30. Juni 2017 · Kommentare deaktiviert für „Europa braucht Erdogan nicht“ · Kategorien: Europa, Türkei

Welt | 29.06.2017

Von Beate Klarsfeld, Benjamin Abtan

Deutschland hat beim Flüchtlingsabkommen mit der Türkei eine unselige Rolle gespielt. Es trägt eine historische Verantwortung im Kampf gegen Autoritarismus und für die Förderung von Demokratie. Ein Gastkommentar.

Im März 2016 unterzeichneten Angela Merkel und Tayyip Erdogan ein Flüchtlingsabkommen, das letztendlich ganz Europa betreffen sollte. Zahlreiche Flüchtlinge, vor allem Syrer, versuchten zu der Zeit, nach Europa zu kommen, vor allem nach Deutschland, wo sich in der Öffentlichkeit langsam ein gewisser Widerstand gegen ihre Aufnahme regte.

Diese nach wie vor geltende Vereinbarung sieht vor, dass die Türkei eine Weiterreise der Flüchtlinge verhindert, im Austausch von jährlich aus Europa kommenden Milliarden von Euro.

Um es klar zu sagen: Das Abkommen ist vollkommen nutzlos und wird von Erdogan instrumentalisiert, um Druck aus Europa zu verhindern, während er ein immer autoritäreres Machtgefüge aufbaut und den Nationalismus in Europa schürt.

Aus all diesen Gründen muss der Vertrag gelöst werden.

Warum ist der Vertrag nutzlos?

Tatsächlich hat Europa seit März 2016 seine Mittel für die Kontrolle an seinen Grenzen um einiges erhöht.

So wurde beispielsweise von der EU im Oktober 2016 die Europäische Agentur für Küstenwache und Grenzschutz gegründet, um so die Kontrolle an seinen Außengrenzen verstärken und besser koordinieren zu können. Dotiert mit einem Budget von über 300 Millionen Euro, verfügt sie über mehr als 400 Angestellte, eine schnelle Eingreiftruppe von 1500 Personen, ihre eigene Ausrüstung und die Autorität, im Krisenfall an den Außengrenzen der EU einzugreifen.

Wir brauchen sie nicht

Ganz gleich, ob man sich nun eine offenere oder eine restriktivere Politik bei der Aufnahme von Einwanderern wünscht: Europa ist bei der Durchsetzung und Verteidigung seiner politischen Entscheidungen nur in sehr geringem Maße von Drittländern abhängig und wird das in näherer Zukunft noch weniger sein. Und was für die Türkei gilt, trifft auch auf andere Staaten zu, wie zum Beispiel den Sudan oder Eritrea, beides ebenfalls Diktaturen. Kurz gesagt: Wir brauchen sie nicht.

Vor allem brauchen Deutschland und Europa Erdogan nicht, um das Eintreffen der Flüchtlinge in Europa zu verhindern. Es ist Erdogan, der die Flüchtlinge braucht, die sich im Südosten der Türkei oder auch im „türkischen Kurdistan“ niedergelassen haben, um sie für seine Unterdrückungspolitik gegenüber der nationalen Bewegung der Kurden zu benutzen.

Kurzfristig gesehen ermöglicht die Gegenwart der Flüchtlinge im Südosten der Türkei der Regierung, wirtschaftlichen Druck auf die kurdische Bewegung auszuüben. Ihre Schwarzarbeit bedeutet eine Konkurrenz von unten für die Arbeiter der Region. Und letztendlich sind es vor allem die – kurdischen – Gemeinden, die die Budgets für die Flüchtlingslager aufbringen müssen.

Unterdrückung einer nationalen Bewegung

Mittel- oder langfristig dürfte ihre Präsenz in dieser Gegend eine Veränderung des Kräfteverhältnisses gegenüber der kurdischen Bewegung bei Wahlen und in der Politik hervorrufen, und zwar zugunsten der AKP.

Tatsächlich wird die sunnitische Bevölkerung mit ihren konservativen Werten, sobald sie die Staatsbürgerschaft besitzt und damit auch das Wahlrecht und beides durch die AKP erlangt hat, eine nicht zu unterschätzende elektorale Unterstützung für die Partei bedeuten und das Kräfteverhältnis an den Urnen entscheidend verändern zum Nachteil der Kurdenbewegung.

