25. Oktober 2017 · Kommentare deaktiviert für Calais: „Wo schön und beschissen so eng beieinander lagen“ · Kategorien: Frankreich, Schengen Migration · Tags: ,

nd | 23.10.2017

Ein Jahr nach der Räumung des wilden Flüchtlingslagers leben Geflüchtete unter noch widrigeren Umständen. Ein Erfahrungsbericht

Von Lucca Jordan

Jetzt bin ich schon elf Tage hier. Hier, das heißt wieder in Calais. Wieder im Warehouse. Aber nicht im »Dschungel«, denn den gibt es nicht mehr. Von der kleinen, lebendigen Stadt von früher voller Wut, Elend, Trauer, aber auch Solidarität und Hoffnung, ist ein Jahr nach der Räumung nichts übrig geblieben.

Als wir das erste Mal dort vorbeifuhren, kamen mir die Tränen. Auf eine sehr merkwürdige Art und Weise vermisse ich diesen Ort. Das wird auf den ersten Blick für andere Menschen genauso seltsam klingen wie für mich selbst. Deshalb könnte ich versuchen, seitenlang zu erklären, was mich an diesem Ort – an dem Guten und Schlechten, Schönen und Beschissenen, das so eng beieinander lag – so sehr fasziniert hat. Aber wirklich verstehen kann das nur, wer den Dschungel selbst erlebt hat.

Nichts außer Hoffnung

Zum besseren Verständnis kann man die heutige Situation betrachten: Der Dschungel ist weg, doch die Menschen sind es nicht. In Calais und Umgebung leben 1000 bis 1200 Menschen, die immer noch die Hoffnung haben nach England zu gelangen. Sonst haben sie Nichts, geschweige denn Hab und Gut. Nichts, außer dem, das sie am Körper tragen. Und selbst das wird ihnen in regelmäßigen Abständen von der Polizei genommen.

Man muss sich das einmal vorstellen: In einem der reichsten Länder Europas schlafen über 1000 Menschen im Winter, an der Küste zum Ärmelkanal, jede Nacht unter freiem Himmel. Ohne Heizung, ohne Hütte, ohne Zelt. Und die Rolle der Polizei vor Ort? Über 70 Prozent der Menschen berichten, dass die Polizei in der letzten Woche (sic!) ihre Decken und/oder Schlafsäcke konfisziert oder zerstört hat – durchschnittlich passiert das den Menschen drei Mal pro Woche. Es passiert bei einstelligen Temperaturen.

Geräumt, nicht geholfen

An diesem 24. Oktober jährt sich nun also die Räumung des Dschungels zum ersten Mal. Doch warum lagern schon wieder so viele Menschen in Calais? Erneut an diesem Ort, aufgerieben zwischen Schmugglern und der gewalttätigen Polizeieinheiten der CRS. Es hat vor allem zwei Gründe:

Erstens ist Calais nun einmal DER Ausgangspunkt, um vom Festland nach England überzusetzen – egal ob für Touristen, Lkw oder eben Migrant*innen. Das wird vermutlich auch immer so bleiben. Und wenn nicht, dann wird es eben einen anderen solchen Punkt geben. Das Problem mit der Räumung des Dschungels lösen zu wollen, war genauso kurzsichtig gedacht wie abgrundtief widerlich durchgeführt.

Zweitens durfte der Dschungel nur unter der Bedingung geräumt werden, dass die französische Regierung für alle vertriebenen Menschen einen Platz in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes zur Verfügung stellen würde. Die Zahl der benötigten Plätze beruhte zwar auf staatlichen Schätzungen (man könnte es auch Fantasie nennen) und lag mit 4000 Menschen nicht einmal bei der Hälfte der benötigten Plätze, dies konnten die örtlichen Hilfsorganisationen jedoch vor Gericht korrigieren lassen. Den Minderjährigen mit Familienangehörigen in England wurde sogar versprochen, dass, man sie nach Großbritannien bringen würde. Das entsprechende Gesetz – genannt Dubs Amendment – gibt es bereits seit 2016. Viele der Minderjährigen kehrten jedoch aus einem einfachen Grund zurück: Das britische »Home Office« lehnte sie einfach ab. Somit bleibt der einzige Weg, nach England zu kommen, doch wieder die Ladefläche oder die Achse eines Lkw. Von den 480 Plätzen, die laut britischer Regierung zur Verfügung stehen, sind gerade einmal knapp 200 vergeben.

