10. August 2017 · Kommentare deaktiviert für „Der Westen beginnt im Osten der EU“ · Kategorien: Europa, Schengen Migration, Social Mix, Ukraine · Tags: ,

Telepolis | 10.08.2017

Ukrainische Arbeitsmigranten spielen inzwischen eine wichtige Rolle auf dem polnischen Arbeitsmarkt. Beginnt eine neue Westwanderung?
Tomasz Konicz

Let’s go west! Seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union 2004 haben – die Schätzungen hierüber gehen weit auseinander – zwischen 1,5 und 2,3 Millionen polnischer Arbeitsmigranten ihr Land auf Arbeitssuche gen Westen verlassen.

Diese enorme Westwanderung, die in einer ersten Phase vor allem Großbritannien, Irland, die Niederlande und die skandinavischen Länder mit einem Millionenheer billiger Arbeitskräfte versorgte, hat entscheidend zur Reduzierung des extremen Pauperismus in Polen beigetragen – einem Land, das vor dem Beitritt zur EU unter einer Arbeitslosenquote von bis zu 20 Prozent litt.

Dieser gigantische Migrationsstrom, der rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung Polens erfasste, ist weiterhin nicht versiegt. Immer noch fahren polnische Arbeitskräfte nach Westeuropa, jetzt verstärkt in den deutschsprachigen Raum, um dem niedrigen Lohnniveau östlich der Oder zu entfliehen. Zu den rund zwei Millionen Polen, die bereits dauerhaft im Ausland leben, kommen hunderttausende Arbeitskräfte, die weiterhin mit dem Gedanken an eine dauerhafte Auswanderung spielen.

Laut Umfragen, die von der deutsch-polnischen Handelskammer referiert wurden, nimmt dieser Migrationsdruck aber rasch ab: Spielten im Vorjahr noch 19 Prozent aller Arbeitskräfte mit dem Gedanken der Auswanderung, seien es in diesem Jahr nur noch 13,7 Prozent. Vor allem Lohnabhängige abseits der boomenden Metropolen mit einem niedrigen Nettoeinkommen von weniger als 2000 Zloty (470 Euro) seien weiterhin bereit, auszuwandern oder saisonale Arbeitsgelegenheiten im Westen wahrzunehmen.

Diese polnischen Arbeitsmigranten können aber heutzutage auf den Bahnhöfen, in denen sie Züge gen Westen besteigen, durchaus ihren Leidensgenossen aus dem Osten begegnen, die in Polen auf Arbeitssuche ankommen, um den Folgen von Wirtschaftszerfall und Bürgerkrieg zu entfliehen. Seit dem westlich gesponserten Umsturz in der Ukraine ist die Zahl der ukrainischen Wanderarbeiter und Tagelöhner in Polen, wo Ukrainer zeitlich beschränkte Arbeitsvisa erhalten können, stark angestiegen: Für rund eine Million ukrainischer Arbeitsmigranten beginnt somit der Westen im Osten der EU.

Dabei spiegelt die ukrainische Arbeitsmigration nach Polen gewissermaßen die polnische Auswanderung nach Westeuropa. Es sind vor allem schlecht bezahlte und unbeliebte Tätigkeiten, die nun Ukrainer in Polen verrichten – ähnlich den polnischen Arbeitsmigranten in Westeuropa. Hierzu zählen vor allem saisonale Arbeiten in der Landwirtschaft, wie Erdbeerpflücken oder Spargelstechen, sowie die körperlich zehrenden Tätigkeiten in der Bauwirtschaft.

Der sprichwörtliche polnische Klempner in Großbritannien – er habe nun eine ukrainische Entsprechung in Polen, erläuterte The Economist unter Verweis auf einen Unternehmer, der Ukrainer für diesen Job einstellt, da sie „nur die Hälfte kosten und sehr respektabel“ seien.

Schwarzmarkt für ukrainische Tagelöhner

Neben der legalen Arbeitsmigration gibt es inzwischen auch einen Schwarzmarkt für ukrainische Tagelöhner, der aufgrund der jüngsten europäisch-ukrainischen Regelungen zur Aufhebung der Visapflicht noch rasch anschwellen dürfte. Vor allem in diesem lax kontrollierten Schwarzmarkt häufen sich Berichte über extreme Ausbeutung, Drohungen und schlichten Betrug, den die rechtlosen Arbeitsmigranten ausgesetzt seien.

