10. Januar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Aus dem Irak geflohen, in Bulgarien erfroren“ · Kategorien: Balkanroute, Bulgarien, Serbien · Tags: ,

Quelle: Zeit Online | 09.01.2017

Seit bald einem Jahr ist die Balkanroute abgeriegelt, und noch immer sind Tausende auf dem Weg nach Norden. Jetzt, im Winter, ist ihr Weg durch Europa lebensgefährlich.

Von Thomas Roser, Belgrad

Für den 21-jährigen Ökonomiestudenten Ibrahim aus der afghanischen Provinz Paktia ist diese eisige Nacht ohne Schlaf endlich vorbei. Fahles Winterlicht fällt durch die klaffenden Löcher im Dach des Hangars unweit des Belgrader Bahnhofs. Nur ein keuchender Husten zerreißt immer wieder die beklemmende Stille in der verrauchten Halle. An kokelnden Feuern versuchen sich Dutzende übernächtigter Gestalten aufzuwärmen. Andere liegen reglos auf dem bloßen Boden unter einem Berg verschmutzter Decken.

Auf minus 15 Grad waren die Temperaturen in der Nacht in Serbiens Hauptstadt gesackt. Ibrahim habe sich in alle seine Kleider und in drei Decken gehüllt, berichtet er: „Es war unerträglich. Selbst Tiere würden das kaum überleben.“ Mit zitternder Stimme berichtet der Mann mit dem lila Schal: „Irgendwann fühlst du deinen Körper nicht mehr, weißt du nicht mehr, ob es Tag oder Nacht ist, kannst du dich nicht mehr erinnern, wann und was du zum letzten Mal gegessen hast. Das ist der Zustand meiner Seele, meines Lebens. Ich fühle mich leer und weiß nicht mehr weiter.“

Asylgesuche werden missachtet

Erneut sind am Wochenende zwei irakische Flüchtlinge in einem bulgarischen Wald erfroren. Doch nicht nur die grimmige Kälte quält die unerwünschten Grenzgänger auf der sogenannten Balkanroute. Vor Jahresfrist wurden die in Richtung Westeuropa ziehenden Flüchtlinge noch von einem Heer von Hilfsinstitutionen eskortiert. Doch statt Mitgefühl schlägt ihnen auf der seit dem Frühjahr weitgehend abgeriegelten Route vermehrt Gleichgültigkeit oder gar offene Feindseligkeit entgegen: Die Polizei verschärft ihre Maßnahmen gegen die lästigen Transitflüchtlinge, unter anderem mit illegalen Abschiebungen.

Ein Asylgesuch wird inzwischen nicht nur in Ungarn bisweilen missachtet. Per Mobiltelefon alarmierte Helfer aus Belgrad vermochten Mitte Dezember eine Gruppe von sieben irakischen Asylbewerbern mit Kindern vor dem drohenden Kältetod zu retten: Sie waren bei einer offiziellen Überstellung von Belgrad in ein an der bulgarischen Grenze gelegenes Aufnahmelager von Uniformträgern aus dem Bus gezerrt, ihrer Papiere beraubt und bei minus elf Grad mitten in der Nacht in einem Wald ausgesetzt worden. „Dies war ein klarer Versuch der illegalen Deportation“, so Gordan Paunovic von der Belgrader Hilfsorganisation Info Park: „Wir hören darüber seit Monaten, aber hatten bisher dafür keine Beweise.“ Auch die jesuitische Flüchtlingshilfsorganisation JRS in Kroatien klagte zu Jahresbeginn über die zunehmende Anzahl von Fällen ungesetzlicher Abschiebungen von Asylsuchenden.