Außerdem kommt es für viele Menschen einfach nicht in Frage, in Frankreich Asyl zu beantragen. Wie denn auch? Alles was diese Menschen in Frankreich erlebt haben, sind Gewalt und Elend. Der französische Staat tut offensichtlich nichts – zumindest nichts, zu dem er nicht gezwungen wurde – um den Menschen zu helfen. Im Gegenteil, er blockiert nach Kräften alle Hilfe. Von der Polizei (natürlicherweise nun einmal DIE Vertretung eines Staates) erfahren die Menschen nur Gewalt und Schikane, meist schon an der französisch-italienischen Grenze, spätestens jedoch hier in Calais. Diese Zweifaltigkeit aus Verzweiflung (Frankreich) und Hoffnung (England) treibt die Menschen wieder nach Calais.

Aus einem wurden viele Camps

Anstatt eines großen Camps existieren jetzt mehrere »kleine«. Das größte ist nur circa 500 Meter vom alten Dschungel entfernt. Hier leben etwa 700 Menschen in einem kleinen Waldstück im Industriegebiet. Für die Menschen hat sich die Situation seit der Räumung nur verschlimmert, ganz im Sinne der Regionalregierung von Calais und mit Sicherheit auch im Sinne der Regierung in Paris. Der Dschungel war für die Menschen gleichzeitig Lebens- und Schutzraum vor der gewalttätigen Polizei und/oder den Angriffen örtlicher Faschist*innen (in vielen Fällen gehen diese Gruppen in Calais fließend ineinander über).

Im Dschungel gab es Restaurants, Schulen, Büchereien, Sprachkurse, Theater, religiöse Stätten etc. All das ist verschwunden. Selbst Trinkwasserverteilungspunkte, Duschen, Toiletten und das Recht, länger als zwei Stunden am Tag Lebensmittel und andere Dinge zu verteilen. Bei Nacht sind alle Menschen in Calais, die keinen europäischen Pass besitzen (und manchmal selbst mit europäischem Pass), der Polizei schutzlos ausgeliefert. Wer Genaueres über die Polizeigewalt nachlesen möchte, dem sei dieser Bericht von Human Rights Watch ans Herz gelegt. Mittlerweile fahren die Hilfsorganisationen so oft es geht nachts Patrouille, um den Menschen durch ihre bloße Anwesenheit ein Minimum an Schutz zu bieten. Meistens zügelt sich die Polizei nämlich recht schnell, wenn jemand mit europäischem Pass vor Ort ist oder gar das Handy zückt.

Weniger mediale Aufmerksamkeit, weniger Helfer

Seit der Dschungel und Calais aus den Medien und damit auch aus der Wahrnehmung der Menschen verschwunden sind, ist die Zahl der freiwilligen Helfer auf nicht einmal die Hälfte zusammengeschrumpft. Waren es früher über 100 Volunteers, die sich über längere Zeit in Calais aufhielten, sind es heute noch knapp über 50. Bei den Menschen, die nur einige Tage nach Calais kommen, ist der Rückgang sogar noch drastischer. Waren es früher jeden Tag an die 100 Menschen, so sind es heute manchmal nur noch fünf, an Wochenenden vielleicht mal 30 Menschen.

Mit den Spenden verhält es sich ähnlich. Die Refugee Community Kitchen (RCK), die jeden Tag circa 2000 warme Mahlzeiten kocht, hat etwa nur noch genug Geld für einen Monat. Wie es danach weitergehen soll? Vielleicht hat der Jahrestag der Räumung ja doch etwas Gutes und Calais kehrt zumindest für ein paar Stunden zurück in das Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit. Vielleicht kommen sogar genügend Spenden zusammen, um die kalten Wintermonate zu überstehen. Aufgeben ist hier in Calais sowieso nie eine Option. Doch das sagt sich leicht, wenn man im Warmen sitzt und der kalte Regen nur gegen die Fensterscheibe prasselt…

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taz | 24.10.2017

„Dschungel“ bei Calais: Eine zweite Reihe mit Türstehern

Vor einem Jahr wurde das Camp plattgemacht. Die Menschen kommen trotzdem. Doch die EU mauert mit massiven Abwehrmaßnahmen.

Tobias Müller

Vor einem Jahr wurde das „Dschungel“ genannte inoffizielle Flüchtlingscamp bei Calais an Frankreichs Ärmelkanalküste geräumt. Eine seiner größten Bewohnergruppen waren Eritreer, die seit Jahren zahlreich am Kanal vertreten sind, um von dort nach Großbritannien zu gelangen. Doch die Frage der Transitmigranten in der Hafenstadt ist mit der Rodung des „Dschungels“ keinesfalls gelöst. Seit Jahresbeginn nehmen ihre Zahlen wieder zu. Aktuell sind rund 800 vor Ort. Noch immer kommt ein erheblicher Teil aus Eritrea, und noch immer befinden sich darunter viele Minderjährige.

