30. Oktober 2017 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge in Libyen: In der Sackgasse, ohne Hoffnung“ · Kategorien: Afrika, Libyen · Tags:

Spiegel Online | 30.10.2017

Europa schottet sich ab – die Flüchtlingszahlen sinken. Doch was dieser scheinbare Erfolg bedeutet, zeigt ein Besuch in Libyen: Dort sitzen Flüchtlinge in Gefangenenlagern fest.

Aus Tripoli berichtet Francesco Semprini, „La Stampa“

In Libyen tobt eine humanitäre Katastrophe. Da ist Abu Salim keineswegs das Schlimmste, das einem Flüchtling passieren kann.

Es ist eines der wenigen Gefangenenlager in Libyen, die Journalisten gefahrlos besuchen können. Während andere Zentren im Land zum Inbegriff für Zwangsarbeit, Schlägereien, Folter und Vergewaltigung geworden sind, bietet Abu Salim so etwas wie eine Atempause für diejenigen, die wochen-, wenn nicht monatelang unterwegs waren. Es gibt eine Krankenstation, eine Küche, Schlafräume und Matratzen, Orte für Gebete.

Was es nicht gibt, ist Hoffnung. Für die etwa 150 Flüchtlinge, die hier festsitzen – aus Mali, Niger, Nigeria, der Elfenbeinküste, Burkina Faso, Gambia, Guinea, dem Senegal – ist Abu Salim das Ende des Wegs. Oder zumindest der Wendepunkt. Näher kommen sie an Europa nicht heran. Der nächste, letzte Schritt ihrer Reise wird der Rückweg nach Hause sein.

Libyen ist vom Nadelöhr zur Sackgasse geworden, seit die EU in diesem Jahr die Bemühungen intensiviert hat, afrikanische Migranten von der Reise Richtung Norden abzuhalten. Viele Schmugglergruppen arbeiten inzwischen für die Behörden.

Ali, ein 24 Jahre alter Nigerianer, der hier seit Wochen festgehalten wird, hat sich damit abgefunden, nach Hause zu gehen. Seine Geschichte klingt vertraut – eines von Tausenden ähnlichen Schicksalen – aber das macht sie nicht weniger bedrückend.

„Es gab eine Menge Arbeit zu Hause, aber wir waren arm. Meine Mutter ist gestorben, und ich wollte nach Italien oder Europa gehen, um eine bessere Zukunft für meinen Vater und meine Brüder sicherzustellen“, sagt er im Innenhof von Abu Salim.

Mit Bruder Mokhtar war er zuerst nach Agadez in Niger gereist, das westafrikanische Zentrum für heimliche Migration und Schleusertum. Sie haben jeweils 300 Euro bezahlt, um Wüsten und Berge in Gruppen zu durchqueren, ein beschwerlicher Weg in Richtung eines ungewissen Ziels. Nach einem schier endlosen Aufenthalt in Misrata bezahlten sie weitere 300 Euro für eine Koje in einem Schlauchboot chinesischer Herstellung. In Garabuli, östlich von Tripoli, sollte es losgehen.

Zu der Bootsfahrt kam es nie. Noch bevor sie an Bord gehen konnten, wurden die Männer von lokalen Milizen festgenommen und nach Abu Salim gebracht. Hier bleiben Migranten zwischen zwei und drei Monate, bevor sie in ihr Heimatland zurückgebracht werden. Manchmal verzögern sich Abschiebungen, weil es keine diplomatischen Vertreter ihrer Heimatländer auf libyschem Boden gibt.

Das ist also das harte Vorgehen gegen Migranten in der Realität. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) schätzt, dass es etwa 30 von der Regierung geführte Gefangenenlager in Libyen gibt. Nicht eingerechnet sind die heimlichen Einrichtungen, die Schleuser und Milizen betreiben.

„Generell sind die Bedingungen in diesen Gefangenenlagern wirklich schlimm“, sagt Roberto Mignone, Leiter des UNHCR in Libyen. „Im besten Fall funktionieren sie mehr oder weniger, aber es gibt dort Menschenrechtsverletzungen und sexuelle Übergriffe.“

Das UNHCR hilft Menschen aus den Gefangenenlagern und in Einrichtungen, die es selbst zu führen versucht. Dabei macht die Sicherheitslage eine Arbeit der Helfer vor Ort zu riskant. Mignone und sein Personal sitzen im benachbarten Tunesien, in Libyen beschäftigen sie lediglich einige Einheimische.

„Die Situation ist sehr angespannt, und es frustriert, keinen freien Zugang zu allen Bedürftigen zu haben. Wir haben keinen Überblick über die Gefangenenlager oder Gefängnisse der Milizen und Schmuggler“, so Mignone weiter. Seit Diktator Gaddafi im Jahr 2011 getötet wurde, hat Libyen sowohl als Magnet als auch als Trichter für Migranten funktioniert, die ein neues Leben in Europa anfangen wollen.

Das neue Motto: Aufbauen statt aufbrechen

Nach rekordverdächtigen Zahlen von Ankömmlingen in Italien im Jahr 2016 und beispiellosen Zahlen von Todesopfern im Mittelmeer innerhalb der letzten zwei Jahre hat die EU neue Entschlossenheit signalisiert, das Migrationsproblem näher am Ursprung anzugehen – mit einer Serie von Abkommen mit Libyen in diesem Jahr.

Diese Strategie gilt nicht nur für die Küstengebiete, sondern auch für den schwer zu kontrollierenden Süden des Landes – wo mehr als 2500 Kilometer Wüstengrenze zu Algerien, dem Tschad, Niger und dem Sudan reichlich Kanäle in Richtung Norden bieten.

„Mit dem Projekt, das wir gerade zusammen mit Italien vorantreiben, wollen wir die Entwicklung und das Wachstum Südlibyens stärken – und damit auch die Chancen im Kampf gegen illegale Immigration“, sagt Ahmed Maetig, Vizepräsident des libyschen Präsidialrats. Aufbauen statt aufbrechen – so das Motto. Zunächst sollen die Grenzen mit neuer Technologie und mehr Personal gesichert werden, gefolgt von sozialen Initiativen und der Entwicklung örtlicher Universitäten in Koordination mit europäischen Unis. Zusätzlich fließt Geld in neue Arbeitsplätze, gerade für die Jugend, in Infrastruktur und Elektrizität.

Weiter geht es nur noch mit Bestechung

Weiter im Norden liegt der Schwerpunkt auf der Überwachung der Küstenlinie – teils durch eine neue italienische Mission, die die libysche Küstenwache unterstützt. Teils aber auch durch eine Abmachung „unter dem Radar“ zwischen Italien und jenen Gruppen, die den illegalen Handel kontrollieren.

Migranten wie Ali und Mokhtar werden eingesammelt, bevor sie überhaupt losgefahren sind. Diese Kooperation mit den Behörden lassen sich die Kriminellen gut bezahlen. Wer geschnappt wird, landet in einem der Lager. Wer raus will, muss es mit Bestechung versuchen. Auch hier, das räumen Behörden und UNHCR ein, gibt es viele Grauzonen und wenig Kontrolle.

Will Ali, der noch immer in Abu Salim sitzt, diesen Weg auch gehen? „Nein, auf keinen Fall. Tatsächlich möchte ich Italien und all diejenigen, die uns helfen wollen, bitten, uns zu helfen – aber dabei, ein besseres Leben in unserem Land zu führen, mit unseren Familien und unseren Leuten.“

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