12. Januar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Warten und frieren in Belgrad“ · Kategorien: Balkanroute, Europa, Serbien · Tags:

Quelle: NZZ | 12.01.2017

Die «Schwarze Höhle» in der serbischen Hauptstadt

Die Zahl der Gestrandeten in Serbien steigt stetig. Junge Afghanen und Pakistaner meiden die offiziellen Lager und richten sich im Stadtzentrum selber ein.

von Andreas Ernst, Belgrad

Belgrad ist am schönsten, wenn es schneit. Das Weiss legt sich wie ein weiches Tuch über die Stadt und deckt alles Hässliche und Halbfertige zu. Früh ist die Nacht angebrochen, die Temperaturen liegen tief im Minus. Hinter dem Busbahnhof, neben zerfallenden Lagerhallen, lodern Feuer. Ein scharfer Wind wirbelt die Schneeflocken durcheinander. Männer in wattierten Jacken, manche eine Wolldecke über den Schultern, wärmen sich an den Flammen. Sie sind jung – einige kaum halbwüchsig – und kommen aus Afghanistan, Pakistan und dem Irak. Sie wollen weiter nach Norden. Aber jetzt stecken sie fest im Winter, mitten in der serbischen Hauptstadt.

Übernachten in «Tora Bora»

Abu Bakr und Shoaib sind 16 Jahre alt. Vor zehn Tagen haben sie versucht, die Grenze nach Ungarn zu überqueren, aber sie wurden erwischt und zurückgejagt. Sie nehmen das sportlich. «Irgendeinmal klappt es», sagt Shoaib. Er kramt eine Konservendose hervor. Ob das halal sei? Zumindest ist es Rindsgulasch. Die Dose wird geöffnet und sorgfältig auf einen glühenden Balken gestellt. Hunger hätten sie selten. Einmal am Tag verteilt eine Hilfsorganisation Esswaren. Manches kauften sie zusätzlich auf dem Markt.

Etwas abseits steht ein weiterer Junge. Nur die Augen schauen zwischen dem hochgezogenen Rollkragen und der Mütze hervor. Er heisst Abu Zar, ist elf und allein unterwegs. Wo sind seine Familie und seine Freunde? Der Kleine zuckt mit den Schultern und geht weg. Weshalb, fragt der Reporter, sucht ihr nicht Schutz vor dem Schneesturm im Lagerhaus? «Du meinst in ‹Tora Bora›?» sagt Shoaib und lacht. Tora Bora hiess die Gebirgsfestung in Ostafghanistan, in der sich bin Ladin 2001 verschanzt hatte. Wörtlich bedeutet es «schwarze Höhle». Diesen Namen tragen die Belgrader Lagerhallen zu Recht.

Es ist nicht nur der Winter, der die Zahl der Migranten und Flüchtlinge in Serbien langsam, aber stetig ansteigen lässt. Im Juni waren es etwa 2000 Personen, jetzt sind es nach konservativen Schätzungen mindestens 7500 Menschen. Die Grenzen zu den EU-Ländern Ungarn und Kroatien sind scharf bewacht. Nach Aussage des Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR kommt es immer wieder zu illegalen Rückschiebungen aus diesen Ländern. Auch Serbien hat begonnen, Geflüchtete nach Bulgarien und Mazedonien abzuschieben. Es sind konzeptlose Entlastungsmanöver der Balkanländer, die direkt auf das Versagen Europas verweisen, eine koordinierte Asyl- und Migrationspolitik zu verfolgen. 80 Prozent der Geflüchteten in Serbien befinden sich in Lagern. Aber bis zu 1400 Personen befinden sich ohne feste Unterkunft in Belgrad. Es sind fast ausschliesslich alleinstehende junge Männer, die sich aus Angst vor einer möglichen Deportation nicht registrieren lassen wollen.

Die Gespräche mit ihnen über Fluchtgründe und Zukunftsvorstellungen sind wenig ergiebig, zumindest auf Englisch. Im Unterschied zu den Syrern, die nur noch einen Bruchteil der Migranten ausmachen, sprechen viele der jungen Afghanen und Pakistaner nur wenig Englisch. Aber vielleicht hat Shoaib recht, wenn er abwinkt und sagt, jeder wisse doch mittlerweile, weshalb die Afghanen ihr Land verliessen. Wenn es um das Reiseziel geht, ist nicht mehr wie noch im Sommer fast ausschliesslich von Deutschland die Rede. Genannt werden auch Frankreich, Italien und Schweden. «Aus Deutschland wird jetzt abgeschoben», weiss Abu Dakr. Die Männer scheinen recht gut informiert. Aber weshalb glauben sie dann felsenfest, dass die Grenzen bald wieder aufgingen?

Kälte, Hunger, Hoffnung

Wer die Lagerhalle nachts betritt, sieht erst einmal nichts. Zur nächtlichen Dunkelheit kommt der Qualm von kleinen Feuern, der in den Lungen brennt. Ein Gebläse pumpt warme Luft in die Halle. Die Temperatur ist knapp unter dem Gefrierpunkt. Die Schlafenden liegen unter Bergen aus Wolldecken. Am nächsten Morgen, das fahle Winterlicht dringt durch die Fensterlöcher, sind sie noch immer tief vergraben unter den Decken. Der Betonboden ist mit Eisenbahnschwellen aus Holz unterteilt. In jedem Rechteck schlafen drei bis acht Männer, die seit der Flucht aus ihrer Heimat zusammen sind. Nach diesen Gruppen ist das Lager auch organisiert. Manche haben ihre Habseligkeiten auf den Planken sauber geordnet, in anderen Gruppen herrscht Chaos. Der Boden dazwischen ist feucht und schmutzig. Über einem Feuer an der Mauer braten Shkeel und Mohamed Zuber in einer Pfanne Toast und Eier. «Pakistanisches Frühstück», scherzen sie. Das grösste Problem, sagt der 30-jährige Shkeel, sei die Hygiene. Es gibt draussen genau ein Wasserrohr, das oft zufriert. Die Notdurft wird zwischen den Hallen verrichtet.

Der Alltag in «Tora Bora» ist ein Kampf gegen Kälte, Hunger und Depression. Doch lebensgefährlich ist es hier nicht. Auch in der Stadt hat es nur ganz wenige Zwischenfälle mit Geflüchteten gegeben, meist waren es interne Auseinandersetzungen. «Hier wird jeder respektiert», sagt Shkeel. Grössere Gefahr droht jenen, die sich Schleppern anvertrauen, welche sie im Grenzgebirge erfrieren lassen oder in rasender Fahrt verunfallen. Beides ist mehrfach geschehen. Doch Shkeel hat ohnehin kein Geld für Schlepper. «Ich warte, bis die Grenze offen ist. Einen Monat, vier Monate oder zehn. Nur zurück – das geht nicht.» Shkeel hat zumindest die Geografie auf seiner Seite. Zur EU-Grenze sind es 100, nach Pakistan 5000 Kilometer.

Beitrag teilen

Kommentare geschlossen.