30. Januar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge in der Ukraine: Wie das Leben weitergeht“ · Kategorien: Ukraine · Tags:

Spiegel Online | 16.01.2017

Tausende Menschen hat der Krieg in der Ukraine zur Flucht gezwungen. Viele sind in Camps untergekommen und wissen, dass sie ihr altes Leben nie wieder zurück bekommen. Wie gehen sie damit um?

Von Yuliana Romanyshyn und Anastasia Vlasova

Ein Dutzend grauer Metallcontainer steht am Stadtrand von Kharkiv, eine der größten Städte der Ukraine. Umgeben sind sie von einem Zaun, verbunden durch Strommasten und Wege. Von einem Spielplatz hört man Kinder lachen. „Transit modular housing Nadiya“, steht auf einem der Container. Auf Ukrainisch bedeutet der Name des Camps „Hoffnung“.

Das Camp bietet Schutz für bis zu 400 Menschen, für Binnenflüchtlinge aus der vom Krieg verwüsteten Donbas-Region. Kharkiv hat 1,5 Millionen Einwohner, die Stadt liegt nur 200 Kilometer vom Frontverlauf entfernt. Laut dem Ukrainischen Sozialministerium sind mindestens 1,8 Millionen Menschen vor dem Konflikt im Osten des Landes und der Annexion der Krim aus ihrer Heimat geflohen. Einige haben Asyl in der EU beantragt oder sind nach Russland geflohen, doch die meisten suchen in der Ukraine Schutz.

Der Strom der Schutzsuchenden in der Ukraine zählt zu den gewaltigsten in Europa seit dem Jugoslawienkrieg. Laut dem Internal Displacement Monitoring Centre, einer Nichtregierungsorganisation in Genf, gehört die Ukraine derzeit zu den zehn Staaten mit den meisten Binnenflüchtlingen weltweit.

Olena Churina lebt mit ihren neun Kindern im Flüchtlingscamp „Nadiya“. Ihre Geschichte gleicht der vieler Vertriebener in der Ukraine: Die Familie ließ ihr Zuhause zurück, um vor andauernden Kämpfen zu fliehen – in der Erwartung, rasch dorthin zurückkehren zu können. Doch trotz des Abkommens von Minsk, das die Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland im Februar 2015 unterzeichneten, haben die Bombardierungen nicht aufgehört. Seit dem Sommer 2014 leben die Binnenflüchtlinge nun schon fernab ihrer Heimat.

Churina floh aus Hlafirivka, einem Dort in der Oblast Luhansk, etwa 60 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Heute ist ihr Heimatort von prorussischen Separatisten besetzt, das Wohnhaus der Familie vermutlich zerstört, ihr Eigentum wohl geplündert. Dennoch ist Churinas Mann nach Hlafirivka zurückgekehrt, um seinen Vater zu unterstützen. Sie kümmert sich im Camp allein um die neun Kinder im Alter zwischen zwei und 19 Jahren.

Im April 2014 hoffte Churina noch auf ein baldiges Ende des Konflikts. Aber nach fünf Monaten des Wartens waren die Kinder so verängstigt, dass sie jedes Geräusch für eine Explosion hielten, und die Mutter entschied sich für die Flucht. „Ukrainische Soldaten standen auf der einen Seite, russische auf der anderen“, erinnert sie sich. „Und wir waren genau dazwischen.“

In Hlafirivka lebte die Familie in ihrem eigenen Haus, mit drei Zimmern, einem Garten und ein paar Kühen. Nun, im Flüchtlingscamp, teilen sie sich zu zehnt rund 24 Quadratmeter, seit mittlerweile über einem Jahr. Sie habe ihre Kinder gefragt, ob sie zurück nach Hlafirivka wollten, erzählt Churina. „Sie haben gesagt: Nein Mutter, dort ist Krieg.“

Das Flüchtlingscamp „Nadiya“ wurde von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) errichtet, als eines von sieben derartigen Projekten in der Ukraine. Insgesamt hat das BMZ rund 19 Millionen Euro in die Einrichtungen investiert, sie bieten derzeit rund 2300 Binnenvertriebenen Schutz. Das Camp in Kharkiv besteht aus ein paar Verwaltungsgebäuden sowie zehn Containern mit Apartments und drei weiteren mit Schlafsälen. Alle Container haben fließend Wasser und eine Heizung.