Die Dimensionen der Migrationswelle werden etwa am Beispiel des Arbeitsmarkts in der polnischen Stadt Kalisz offensichtlich: Arbeitete dort 2013 nur 527 ausländische Arbeitskräfte, so sind es nun 10.700 vornehmlich ukrainische Migranten. Hierbei handelt es sich nicht um Bürgerkriegsflüchtlinge (nur 16 ukrainische Staatsbürger haben diesen Status 2016 in Polen erhalten), sondern um Migranten aus dem Westen der Ukraine, die der extremen Armut in dieser sozioökonomischen Zusammenbruchregion zu entfliehen versuchen.

Einer Studie des polnischen statistischen Amtes zufolge kommen mehr als zwei Drittel aller ukrainischen Arbeitsmigranten aus dem Westen des Landes, der innerhalb der Ukraine die unterentwickelte Peripherie bildet. Rund die Hälfte dieser Migranten arbeitet als Tagelöhner, während der Rest längerfristigen Arbeitsverhältnissen nachgeht. Die meisten Ukrainer in Polen arbeiten auf dem Bau, gefolgt von der Landwirtschaft, dem Hotelgewerbe, den Haushaltsdienstleistungen und dem Einzelhandel. Ukrainische Migranten verdienen in der Großregion Warschau im Schnitt zwischen 650 (Bau) und 450 (Haushaltshilfen) Euro. Angesichts der zerrütteten Verhältnisse in der Ukraine ist dies ein Spitzenlohn.

Für Polens Unternehmerschaft stellen diese Wanderarbeiter einen wichtigen Hebel dar, mit dem ein weiterer Anstieg des immer noch sehr niedrigen Lohnniveaus hinausgezögert werden kann. Das Lohngefälle zwischen Polen mit dem Mindestlohn von rund 350 Euro und Westeuropa stellt immer noch den wichtigsten Konkurrenzvorteil des Landes dar, dass in unmittelbarer Nähe zum Exportweltmeister Deutschland jahrelang billige Arbeitskräfte anzubieten hatte – dies gilt auch für qualifizierte Arbeiten, die in Polen mit Löhnen von umgerechnet 800 bis 1000 Euro Brutto entlohnt werden.

Der Zufluss von billigen Arbeitskräften ermögliche es, den „Inflationsdruck“ in Polen zu vermindern, wie es ein Analyst gegenüber Bloomberg formulierte. Hierdurch könne der Leitzins über längere Zeit niedrig gehalten werden, was das Wirtschaftswachstum stimuliert würde. Das Lohnwachstum in Polen habe 2016 vier Prozent betragen – ohne die Migrationsbewegung aus der Ukraine wären die Löhne noch schneller angestiegen, warnte Bloomberg.

Zugleich gaben Unternehmensvertreter gegenüber Bloomberg zu bedenken, dass es nicht nur wirtschaftliche Erwägungen seien, die die polnische Migrationspolitik gegenüber der Ukraine prägen. Es sei vielmehr „eine Kombination aus nicht nur ökonomischen, sondern auch politischen Gründen, die zu der außergewöhnlichen Größe der ukrainischen Migration beigetragen haben“, wie es Jakub Binkowski, Migrationsexperte der polnischen Unternehmerunion gegenüber Bloomberg formulierte.

Mit der massenhaften Arbeitsmigration soll die Ukraine stärker an den Westen gebunden werde

Präziser formuliert: Die großzügige Vergabe von Arbeitsvisa an ukrainische Migranten durch Polen ist auch geopolitisch motiviert. Hierdurch wird die Abkopplung der Ukraine aus dem geopolitischen und auch ökonomischen Orbit der Russischen Föderation beschleunigt. Durch die weitgehende Kappung der traditionellen ökonomischen Verflechtungen zwischen Russland und der Ukraine nach dem prowestlichen Regierungsumsturz, die ja noch zu Sowjetzeiten ausgebildet worden waren, wurde die ukrainische Wirtschaftsmisere zusätzlich verschärft. Die rasch anschwellende Arbeitsmigration gen Westen wirkt dem nun als eine Art soziales Ventil entgegen.

Der nationalistische und sozioökonomisch weitgehend zusammengebrochene Westen der Ukraine, dessen faschistische Gruppierungen führend an dem Umsturz in Kiew beteiligt waren (Ukraine über alles), erhält so eine wirtschaftliche Lebensader. Die Rücküberweisungen der Arbeitsmigranten dürfen in der Westukraine inzwischen einen ähnlich großen sozioökonomischen Stellenwert einnehmen, wie es in Polen kurz nach dem EU-Beitritt der Fall war.

