30. Juni 2017 · Kommentare deaktiviert für „Migration aus Libyen: Italien erwägt Hafenverbot für NGO-Schiffe“ · Kategorien: Europa, Italien, Libyen · Tags: ,

Telepolis | 29.06.2017

Das Land ist politisch mit der Aufnahme der Migranten überfordert. Die Debatte sucht sich mit den Seenotrettern „Sündenböcke“ für eine Härte-Situation, die keine leichten Lösungen bietet

Thomas Pany

Die Stimmung im „einst ausländerfreundlichen Italien“ sei gekippt, stellt der österreichische Standard fest. Anzeichen einer gravierenden Krisensituation wurden Anfang der Woche von Jenny Perelli auf Telepolis geschildert (siehe Roms Bürgermeisterin will keine Migranten mehr aufnehmen).

Nun haut der Repräsentant Italiens bei der EU „auf den Tisch“ (Standard). Die italienische Nachrichtenagentur Ansa spricht von einem formalen Schritt. Das ist aber nur Teil der Nachricht; es kommt auf die Signalstärke an, das hat der Standard erfasst.

Ein Weckruf

Alle sollen es hören: Italien weist jetzt laut auf die Option hin, dass es seine Häfen für NGOs schließen könnte. Dort sitzt die Hauptbotschaft. Dass der ständige Repräsentant Italiens bei der EU, Maurizio Massari, formell das Mandat bekam, um das dringliche Thema „Flüchtlinge aus Libyen“ beim EU-Kommissar für Migration Dimitris Avramopoulos anzusprechen, ist nicht der „Weckruf“.

Die Titel der Berichte über das Signal aus Italien (hier und hier) fallen entsprechend aus: Italien droht mit Abweisung von Flüchtlingsschiffen. Das formelle Vorsprechen Massaris bei Avramopoulos wird nicht viel bewirken. Einzig, dass die EU das Thema schlechter verdrängen kann. Der Grund, warum sie es immer wieder vertagt, ist einfach: Sie hat keine Lösungen anzubieten, die über Symptomlinderungen hinausgehen.

Kein EU-Mitglied will die Menge der Flüchtlinge, die Italien bekommt

Es wird immer nur beteuert, wie sehr man sich der schwierige Lage Italiens bewusst ist, dass das Land allein gelassen werde und dass man helfen müsse, aber recht viel mehr als eine Aufstockung von Unterstützungszahlungen hat die EU nicht anzubieten. Die Solidarität der EU-Mitgliedstaaten ist bei der Aufnahme von Flüchtlingen bekanntlich sehr begrenzt.

Frankreich und Malta könnten einspringen und ebenfalls Flüchtlinge über ihre Häfen aufnehmen. Das tun sie aber bisher nicht. Die Mitgliedsländer könnten ihre Aufnahmekontingente erhöhen, um Italien zu entlasten, das tun sie aber nicht, vor allem nicht die osteuropäischen Länder.

In den vergangenen drei Tagen sind 13.500 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet worden, so der Standard-Bericht, gestützt auf Angaben der italienischen Küstenwache. Die italienische Nachrichtenagentur Ansa berichtete am Mittwoch von über 12.000 in den letzten 48 Stunden und 10.000 Asylsuchenden, die von Samstag bis Dienstag angekommen waren.

Im Guardian, der sich auf Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bezieht, ist von einem „Juni-Anstieg“ die Rede. In den ersten fünf Monaten seien über 60.000 gekommen, 22.000 im Mai.

Wie auch immer man die Quellen und die Zahlen einschätzen mag, es ist nicht zu übersehen, dass der Sommer Hochsaison für die gefährlichen, von Schleusern organisierten Überfahrten ist. Bislang sind laut Guardian über 1.500 Menschen, mit denen die Schlepper gute Geschäfte machten, umgekommen. Auch diese Zahl wird voraussichtlich steigen.

Am Limit: „Mittelmeer-Route schließen wie die Balkanroute“

Italien sei am Limit, sagen Vertreter Italiens. Politisch ist auf jeden Fall ein kritischer Punkt erreicht. Anzeichen dafür sind, dass nun auch der frühere Ministerpräsident Renzi auf einen „härteren Kurs gegen Migranten und die EU“ (Ansa) umgeschwenkt ist, der derzeitige Ministerpräsident Gentiloni und sein Innenminister Marco Minniti sind ebenfalls auf diesem Kurs. Staatspräsident Mattarella äußerte, dass der Andrang der Flüchtlinge „sogar für ein offenes und großes Land wie Italien“ nicht mehr zu bewältigen sei.