Churina und die Kinder leben in einer dieser Metallboxen. Sie haben ein Zimmer, ein Bad, eine winzige Küche. Nachts schlafen die zehn Personen in sieben Etagenbetten. Trotz der Enge haben sie hier einen Luxus, der ihnen daheim fremd war: warmes Wasser, und das aus der Leitung. Fließendes Wasser gab es in Hlafirivka nicht.

Das Flüchtlingscamp ist durch einen Zaun geschützt, Überwachungskameras laufen rund um die Uhr. Churina muss sich also keine Sorgen machen, wenn ihre Kinder allein zum Spielplatz laufen. Zudem kümmern sich mehrere Mitarbeiter des Camps um die Betreuung der Kinder, neben Freiwilligen des Roten Kreuzes und des Flüchtlingswerks der Uno. Ein Kinderarzt besucht das Camp zweimal pro Woche, die Sprechstunde ist kostenlos.

Die Camps waren als Übergangslösung gedacht, sagt Bärbel Schwaiger, Projektleiterin bei der GIZ. Doch mittlerweile leben die meisten Flüchtlinge schon länger als ein Jahr im Provisorium, eine Heimat haben sie nicht mehr, und die Kriegserinnerungen, die alle Einwohner hier mit sich tragen, drücken schwer. Dennoch geht das Leben weiter: Inzwischen werden in den Unterkünften Hochzeiten ausgerichtet, Kinder geboren, Feste gefeiert.

„Zu Anfang war unser wichtigstes Ziel, den Flüchtlingen für den Winter ein Dach über dem Kopf zu geben“, erinnert sich Schwaiger. In Regionen mit milderem Klima könne man sich in solchen Fällen mit Zelten behelfen. Aber in der Ukraine brauche es so schnell wie möglich stabilere Lösungen.

Als die Flüchtlingscamps aufgebaut waren, verteilten die ukrainischen Behörden die Plätze. Dabei wurden besonders gefährdete Menschen bevorzugt, sodass heute vor allem Frauen, Familien und Menschen mit Behinderung in den Camps leben. Als Mutter von neun Kindern bekam auch Churina eine Zusage. Viele Bewohner in „Nadiya“ klagen über den Platzmangel und die Nebenkosten. Trotzdem gibt es eine lange Warteliste mit etwa 1500 Geflüchteten, sagt die Managerin des Camps, Switlana Chuprina.

Das Leben im Camp ist nicht kostenlos, Erwachsene zahlen umgerechnet zwölf Euro, Kinder sechs Euro pro Monat. Churina bezahlt die Kosten von den rund 30 Euro Unterstützung, die sie als Flüchtling vom Staat bekommt. Hinzu kommt noch etwas Geld für ihre Kinder.

Churinas Familie musste in Hlafirivka unter ständigem Beschuss ausharren. Einmal fiel der Strom ganze drei Monate aus. Und häufig musste sich die Familie während der Bombardierungen in den Keller retten – der allerdings zu klein für alle war. Einige Kinder suchten oben im Haus unter ihren Betten Schutz, unten im Keller legte Mutter Churina ihren jüngsten Sohn auf eine Jacke, beugte sich über das Baby, sie schützte ihn mit dem eigenen Körper. „Ich bekam Platzangst und nur schwer Luft“, erzählt Churina. „Die Vorstellung, der Keller könnte einstürzen und man müsste uns ausgraben, machte mir große Angst.“