Arbeitsmigration in den europäischen Schwarzmarkt

Inzwischen mehren sich die Signale, dass diese Linie, mittels massenhafter Arbeitsmigration die Ukraine stärker an den Westen zu binden, auch von der EU übernommen wird. Die Abschaffung der Visapflicht für Ukrainer in der EU kann als ein erster Schritt in diese Richtung verstanden werden. Seit dem 11. Juni können sich ukrainische Staatsbürger visafrei in der EU, in der Schweiz, in Norwegen, in Liechtenstein und Island bewegen. Da Ukrainer in der EU weiterhin ein Arbeitsvisum brauchen, öffnet diese Regelung der illegalen Arbeitsmigration – als einer ersten Stufe der ukrainischen Westwanderung – Tür und Tor.

Polnische Unternehmerverbände befürchten bereits, dass der Zustrom billiger und williger Arbeitskräfte, der das niedrige Lohnniveau in Polen aufrechterhält, sich bald weiter nach Westen verlagern wird, wie The Economist ausführte:

Polnische Firmen sind nun besorgt, dass der Strom billiger Arbeit bald versiegen wird. Neue Regeln, die im Mai eingeführt worden sind, erlauben es Ukrainern, 90 Tage lang in die EU (aber nicht in Großbritannischen und Irland) ohne Visum zu reisen. Sie können nicht arbeiten, aber polnische Unternehmer sorgen sich, dass dies sich mit der Zeit ändern wird – und dass viele Ukrainer in der Zwischenzeit sich auf den Schwarzmarkt in Westeuropa als Tagelöhner durchschlagen werden. In den vergangenen Wochen haben viele ukrainische Arbeitsmigranten polnische Zeitarbeitsfirmen aufgesucht, um sich nach Arbeitsmöglichkeiten weiter im Westen zu erkundigen.

The Economist

Polen dürfte somit nur eine erste Zwischenstation bei dieser großen Westwanderung ukrainischer Arbeitskräfte bilden. Politisch ist die polnische wie europäische Politik, die die ukrainische Migrationsbewegung befördert, durch zwei Faktoren motiviert: Einerseits kann so der Druck zur Anhebung des Lohnniveaus vermindert werden – die gilt insbesondere für das Niedriglohnland Polen -, andererseits wird durch die liberale Migrationspolitik die Herauslösung der Ukraine aus dem geopolitischen Orbit Russlands befördert. Die Kappung der vielfältigen sozioökonomischen Verflechtungen zwischen Russland und der Ukraine wird durch eine periphere, auf massenhafter Arbeitsmigration beruhende Anbindung an die EU ersetzt.

Die ukrainische Migration in Polen wird von Warschau auch als eine Trumpfkarte bei den zunehmenden Auseinandersetzungen mit Brüssel und Berlin ausgespielt. So verweisen polnische Politiker auf diese Migrationswelle in dem Dauerstreit um die Aufnahme von Flüchtlingen mit der EU. Die rechtspopulistische Regierung in Warschau bezeichnet das Heer der ukrainischen Wanderarbeiter in Polen dann gerne als ukrainische „Flüchtlinge“, um den Forderungen nach Aufnahme von Geflüchteten aus dem arabischen Raum nicht nachkommen zu müssen.

Die rechtspopulistische Regierungspartei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) muss in der Frage der Arbeitsmigration zudem innenpolitisch einen Spagat vollführen. Während die nationalistische Basis der Partei eine konfrontative Haltung gegenüber dem ukrainischen Nationalismus einfordert, werden zugleich keine anti-ukrainischen Kampagnen von der Parteiführung forciert. Zu groß sind die Vorteile für das Kapital in Polen.

De facto ignoriert die PiS ausländerfeindliche Umtriebe oder Übergriffe, ohne diese bewusst zu schüren. Hinzu kommt noch das traditionelle Überlegenheitsgefühl des polnischen Nationalismus gegenüber dem Osten, der immer als barbarisch und unterentwickelt angesehen wird. Dieses Gefühl der Überlegenheit habe tiefgehende „historische Wurzeln“, erklärte der Historiker Marek Wojnar, die bis in die Zwischenkriegszeit reichten, als die marginalisierte ukrainische Minderheit in Ostpolen unter armseligen Bedingungen auf dem Land lebte. Die Ukraine gelte folglich dem polnischen Nationalismus als ein „primitives“ Land.

Auch hierin spiegeln sich letztendlich in der ukrainischen Wanderungsbewegung in Polen nur die Erfahrungen, die polnische Migranten in der EU vielfach sammelten. Die Ukrainer, die auf Arbeitssuche in Polen sind, finden sich denselben Ressentiments und Benachteiligungen ausgesetzt, wie sie polnische Arbeitsmigranten im Westen erdulden müssen.

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