Das erklärt auch, warum die sunnitischen Flüchtlinge einen besseren administrativen Status und Vorteile beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen genießen als andere, allen voran die Jesiden, obwohl diese als Opfer eines Genozids gelten.

Diese privilegierte administrative Behandlung von heute könnte auch auf einen bevorzugten, wenn nicht sogar exklusiven Zugang zur Staatsbürgerschaft hindeuten, und damit in Zukunft natürlich auch das Recht zu wählen.

Die Unterdrückung einer nationalen Bewegung und eine Gebietskontrolle durch eine veränderte Zusammensetzung der Bevölkerung ist eine alte Tradition in der Türkei. Das war auch beim armenischen Völkermord von 1915 Kern des Problems, ebenso wie bei den Massakern und Deportationen der Aleviten von Dersim 1937 bis 1938.

Selbstverständlich ist die Aufnahme von Menschen, die vor Krieg und Tod flüchten, nicht mit Massenmord zu vergleichen. Und doch stellt auch diese Aufnahme der Flüchtlinge und ihr Ansiedeln im Südosten des Landes durch die Islamisten der AKP eine Fortsetzung dieser unseligen Tradition des Nationalismus in der Türkei dar.

Abgesehen davon gibt das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei, Deutschland und Europa Herrn Erdogan die Möglichkeit, Europa zu erpressen und gewaltsam ein immer autoritäreres Machtgefüge zu errichten, ohne mit Druck oder Sanktionen rechnen zu müssen.

Trotz allem minimaler Druck aus Europa

Tatsächlich nehmen die Repressalien gegenüber all denjenigen, die für Menschenrechte und Demokratie kämpfen, von Tag zu Tag immer mehr zu: auf Aktivisten, Journalisten wie der Korrespondent dieser Zeitung, Deniz Yücel, Intellektuelle, Künstler, Rechtsanwälte, Funktionäre … Dennoch ist der Druck aus Europa nach wie vor minimal, Drohungen oder gar Sanktionen gibt es so gut wie keine, und das obwohl sie einen erheblichen Erfolg haben könnten.

Die Krise zwischen Russland und der Türkei, die durch den Abschuss des russischen Flugzeugs im November 2015 ausgelöst wurde, hat das ganz klar bewiesen: Nach der Ankündigung durch die Russen, wirtschaftliche und kommerzielle Druckmittel einsetzen zu wollen, die vor allem den Tourismus betrafen, dauerte es nur wenige Monate, bis der türkische Präsident sich in Moskau entschuldigte und einen ganz anderen Ton gegenüber Russland anschlug, auch politisch gesehen.

Angesichts der starken Bindungen zwischen der Türkei und Europa, vor allem in Bezug auf Wirtschaft, Handel und Tourismus, besteht eigentlich keinerlei Zweifel daran, dass Druck aus Europa Wirkung zeigen würde. Und doch bleiben die Europäer nach wie vor bei ihrem Schweigen und kritisieren auch nicht Herrn Erdogans autoritären Auswüchse, aus Angst, sie könnten das Flüchtlingsabkommen gefährden.

Mithilfe eines glänzenden diplomatischen Netzwerks blufft der türkische Präsident, der die Schwächen und Befürchtungen der Europäer bestens kennt, mit großer Finesse und entspricht dabei nicht im geringsten seinem sonstigen Image eines irrationalen Regierungschefs.

Er hat die Europäer in eine gefährliche Falle gelockt: Ohne den Druck der Europäer kann er seinen autoritären Plan ohne Gegenwehr durchziehen. Dazu gehört auch eine Zensur, was die staatlichen Machenschaften – vor allem die der Armee – im Südosten der Türkei anbetrifft. Auf Grund dieser fehlenden Informationen ist es für die Europäer auch so schwer, sein Abhängigkeitsverhältnis zu den Flüchtlingen in dieser Region wirklich zu verstehen. Und gerade diese Unkenntnis erlaubt es ihm, die Europäer mit den Flüchtlingen zu erpressen und jegliche Aussicht auf Druck oder Sanktionen zu vermeiden.