Orte wie Calais belegen für zahlreiche Migrationspolitiker der EU Handlungsbedarf. Und natürlich die Häfen Südita­liens, vor allem Siziliens, wo afrikanische Flüchtlinge in den letzten Jahren in immer größerer Zahl ankamen. Laut UNHCR waren darunter allein im Jahr 2015 40.000 Eritreer. Mit den Versuchen zur Schließung der Mittelmeerroute hat diese Zahl etwas abgenommen. Unverändert dagegen verlassen nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR monatlich nach wie vor 5.800 Eritreer das fünf Millionen Einwohner zählende, diktatorisch regierte Land am Roten Meer, wo nach Angaben von Sheila B. Keetharuth, UN-Sonderbeauftragte zur Menschenrechtslage in Eritrea, willkürliche Verhaftungen ohne Gerichtsverfahren, unbegrenzte Haft unter miserablen Bedingungen und außergerichtliche Hinrichtungen an der Tagesordnung bleiben. „Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattfinden“, sagte sie vorige Woche bei einer hochkarätig besetzten Konferenz zur Situation eritreischer Geflüchteter in Europa.

Zentraler Punkt, der die Menschen in die Flucht treibt, bleibt demnach der berüchtigte unbegrenzte Militärdienst in Eritrea. Filmon Debru, ein inzwischen in Deutschland lebender Geflüchteter, nennt ihn eine „Ausrede, die Bevölkerung zu versklaven“. Gaim Kibreab, Professor der London South Bank University und Buchautor zum Thema, betont: „Ein Kommandeur hat sämtliche Macht, mit den Rekruten zu machen, was er will.“

Die Zahl der Auswanderer aus Eritrea bleibt konstant – aber die Zahl derer, die Europa erreichen, sinkt. Grund dafür ist der sogenannte Khartum-Prozess, benannt nach Sudans Hauptstadt, wo er beschlossen wurde: ein Abkommen zwischen 58 europäischen und afrikanischen Staaten, darunter Eritrea, initiiert vor knapp drei Jahren in Rom, um „irreguläre Migration“ aus den Krisenländern am Horn von Afrika zu begrenzen. Der damalige deutsche Innenminister Thomas de Maizière sagte, man wolle Fluchtursachen bekämpfen und illegale Migration durch Transitländer nicht stattfinden lassen.

Regimequellen als Berichterstatter

Wie wichtig Eritrea in diesem Konzept ist, belegen die hohen Anerkennungsquoten für von dort Geflüchtete. 2016 lag sie in Europa bei durchschnittlich 92 Prozent, in Ländern wie Deutschland (97,6 Prozent) oder Norwegen (98 Prozent) deutlich höher. Umstritten ist in diesem Zusammenhang eine fact finding mission des schweizerischen Staatssekretariats für Migration nach Eritrea 2015. In ihren Bericht flossen neben Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen und ausländischen Diplomaten in der eritreischen Hauptstadt Asmara auch Regimequellen ein, obwohl das eritreische Regime international geächtet ist.

Teilnehmer der Brüsseler Konferenz befürchten, entsprechende Länderberichte könnten von der EU als Basis einer repressiven Asylpraxis herangezogen werden. Anzeichen dafür sind deutlich: So basierte der Eritrea-Report des European Asylum Support Office (EASO) 2016 auf dem Schweizer Dokument. „Ein sehr drastischer neuer Ansatz“, kommentiert der Anwalt Daniel Mekonnen, Mitglied der in Genf ansässigen Eritrean Law Society.

Bernd Mesovic, rechtspolitischer Sprecher von Pro Asyl, kritisiert den Khartum-Prozess als Versuch, die Flüchtlingsabwehr aus Nordafrika noch weiter nach Süden zu verlagern und „hinter der ersten Reihe Türsteher eine zweite zu errichten“.

Welche Dimension das annimmt, zeigt sich zurzeit in Brüssel. Seit Wochen schlafen dort Transitmigranten, die nach England wollen, wild in einem Park am Nordbahnhof. Ende September wurden 43 Personen, die bei einer Razzia festgenommen worden waren, in Zusammenarbeit mit einer Delegation der Regierung Sudans als Sudanesen identifiziert und in Abschiebehaft genommen. Nach heftigen Protesten von Menschenrechtsgruppen hat ein Gericht in Lüttich die Abschiebungen ausgesetzt.

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