Der italienische Präsident des Europaparlaments, Antonio Tajani, spricht davon, dass die Mittelmeerroute „unbedingt geschlossen werden muss, so wie die Balkanroute“.

Aber wie? Seegrenzen sind keine Landgrenzen. Dass die Forderung nach Schließung der Häfen für Flüchtlings-Schiffe der NGOs nicht offiziell erhoben wird, sondern über Quellen aus Regierungskreisen in die Öffentlichkeit gebracht wird, hat seinen Grund darin, dass der Regierung sehr wohl bewusst ist, dass dies auf rechtliche Probleme stößt. Es geht um die Botschaft: „Wir haben genug, wir sind überfordert, wir können auch anders, drastischer.“

Häfen: Schon jetzt Sache der italienische Küstenwache, nicht der NGOs

Rechtlich ist die Sache schwierig. So wird Sprecherin der EU-Kommission Natasha Berauld damit zitiert, dass „außerhalb der EU-Operationen, die nicht in Frage stehen, die Frage des Anlandens von Migranten von internationalen Gesetzen geregelt wird“. Es gibt eine Verpflichtung zur Seenotrettung und es gibt Regelungen, wonach die Boots-Flüchtlinge, die außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer aufgenommen werden, nicht nach Libyen zurückgebracht werden.

Bislang zeigte sich die italienische Küstenwache dafür verantwortlich, die Verbringung in die Häfen zu regeln. Aber warum sollten nicht andere Länder einspringen? Die bisherige Praxis sieht so aus: Die NGOs nehmen Flüchtlinge in Seenot in Absprache und in Koordination mit der italienischen Küstenwache auf:

Das Erste, was Boere (Einsatzleiter und Koordinator der 16-köpfigen Crew der Sea-Watch, Einf. d. A.) an diesem Morgen macht, nachdem er das Flüchtlingsboot gesichtet hat: einen Notruf absetzen. Einen Notruf an das MRCC in Rom, die zentrale Koordinierungsstelle für Rettungen auf dem Mittelmeer. Ganz wichtig: „Keine Rettung ohne den Auftrag aus Rom. Ohne die Zustimmung der offiziellen Behörde dürfen wir nicht eingreifen“, sagt Boere. Denn, was viele nicht wüssten: Im Seerecht ist eine „Pflicht zur Rettung“ festgeschrieben. Das MRCC allein bestimmt, welche Schiffe in eine Rettung involviert werden, welche Häfen die Schiffe anfahren dürfen, wo die Flüchtlinge an Land gehen. Bevor 2015 zivile Seenotrettungsorganisationen wie Sea-Watch aktiv wurden, waren es vor allem Militärschiffe und private Boote, Fischer und Handelsschiffe gewesen, die vom MRCC zu Hilfe gerufen wurden.

Der Standard: NGO-Vertreter am Mittelmeer: „Den Wahnsinn beenden“

Dazu passt auch, was die Welt von der NGO Sea Watch berichtet. Nach deren Angaben habe „Sea Watch in den vergangenen Jahren aber nicht einmal Migranten in einen italienischen Hafen gebracht. In den meisten Fällen retten die NGOs vor der Küste Libyens, auf hoher See werden die Migranten dann auf Boote der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex, der EU-Mission ‚Sophia‘ oder der italienischen Küstenwache übergeben. Diese laufen dann die italienischen Häfen an“.

Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) weist laut Ansa auf eine wichtige Unterscheidung hin: Es gibt einerseits die Seenotrettung und anderseits die darauf folgenden Aufnahmeaktivitäten. Sie seien für die Seenotrettung zuständig.

Die Möglichkeit, dass Italien das Anlanden von nicht italienisch beflaggten NGO-Schiffen mit Flüchtlingen verbieten will, wollte die MSF-Hilfsorganisation noch nicht kommentieren, weil sie bislang nur von Medien verbreitet wurde, aber man mache die EU-Kommission schon seit drei Jahren darauf aufmerksam, dass sie die Seenotrettung (search and rescue – SAR – operations) stärker unterstützen und ein SAR-System schaffen soll, an dem mehrere Staaten teilnehmen“.

Das „Fließband“ der Schlepper

Das Problem ist „einfach kompliziert“. Die Migration, für die Libyen gegenwärtig ein zentraler Ausgangspunkt für die Fahrt nach Europa ist, ist nicht in den Griff zu bekommen, weil es in Libyen keine Institution gibt, mit der man gegen das „Fließband“ zusammenarbeiten könnte. Italien hat über Vereinbarungen mit Stämmen versucht, die Südgrenze Libyens zu kontrollieren. Das hat offensichtlich nicht geklappt. Ebenso wenig die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache. Die Antwort ist einfach.

