20. Februar 2018 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge und Migranten sind die wahren Revolutionäre unserer Zeit“ · Kategorien: Bulgarien, Lesetipps · Tags:

NZZ | 20.02.2018

Die Migrationswelle, die Ostmitteleuropa in einen Kampf um die Verteidigung der Normalität gestürzt hat, wird zum Signum unserer Zeit: Wer unter den «Verdammten dieser Welt» Veränderung will, macht keine Revolution, sondern begibt sich auf den Weg.

Ivan Krastev

Als Folge der Flüchtlingskrise bewegen sich die europäischen Gesellschaften in dramatischer Weise politisch nach rechts. Sie sind hin- und hergerissen zwischen zwei Ängsten: einerseits der Angst vor einer «Invasion der Barbaren», welche die ethnische Zusammensetzung ihrer Gesellschaften drastisch verändern wird, und anderseits der Angst vor einer Übernahme der Arbeit durch Roboter. Zum Albtraum eines langsamen demografischen Aussterbens gesellt sich die Vision eines technologischen Verschwindens – es ist das Bild einer Welt, in der es für uns irgendwann keine Jobs mehr gibt.

Während in ganz Europa der Konservatismus Zulauf findet, ist das, was wir in Ostmitteleuropa beobachten, dramatischer als eine einfache Verschiebung politischer Präferenzen. Wir stehen einer Art moralischer Panik gegenüber. Die Mehrheit der Ostmitteleuropäer hat plötzlich entdeckt, dass sie in einer Welt lebt, die sie nicht mehr versteht. Die Menschen befürchten, dass, wenn sie jetzt nicht etwas Dramatisches unternehmen, die Welt, wie sie sie kennen, für immer verschwinden wird.

Unbewachte Grenzen

Diese kulturelle Unsicherheit hat zu Momenten kollektiven Wahnsinns geführt. Unlängst wurde mein Heimatland Bulgarien, das zurzeit die EU-Rats-Präsidentschaft innehat, durch eine surreale Debatte darüber zerrissen, ob das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die Istanbul-Konvention, ratifiziert werden soll.

Vor einigen Jahren hätten die Bulgaren kaum Notiz davon genommen, dass das Parlament eine weitere Konvention des Europarates zur Verteidigung der Menschenrechte billigen soll. Heute dagegen fürchten viele, dass der eigentliche Zweck der Konvention darin besteht, der gleichgeschlechtlichen Ehe Tür und Tor zu öffnen. Die Argumente der Regierung, Gewalt gegen Frauen zu kriminalisieren, habe nichts mit gleichgeschlechtlicher Ehe zu tun, werden einfach ignoriert.

Die Bulgaren sind misstrauisch gegenüber allem, was von Machthabern kommt, und traumatisiert, in einer Welt steten Wandels und ständiger Ungewissheit leben zu müssen. Sie sind davon überzeugt oder haben sich überzeugen lassen, dass jeder weitere Schritt in Richtung ethnischer oder sexueller Toleranz ihnen die Hölle auf Erden bescheren wird. Ihrer Ansicht nach steht nicht weniger als die Integrität der natürlichen Ordnung der Dinge auf dem Spiel. Nicht nur die Grenzen zwischen den Staaten stehen weit offen, auch die Grenze zwischen Natur und Kultur bleibt unbewacht.

Die im Gang befindliche Gegenrevolution begreift sich als Kampf zur Verteidigung der Normalität. Das Paradoxe daran ist, dass die liberale Revolution von 1989 sich selber auch als Revolution verstand, die Normalität schaffen würde. Die Migrationswelle, die in Ostmitteleuropa einen Backlash auslöste, ist in vielerlei Hinsicht der Zwilling der «samtenen Revolutionen» von 1989. Im Rückblick erkennen wir, dass die damaligen osteuropäischen Revolutionen die ersten Revolutionen waren, in denen Migration wichtig war.

Revolution – eine Bewegung im Raum

«Osteuropa hat 1989 keine einzige neue Idee hervorgebracht», bemerkte François Furet, der bekannte Historiker der Französischen Revolution, einmal. Und er hatte vollkommen recht: 1989 träumten die Ostmitteleuropäer nicht von einer perfekten Welt, die es nie geben wird. Sie träumten von «einem normalen Leben» in «einem normalen Land». Wenn es in Ostmitteleuropa von links bis rechts eine gemeinsame Utopie gab, dann war es die Utopie der Normalität. Experimente waren verboten. Revolution war nicht mehr ein Sprung in der Zeit, sondern eine Bewegung im Raum.

Das Gespenst der Migration, das Europa heute heimsucht, bedeutet einfach, dass die Revolution der Normalität global geworden ist. Die Globalisierung hat die Welt zu einem Dorf gemacht, aber dieses Dorf lebt in einer Art Diktatur – der Diktatur globaler Vergleiche. Die Menschen vergleichen heutzutage ihr Leben selten mehr mit dem Leben ihrer Nachbarn; sie vergleichen sich mit den wohlhabendsten Bewohnern des Planeten. Raymond Aron hatte recht, als er vor fünf Jahrzehnten beobachtete, dass «mit der Menschheit auf dem Weg zur Einheitlichkeit die Ungleichheit zwischen den Menschen jene Bedeutung annimmt, die einst die Ungleichheit zwischen den Klassen hatte». Wer also will, dass seine Kinder ein wirtschaftlich stabiles Dasein geniessen, tut am besten daran, sicherzustellen, dass diese in Deutschland, Schweden oder Dänemark geboren werden.

n unserer vernetzten, aber ungleichen Welt stellt Migration die neue Revolution dar – nicht als eine Revolution der Massen wie im 20. Jahrhundert, sondern als eine vom Wunsch wegzugehen getriebene Revolution des 21. Jahrhunderts, die von Einzelpersonen und Familien getragen wird. Diese Revolution ist nicht von ideologisch überhöhten Bildern einer strahlenden Zukunft, sondern von Fotos des Lebens auf der anderen Seite der Grenze inspiriert.

Migranten sind kaum «die virtuelle Vorhut gigantischer Massen», wie sie radikale Theoretiker von Schlag Alain Badious bezeichnet haben, sondern eher einsame Revolutionäre. Sie schreiben keine Manifeste – seien sie kommunistisch oder nicht. Um erfolgreich zu sein, bedarf diese neue Revolution keiner kohärenten Ideologie, keiner politischen Überzeugung und keiner Führung. Die einfache Überquerung der Grenze in die Europäischen Union ist attraktiver als jede Utopie. Für viele der heutigen «Verdammten dieser Erde» bedeutet Veränderung, die eigene Heimat zu verändern, indem man sie verlässt, und nicht die politischen Verhältnisse zu ändern, indem man bleibt.

So haben die zeitgeistige Rede vom «Ende der Geschichte» und die Utopie der Normalität die Politik radikal verändert. Es ist kein Zufall, dass die Revolutionen des 21. Jahrhunderts nicht mehr die Namen einer Ideologie tragen. Sie sind jetzt nach Firmen benannt: «Facebook Revolution», «Twitter Revolution». In diesem Sinne könnte Migration als «Google Maps Revolution» bezeichnet werden. Migranten wollen die Welt aber nicht mehr verändern, sondern in ihr für sich den besten Platz finden.

Wie uns die Geschichte lehrt, tendieren Revolutionen dazu, ihre Kinder zu verschlingen. Ebendies ist mit den Ostmitteleuropäern in dem Moment geschehen, da die Revolution der Normalität global wirksam wurde.

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