Als sie schließlich Hlafirivka verließ, musste Churina fast alles zurücklassen, nur Kleidung für die Kinder konnte sie mitnehmen. „Es tut weh zu sehen, wie alles, was man sich über die Jahre erarbeitet hat, plötzlich weg ist“, sagt sie. „Und es gibt keine Hoffnung.“

Der Weg nach Hause – für Churina ist er keine Option. Nicht nur, weil ihr Haus wahrscheinlich zerstört ist. Auch wegen der Streitereien mit den Nachbarn. Churina und ihre Kinder gehörten zu den rund 15 Familien, die Hlafirivka verließen, sind aber nun die einzigen, die nicht zurückgekehrt sind. Sie gelte dort nun als Verräterin, sagt Churina. „Aber der Frieden über unseren Köpfen ist wichtiger. Ich will meine Kinder lachen sehen, nicht weinen.“

Im Camp gibt es viele Angebote für Kinder, betreut von freiwilligen Helfern. Sie spielen gemeinsam, lernen Englisch, besuchen den Zirkus und unternehmen Ausflüge. „Hier können sich meine Kinder entwickeln und wieder Spaß haben“, sagt Churina. Sie besuchen eine Schule und regelmäßig einen Psychologen, um die Erinnerungen an den Krieg zu verarbeiten. Es helfe, sagt Churina, nicht über die nächsten Schritte nachdenken zu müssen. „Wir nutzen unsere Zeit hier im Camp.“

An die Bomben über ihrem Haus erinnert sich Ayshat Natarova noch genau. Einen Bombensplitter hat die 56-Jährige sogar bis heute aufbewahrt. Er durchbrach eines ihrer Fenster und landete auf dem Bett. „Zum Glück lag dort gerade niemand“, sagt sie und zeigt ein schweres Metallstück.

Ihr Haus war gerade renoviert – und dürfte nun komplett ruiniert sein. Natarova erinnert sich, wie die Bomben einen Teil ihres Hauses trafen und in ihrem Garten landeten. Was von ihren Habseligkeiten nicht zerstört war, sei später geplündert worden.

Vor dem Krieg hatte Natarova eine Anstellung im 30 Kilometer entfernten Luhansk. Dorthin zu pendeln, ist jetzt unmöglich, weil die Frontlinie genau durch ihren Heimatort führt. Eigentlich hätten sich laut dem Minsk-2-Abkommen sowohl Regierungstruppen als auch Separatisten aus dem Ort zurückziehen sollen.

Im Flüchtlingscamp will Natarova nicht untätig herumsitzen, sie arbeitet als Haushälterin. „Ich bin hier die Chefin – der Wischlappen“, scherzt sie. Hier in Kharkiv erholt sich die Familie langsam von den traumatischen Erlebnissen. Aber noch immer verstecke sich die zweijährige Enkelin sofort, wenn sie ein lautes Geräusch höre.

Das Wichtigste für Natarova: zu sehen, wie ihre Enkel spielen, lachen, bunte Bilder malen. „Ich bin zufrieden mit allem. Wenn es den Kindern gut geht, geht es mir auch gut.“

Nur 300 Kilomter ist Mariya Bulda von ihrer Heimat Donetsk entfernt. Trotzdem kommt es ihr so vor, als lebe sie nun in einem fremden Land. In Donetsk wohnte sie am Stadtrand, im eigenen Haus mit vier Zimmern. Hier im Camp sind sie und ihr Mann in einen kleinen Container gezogen, gemeinsam mit ihrer Tochter, Enkeln und Urenkeln.

In Donetsk gibt es den Stadtteil, in dem die Familie lebte, heute so nicht mehr. Ihr Haus lag in der Nähe des Flughafens, der lange Zeit letzter Außenposten der ukrainischen Armee war, bis ihn prorussische Militärs im Januar 2015 übernahmen.

Bei der Flucht aus Donetsk konnten sie nur mitnehmen, was sie am Körper trugen. Während eines Bombardements verließen Mariya und Yevhen Bulda ihren Keller und flüchteten erst zu Fuß, dann mit dem Bus. Was sie heute an Kleidung besitzen, haben sie als Spende bekommen.