Und das beweist ein mangelndes Verständnis und eine gewisse Schwäche der Demokratien Europas, allen voran der in Deutschland, gegenüber dieser möglichen Diktatur vor ihrer eigenen Haustür. Eine Schwäche, die im Kontrast zur Machtdemonstration des Regimes steht. Das wiederum trägt zum Anreiz der autoritären Regimes bei auf Kosten der liberalen Demokratien und nährt den Nationalismus in Europa.

Das Abkommen beenden!

Unterschwellig bedeutet das Abkommen auch einen Mangel an Souveränität der Europäer, die nicht in der Lage sind, der von ihnen gewählten Politik ohne die Hilfe von Staaten wie der Türkei Respekt zu verschaffen – und das ist ein Schlüsselelement in der nationalistischen und antieuropäischen Argumentation, die durch die Aufrechterhaltung des Abkommens nur verstärkt wird. Man kann hier genau erkennen, dass die Verbindung von Islamismus und Nationalismus, wie sie die AKP in der Türkei vertritt, und auf der anderen Seite der Nationalismus in Europa gegenseitig Nahrung geben.

Deshalb muss das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei beendet werden.

Die Auflösung des Vertrags muss außerdem von europäischem Druck begleitet werden, damit die Verfolgung all derer ein Ende hat, die sich in der Türkei für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Diese Demokraten fordern Sanktionen gegen ihr Land und weitere Verhandlungen mit der EU, um ein Umschwenken der Türkei in die Diktatur verhindern zu können. Wir sollten ihre Forderungen erhören und unterstützen.

Deutschland hat in der Verhandlung und im Abschluss des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei eine entscheidende Rolle gespielt. Es trägt außerdem eine historische Verantwortung im Kampf gegen Autoritarismus und für die Förderung der Demokratie. Es ist es sich daher schuldig, den richtigen Weg aufzuzeigen und das Abkommen aufzulösen.

Deshalb appellieren wir an die Bürger und an die politischen Parteien in Deutschland, in diesem Sinne eine klare Position zu beziehen.

Was hier auf dem Spiel steht, dass ist die Freiheit und zum Teil auch das Leben von Zehntausenden von Demokraten in der Türkei. Es geht um die Zukunft der Demokratie, dort ebenso wie hier bei uns.

Benjamin Abtan ist Gründer und Präsident der EGAM – European Grassroots Antiracist Movement (Europäische Anti-Rassismus Basisorganisation). Beate Klarsfeld, ist heute Sonderbotschafterin der Unesco für Bildung über den Holocaust und die Verhinderung von Völkermorden

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[EN]

The EU-Turkey Refugee Agreement must be brought to an end!

In March 2016, Ms. Merkel and Mr. Erdogan reached an agreement on refugees, which would eventually involve all of Europe. Countless refugees, namely Syrians, were trying to reach Europe and in particular Germany, where public opinion slowly started to show signs of opposition to their reception.

This agreement, which is still in place, stipulates that Turkey must block refugees in exchange for billions of euros paid annually by Europe.

Let’s make it clear: this agreement is useless; it is used by Mr. Erdogan to avoid European pressures as he puts in place an increasingly authoritarian power and fuels nationalism in Europe.

For these reasons, it must be destroyed.

First of all, it is useless.

Since March 2016, Europe has increased considerably the means of control of its borders.

In particular, the EU founded in October 2016 the European Border and Coast Guard Agency, in order to strengthen and better coordinate the control of its external borders. With a budget of more than 300 million euros for 2017, it has more than 400 employees, a rapid response force of 1,500 people, its own equipment and the authority to intervene on the EU’s external borders in the event of a crisis.

Whether we want a more open or restrictive policy on the reception of migrants, today Europe depends very little on third States to put in place and have respected its political choices, and will be even less so in the near future.

What is true for Turkey is also valid for other States, such as Sudan or Eritrea, which both have dictatorial regimes. To put it succinctly: we do not need them.

Above all, it is not Germany nor Europe that need Mr. Erdogan to prevent refugees from entering Europe. It is Mr. Erdogan that needs the refugees, located in the south-east of Turkey or “Turkish Kurdistan”, to use them for his policy of oppression towards the Kurdish national movement.

In the short term, the presence of refugees in the south-east of Turkey allows to exert economic pressure on the Kurdish movement. Their undocumented work represents an indirect competition for the workers of the region. Moreover, it is mainly the Kurdish municipalities that have to provide the budget for the refugee camps.

