11. August 2017 · Kommentare deaktiviert für „Mittelmeerroute in Bewegung“ · Kategorien: Libyen, Mittelmeer, Mittelmeerroute · Tags: ,

Zeit Online | 11.08.2017

Im Juli sind weniger Migranten in Italien angekommen als in den Monaten zuvor. Bedeutet das, dass der Weg übers Mittelmeer für Flüchtlinge langsam versperrt wird?

Von Veronika Völlinger

Plötzlich gibt es zwei unerwartete Zahlen: Im Juli sind weniger Migranten über das Mittelmeer in Italien angekommen als in den Monaten zuvor: 11.000 Menschen im Juli, im Juni waren es noch rund 24.000, auch im Juni und Juli 2016. Und der Rückgang scheint sich in der ersten Augustwoche dieses Jahres fortzusetzen. Könnte das ein Hinweis darauf sein, dass Flüchtlingen die Route über das Mittelmeer zunehmend versperrt wird?

Für Italien wäre das eine gute Nachricht, denn das Land ist mit den Ankommenden überfordert. Bis Anfang August kamen laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in diesem Jahr rund 96.000 Menschen, nur geringfügig weniger als 2016. Italien fordert seit Langem mehr Unterstützung von der EU, im Juli drohte die italienische Regierung, die Verlängerung der Antischleuser-Operation der EU im Mittelmeer zu blockieren, wenn es nicht mehr Solidarität gebe.

Dass in den vergangenen Wochen weniger Menschen in Italien angekommen sind, bezeichnet Flavio Di Giacomo von der IOM als unerwartet, aber nicht überraschend. Erst am Ende dieses Jahres ließe sich sicher sagen, wie sich die Migrationsbewegung im Vergleich zu den vergangenen Rekordjahren entwickelt habe, sagt er.

Es gebe viele Faktoren, die die Situation im Mittelmeer beeinflussten, sagt Di Giacomo, aber: „Die europäische und italienische Politik haben nicht zum Rückgang der Ankünfte im Juli beigetragen.“ Ein wichtiger Faktor sei hingegen Libyen. „Die Situation in Libyen kann sich jede Woche ändern, alles kann passieren“, sagt Di Giacomo. Libyen gilt seit dem Fall von Muammar al-Gaddafi als gescheiterter Staat: Zwei Regierungen kämpfen um die Macht, es gibt rivalisierende Milizen und ein weit verzweigtes Schleusernetzwerk, das davon profitiert, dass im Land Chaos und Gewalt herrschen.

In letzter Zeit, so haben es Migranten der IOM berichtet, gebe es eine Zunahme von Kämpfen zwischen einzelnen Milizen oder Schleusergruppen, sagt Di Giacomo. Fast täglich verschiebe sich, wer wo das Sagen habe. So könnten zum Beispiel Kontrollposten, an denen Migranten vorbeigeschmuggelt werden müssten, plötzlich in anderen Händen sein, was die Schleuser dazu zwinge, zu warten oder ihre Strategien zu ändern. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex bestätigt diese Berichte über Veränderungen in Libyen.

Der Schmuggel verlagert sich

Als Folge suchten sich die Schleuser manchmal für eine Weile andere Geschäftsfelder. Passiert sei das zum Beispiel in der libyschen Küstenstadt Zuwara, knapp 120 Kilometer westlich von Tripolis, sagt Mattia Toaldo, der für den European Council on Foreign Relations (ECFR) über Migration und Nordafrika forscht. Hier würden seit Kurzem nicht nur Menschen geschmuggelt, sondern auch Öl. Ein typisches Verhalten von Kriminellen, sagt Toaldo: „Sie tendieren dazu, die Bereiche zu meiden, die im Licht der Öffentlichkeit stehen, und wenden sich denen zu, die weniger sichtbar und trotzdem profitabel sind.“ Das kann dazu führen, dass zeitweise weniger Menschen in Boote nach Italien steigen.

