOM mit Unterstützung der EU von Anfang Januar bis zum 24. April 6.185 Flüchtlinge zur „freiwilligen Rückkehr“ veranlasst. Rechnet man ähnliche Maßnahmen etwa der Afrikanischen Union hinzu – auch diese hat die EU politisch initiiert -, dann belief sich die Anzahl der „freiwilligen Rückkehrer“ aus Libyen in ihr Herkunftsland zwischen dem 28. November 2017 und dem 1. März 2018 auf 15.391 in Libyen gestrandete Personen.[8]
Weniger als ein Zehntel
Helfen die schrecklichen Verhältnisse in libyschen Lagern, eine größere Zahl an Flüchtlingen zur „freiwilligen“ Rückkehr zu motivieren, so werden diejenigen, die sich der Rückkehr auch weiterhin verweigern und in einer Art Vorabprüfung vom UNHCR als „schutzwürdig“ eingestuft werden, in ein Lager in Niger gebracht. Von Ende November bis Mitte Mai waren dort laut Angaben der EU-Kommission 1.152 Flüchtlinge eingetroffen. Im Grundsatz sollen sie von dort in die EU reisen dürfen, benötigen dafür allerdings die Zustimmung eines EU-Mitgliedstaates. Bis Mitte Mai waren vom UNHCR 475 in Niger angekommene Flüchtlinge fest zur Übersiedlung vorgemerkt worden. 108 von ihnen sind inzwischen nach Europa eingereist – nach Frankreich, Schweden und in die Schweiz, die sich als Nicht-EU-Mitglied dennoch an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligt -, 71 weitere hatten Mitte Mai bereits eine Einreisegenehmigung eines EU-Mitgliedstaates erhalten und dürften inzwischen in Europa angekommen sein.[9] Insgesamt hatten die EU-Mitglieder bis Mitte Mai der Übernahme von 2.680 Flüchtlingen zugestimmt. Das ist nicht einmal ein Zehntel der – laut Angaben der IOM – 32.000 Flüchtlinge, denen von Januar bis Ende Mai die Überfahrt über das Mittelmeer und die Einreise in die EU gelang. Parallel bemüht sich die IOM – finanziert auch durch die Bundesrepublik -, auch in sogenannten Transitzentren in Niger Flüchtlinge, die vom UNHCR nicht zur Einreise in die EU vorgemerkt werden, zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen und ihnen dabei Hilfestellung zu leisten. Im Jahr 2016 hatte sie damit bei über 5.000 Flüchtlingen Erfolg.[10]
[1] S. dazu Schilys Schleuser und Ab in die Wüste.
[2] Grünen-Chef Habeck zum Asylstreit: „Seehofer will große Lager in Libyen“. br.de 19.06.2018.
[3] Gabriel fordert Asylzentren in Nordafrika. n-tv.de 17.06.2018. S. auch Europäische Werte (III).
[4] European Council meeting (28 June 2018) – Draft conclusions. Brussels, 19 June 2018 (OR.en). 8147/18. LIMITE CO EUR-PREP 23.
[5] Communication from the Commission to the European Parliament, the European Council and the Council. Progress report on the Implementation of the European Agenda on Migration. Brussels, 16.5.2018. COM(2018) 301 final.
[6] S. dazu Ab in die Wüste.
[7] UN Migration Agency Helps Somali Migrants Return Home from Libya. iom.int 31.05.2018.
[8], [9] Communication from the Commission to the European Parliament, the European Council and the Council. Progress report on the Implementation of the European Agenda on Migration. Brussels, 16.5.2018. COM(2018) 301 final.
[10] S. auch Besetzen und Abschotten (I), Europas Wüstengrenze und Europäische Werte (II).