Wenn Mariya und Yevhen Bulda über die Vergangenheit sprechen, fließen Tränen. Beide überlebten den Zweiten Weltkrieg, arbeiteten fünfzig Jahre lang in einer Fabrik. Heute träumen sie davon, nach Hause zurückzukehren – und wenn auch nur für ihre eigene Beerdigung.

Doch ihre Enkel schaffen es immer wieder, sie abzulenken. Etwa wenn sie Yevhens Hand nehmen und ihn mit zum Spielplatz ziehen. Insgesamt habe er zehn Enkel, sagt Yevhen. Und lächelt.

Als Nataliya Avdyuha aus Luhansk fliehen musste, war sie im achten Monat mit ihrem zweiten Kind schwanger. Zu dieser Zeit, im Juli 2014, war Luhansk von prorussischen Separatisten besetzt, die gegen ukrainische Regierungstruppen kämpften.

„Wir wollten nicht gehen. Lange dachten wir, es würde aufhören“, sagt Avdyuha über die Bombardierungen. Mit ihrem Mann richtete sie sich einen Schutzraum im Keller ein. Doch weil der Weg aus ihrem Appartment dorthin zu beschwerlich war, harrten die beiden zu Hause aus.

Als die Geburt näher rückte, brachten Freiwillige sie aus der Stadt. Nach der Geburt zogen sie weiter nach Kharkiv. Für die hundert Kilometer dorthin brauchten sie wegen der verminten Straßen mehr als einen Tag.

Ein Appartment in Kharkiv wäre für Avdyuha und ihre Familie zu teuer gewesen – auch weil sie als Flüchtling ohne sicheres Einkommen drei Monatsmieten im Voraus hätte zahlen müssen. Schließlich bemühte sie sich um einen Platz im Camp. Schon bei der Eröffnung im Januar 2015 konnte sie einziehen.

Ihr erster Eindruck war nicht besonders gut. „Als wir ankamen, war alles grau und es gab diese Strommasten und Kästen“, erinnert sich Avdyuha. Später wurden aus den Kästen Appartments und Schlafsäle. Heute lebt sie mit ihrem Mann und inzwischen drei Kindern auf 24 Quadratmetern. Ihr Mann arbeitet als Plakatkleber in der Stadt.

Zurück nach Luhansk will die Familie nicht. „Dort ist das Leben schwierig und traurig. Man muss die Führung unterstützen, auch wenn man die Ukraine liebt“, sagt sie über das prorussische Regiment in der Stadt. „Ansonsten werden sie dich verfolgen.“

Iryna Olyunina lebt in einem der Schlafsäle, auf zwölf Quadratmetern. Sie teilt sich die Küche mit zwölf anderen Familien, hat aber ein eigenes Bad. Ihre Heimat, die Stadt Horlivka in der Oblast Donetsk, verließ sie mit dem letzten Zug. Ein halbes Jahr später wurde sie im Camp aufgenommen. „Es war pures Glück, hierherzukommen. Wie der Himmel auf Erden“, sagt Olyunina.

Sie gehört zu den Glücklichen, die noch ein Zuhause außerhalb des Camps haben. Ihre Wohnung am Stadtrand von Horlivka ist noch unbeschädigt, Verwandte kümmern sich um ihre Pflanzen. Trotzdem hat Olyunina Angst, nach Donbas zurückzukehren. „Es ist viel ruhiger, in einem Wohnheim zu leben. Zu Hause musste man den Fernseher laut aufdrehen, um die Bombardierungen zu übertönen.“ Derzeit liegt ihr Heimatort genau auf der Frontlinie.

Kürzlich hat Olyunina von freiwilligen Helfern im Camp eine Nähmaschine bekommen. So wurde für sie im Camp ein Traum ihrer Jugend wahr – sie arbeitet als Schneiderin und entwirft Mode.

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