In the medium and long term, their presence in this region will evoke a transformation of the electoral and political balance of power of the Kurdish movement, namely in favour of the AKP.

Indeed, once they have access to citizenship and therefore the right to vote, the Sunni population with their conservative values, who will have moreover acquired the citizenship through the AKP, will undoubtedly represent a strong electoral support for this party, transforming the balance of power in the ballot boxes in its favour, to the detriment of the Kurdish movement.

This explains why the Sunni refugees benefit from a better administrative status and better access to public services than others, especially the Yazidis, even though the latter are victims of a genocide.

This preferential administrative treatment today could represent the prefiguration of a privileged or even exclusive access to citizenship, and thus to the acquisition of the right to vote in the future.

The oppression of a national movement and the control of the territory through the transformation of the composition of the population is an old tradition of Turkish Nationalism.

This issue was also at the core of the Armenian genocide in 1915 as well as in the massacres and deportations of Dersim-Alevi in 1937-1938.

Welcoming individuals that are escaping war and death is, evidently, incomparable to mass crimes. Nevertheless, the reception of refugees and their settling in the south-east of the country by the Islamists of AKP is the continuation of a fatal tradition of Turkish Nationalism.

Furthermore, this agreement on refugees between Turkey, Germany and Europe allows Mr. Erdogan to blackmail Europeans and to violently put in place more and more authoritarian power structures, without having to fear pressures or sanctions.

Effectively, the repression against all those who are fighting for the promotion of human rights and democracy is increasing: activists, journalists, intellectuals, artists, lawyers, civil servants… Despite this, European pressures are minimal, and the very threats of sanctions are non-existent, even though they are likely to have powerful effects. The Turco-Russian crisis triggered by the shooting down of the Russian aircraft in November 2015 clearly confirms it: after Russia announced it would put in place economic and commercial pressures, which would particularly affect tourism, it took the Turkish president only a few months to apologize to Moscow and to change the tone and policy towards Russia significantly.

Given the strong links between Turkey and Europe, particularly in terms of economy, commerce and tourism, there should be no doubt about the effectiveness of European pressures.
Despite this, Europeans are determined to stay quiet and to not criticize Mr. Erdogan’s authoritarian drift, as they fear undermining the agreement on refugees.

With a good diplomatic network and a perfect understanding of the weakness and fears of the Europeans, the Turkish president plays a dishonest game of poker and does it with high finesse. Far from his usual image as an irrational head of State.

He closed a pernicious trap on the Europeans: the absence of European pressures has allowed him to deploy with permissiveness his authoritarian project. In particular, he imposes censorship on the actions of the State, notably of the army, in the south-east of Turkey. This lack of information prevents Europeans from understanding with acuity his relationship of dependency with the refugees in this region. This miscomprehension which permits him to blackmail Europeans regarding the refugee issue and to prevent any possibility of sanction.

Hence, European democracies, of which Germany is at the forefront, show the incomprehension and weakness with regard to what might well be a dictatorial regime just in front of its door. This weakness contrasts with the demonstration of power of this regime. This contributes to the attraction exercised by authoritarian regimes to the detriment of liberal democratic systems, and thus fuels nationalism in Europe.

Implicitly this agreement is a sign of the lack of sovereignty of Europeans who are incapable of justifying their policies without the help of countries like Turkey. This is a key element in the nationalist and anti-European discourse which is only reinforced by the support of this deal. We can see here how the alliance between Islamism and Nationalism, Nationalism that AKP represent, and nationalism in Europe, are mutually reinforcing each other.

Therefore, the agreement with Turkey must be brought to an end.

This suppression must be also accompanied by European pressure to end the persecution of all those who are fighting for democracy and human rights in Turkey. The democrats demand sanctions against their country and the continuation of negotiation with the EU in order to Turkey falling into dictatorship. Let’s hear and support their demands.

Germany had a determining role in the negotiation and conclusion of the refugee deal. It also carries a historical responsibility in the struggle against authoritarianism and promotion of democracy. It must therefore lead the way and end this agreement.

This is why we call out for citizens and political parties in Germany to take a clear stand in this direction.

What is at stake is the freedom and the lives of tens of thousands of democrats in Turkey. This is about the future of democracy, there as it is here.

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