Außerdem beeinflusst das Verhalten der libyschen Küstenwache den Handlungsspielraum der Schleuser. Die Küstenwache bringt neuerdings mehr Menschen, die das Land über das Meer verlassen wollen, wieder zurück. Waren es im Juli noch weniger als 800 Migranten, so brachte die Küstenwache laut IOM rund um das vergangene Wochenende mehr als 1.000 Migranten wieder an Land. Das zerstört nach Einschätzung des Migrationsforschers Toaldo einigen Schleusern ihr Geschäftsmodell: In einigen Hafenstädten kontrollierten Gangs die libysche Küstenwache. „Beobachtern fällt auf, dass die libysche Küstenwache in einigen Häfen die Boote jener Migranten blockiert, die die ‚falschen‘ Schmuggler bezahlt haben, während sie die Boote ihrer Verbündeten durchwinke“, sagt er.

„Legale Einwanderungswege müssen geöffnet werden“

Was die libysche Küstenwache tut, stellt Italien und ganz Europa vor ein humanitäres Dilemma. Mit Billigung der EU hat Italien in der vergangenen Woche einen Einsatz seiner Marine beschlossen, der die Küstenwache in libyschen Gewässern bei der Bekämpfung von Menschenschmuggel unterstützen soll. Die Regierung in Rom erhofft sich davon auch eine Kontrolle der Flüchtlingsbewegungen. Die EU bildet die Küstenwache schon seit Mitte 2016 aus. „Migranten werden mit europäischer Unterstützung in ein Land zurückgebracht, in dem sie definitiv nicht sicher sind“, kritisiert Migrationsforscher Toaldo.

Deutsche Diplomaten haben die Zustände für die Migranten in Libyen als „KZ-ähnlich“ bezeichnet. Di Giacomo von der IOM sagt: „Die Migranten zurückzuschicken ist keine Lösung, sie landen wieder im gleichen Kreislauf der Gewalt.“ Auch wenn die libysche Küstenwache nun illegale Migration bekämpft, wie Italien das wollte, gibt es auch innerhalb der italienischen Regierung Widerstand: Der italienische Vizeaußenminister Mario Giro kritisierte, Bootsflüchtlinge nach Libyen zurückzuführen, heiße, „sie in die Hölle zurückzubringen“, sagte Giro am Sonntag.

Anstieg im westlichen Mittelmeer

Libyen bekommt seit Ende Juli von der EU weitere 46 Millionen Euro für seine Küstenwache und den Grenzschutz. Im Südwesten Libyens, mehr als 1.000 Kilometer von der Küste entfernt, sollen im Bezirk Ghat Grenzanlagen zu Algerien aufgebaut werden. Die EU kooperiert darüber hinaus südlich der Sahara mit immer mehr Staaten, um die Migration zu kontrollieren. In ihren Fortschrittsberichten verzeichnet die EU-Kommission regelmäßig, dass sich aus dem Transitland Niger, das die EU beim Grenzschutz unterstützt, weniger Menschen Richtung Libyen und Europa aufmachen. Projekte wie diese sollen dafür sorgen, dass es Nachrichten wie die von den sinkenden Ankunftszahlen in Italien auch zukünftig gibt.

Die Zahl der Ankünfte mag in Italien im Juli um mehr als die Hälfte zurückgegangen sein, doch IOM und Frontex beobachten, dass sich die Routen verlagern: Etwa 8.200 Migranten sind bis Anfang August über die westliche Mittelmeerroute in Spanien gelandet, meist von Marokko aus. Es sind kleinere Boote, oft mit 30 bis 50 Flüchtlingen an Bord, so wie in dem Schlauchboot, das jüngst an einem Strand in Andalusien ankam. 2016 waren es im gleichen Zeitraum nur 2.500 Menschen. Es sei noch zu früh, dafür eine eindeutige Erklärung zu finden, sagt IOM-Mitarbeiter Di Giacomo, aber auch das könnte mit der Situation in Libyen zusammenhängen: „Wer informiert ist, wählt eine andere Route.“

 

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