Die Netzwerke, die an der Migration verdienen, versprechen bisher noch immer größere Vorteile für die Beteiligten als andere Lösungen. Das ist nicht nur eine Geldfrage. Man kann getrost die Behauptung aufstellen, dass die Migration aus hauptsächlich afrikanischen Ländern – vornehmlich aus Guinea, Nigeria, Bangladesch, der Elfenbeinküste, aus Gambia und dem Senegal, nun weniger aus Syrien – , auch dann weitergehen wird, wenn den NGOs das Anlegen an italienischen Häfen verboten wird.

Das „Fließband“ der Schleuser (vgl. dazu „The Human Conveyor Belt“ von Mark Micallef wird weiterlaufen, weil Pull-und Pushfaktoren für die Auswanderung nach Europa mächtiger sind als solche Hürden.

Eine Herausforderung für dieses System aus ultraflexiblen Netzwerken mit organisatorisch gewieften verbrecherischen Elementen von Italien bis in die afrikanischen Länder hinein wäre es, wenn die Migranten in Libyen um Asyl- oder Aufenthaltsrechte in Europa ersuchen könnten und Europa eine kontrollierte Aufnahmebereitschaft für Kontingente unter klar definierten Bedingungen zeigt.

Doch sind solche Lösungen weit entfernt, weil Libyen ein anarchisches Chaos ist und dies ändert sich nach Lage der Dinge so schnell nicht. Bislang sind alle möglichen Gruppierungen in Libyen vom IS bis hin zur Küstenwache irgendwie in das System verstrickt oder wollen es sein, das die Reise nach Europa zum Geschäfts- Ausbeutungs- oder zum Überlebensmodell hat.

Die Überforderungsdebatte

In der Überforderungsdebatte in Italien versuchen Staatsanwälte, Politiker und Medien die Seenotretter- NGOs nun zum Sündenbock zu machen. Die Vorwürfe, die auch hierzulande von politisch an solchen verzerrten Zooms interessierten Seiten aufgenommen werden, reichen von offener Geschäftemacherei der NGOs bis zu Vorwürfen von Absprachen zwischen Schleusern und Seenot-Rettungschiffen, wie sie auch Frontex macht. Nachprüfbare Nachweise werden dafür nicht geliefert.

Dafür kann man im Netz auf YouTube, in sozialen Netzwerken und auf Webseiten genügend Material besehen, die etwa anhand von Zeitvergleichen zwischen Ablegen eines Flüchtlingsbootes und der Aufnahme von Flüchtlingen durch ein NGO- SAR-Schiff „Auffälligkeiten“ feststellen. Die gibt es wahrscheinlich auch, aber: Wie sollen NGOs reagieren, wenn sie einen Anruf bekommen, dass hundert oder mehr Migranten auf dafür ungeeignete Booten ins Mittelmeer gestartet sind? Den Anruf ignorieren?

Um sie in libyschen Hoheitsgewässern abzufangen und sie nach Libyen zurückzubringen, braucht es die Mitarbeit der libyschen Stellen ….

„Heile Welt“- Suche nach einem Sündenbock

Ein italienischer Staatsanwalt will den Vorwürfen gegen die NGOs nachgehen und die Sache für Gericht bringen. Das ist politisch motiviert, aber ein Gericht ist für einen Rechtsstaat die richtige Adresse. Auch Politiker, die keine Populisten sind, stellen sich hinter diese Forderungen.

Auch in Deutschland wird gegen die Seenotretter von „Mission Lifline“ aus Dresden ermittelt. Deren Vertreter reagierten empört, wie der Tagesspiegel berichtete Die Vorwürfe seien „absurd“ und „an den Haaren herbeigezogen.

Statt uns zu verfolgen, sollten sich auch die Bediensteten der Justiz für die Menschen einsetzen, die in Seenot geraten. Wir befürchten, dass letztlich versucht werden soll, die Spendenbereitschaft für unsere Mission zu beeinträchtigen.

Axel Steier, Vorsitzender „Mission Lifeline“

Anzunehmen, dass die Präsenz von NGO-Schiffen im Mittelmeer keine Rolle bei der Organisation und Durchführung von Migranten-Überquerungen spielt, wäre allerdings naiv, wenn man sich vor Augen hält, wie die damit zusammenhängenden Geschäftspraktiken des „Fließbandes“ funktionieren, die sehr wohl Opportunitäten auf den Wegstrecken beachten.

Daraus aber eine ursächliche, monokausale Verantwortung im Sinne von „die Seenotretter sind ein entscheidender Pullfaktor“ zu folgern, ist ein Kurzschluss aus Überforderung und der „Heile Welt“-Suche“ nach einem Sündenbock.

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