Die Feuer in der düsteren Belgrader Halle vermögen die schneidende Kälte kaum zu vertreiben. Er sei 21 Jahre alt, berichtet der fröstelnde Rohit. Seine Odyssee hat in dem Gesicht des Afghanen ihre Spuren hinterlassen. Er ist früh gealtert. Vor zwei Jahren sei er aus seiner Heimatstadt Kabul aufgebrochen. Meistens zu Fuß, manchmal sei er mit dem Auto unterwegs gewesen, erzählt er mit leiser Stimme: „Ich habe zu Hause meine Familie verloren. Für mich gibt es in Afghanistan nichts mehr, nur Krieg.“

Druck auf die Balkanroute

Trotz verstärkter Grenzkontrollen und Stacheldrahtbarrieren sollen seit der offiziellen Schließung der Balkanroute im März laut einem Bericht von Radio Free Europe mehr als 100.000 Transitflüchtlinge durch Serbien in Richtung Westeuropa geschleust worden sein. Die rigide Verschärfung der ungarischen Flüchtlingspolitik im Sommer hat die Balkanpassage zwar merklich erschwert. Doch nicht nur die regelmäßigen Verhaftungen von Schleppern und ihren Passagieren, sondern auch brechend volle Aufnahmelager und der anhaltende Andrang in den „wilden“ Durchgangslagern wie in dem tristen Backsteinbau am Belgrader Bahnhof zeugen in Serbien vom anhaltenden Druck auf der Balkanroute: Trotz stark gesunkener Flüchtlingszahlen gilt sie nach Einschätzung der deutschen Polizei noch immer als einer der wichtigsten Einreiserouten nach Mitteleuropa.

Wer noch Geld für Schlepper hat, kommt auch nicht sicher an

Er wolle nach Deutschland, Deutsch habe er schon in der Schule gelernt, sagt der ehemalige Gymnasiast Rohit. Über Pakistan, Iran, Türkei und Bulgarien sei er vor 45 Tagen nach Serbien gelangt. Doch an der ungarischen Grenze habe ihn die Polizei Ende November festgenommen – und sofort wieder nach Serbien abgeschoben. Seit mehreren Wochen lebt er schon in dem zugigen Backsteinbau, aber in ein offizielles Aufnahmelager wolle er nicht. Denn er habe von Landsleuten gehört, die nach ihrer Aufnahme kurzerhand von Serbiens Polizei nach Mazedonien oder Bulgarien abgeschoben worden seien. Er sagt: „Niemand kann in dieser Kälte schlafen. Alle warten auf den Morgen. Doch das größte Problem sind für uns die geschlossenen Grenzen.“ Auf mindestens 300 Menschen schätzt er die Zahl der Schicksalsgenossen in der Halle: „Niemand von uns hier hat noch Geld für Schlepper.“

Seit der Abriegelung der Balkanroute brummen die Geschäfte der Schlepperbanden trotzdem wieder. 67 völlig unterkühlte und zum Teil bereits bewusstlose Menschen konnte Kroatiens Polizei Mitte Dezember auf der Autobahn bei Novska aus einem nur zehn Quadratmeter großen Lieferwagen befreien. Im August 2015 waren 71 Menschen in einem an der österreichischen Autobahn aufgefundenen Lkw qualvoll erstickt. „Die Schlepper lassen sich nur durch Profit leiten“, sagt Nikola Kovac vom Belgrader Zentrum für Menschenrechte: „Die Leute lassen sich auf sie ein, weil sie keine andere Wahl haben.“

Flucht in den Tod

Doch auch mit den teuer bezahlten Grenzpassagen ist die erhoffte Ankunft am gewünschten Ziel keineswegs garantiert. Insgesamt 15 Menschen, darunter sieben Kinder, aus Afghanistan, dem Irak, Pakistan und Syrien hatten Schlepper Ende Dezember auf der Autobahn von Nis nach Belgrad in einen völlig überladenen VW Passat gestopft. „Der Fahrer trank Alkohol, rauchte und telefonierte, während er viel zu schnell fuhr“, umschrieb im Krankenhaus von Nis hernach der schwer verletzte Iraker Said Sama die fatale Todesfahrt: „Wir baten ihn immer wieder, endlich langsamer zu fahren. Aber er gab stets nur noch mehr Gas.“

In einer langen Kurve verlor der Fahrer schließlich die Kontrolle über das Gefährt und krachte in die Leitplanken. Zwei Afghanen starben auf der Stelle. Ein 15-jähriger Junge erlag wenig später in der Klinik seinen Verletzungen. Einer Frau mussten die Ärzte beide Beine amputieren. Vom geflüchteten Fahrer fehlt hingegen jede Spur: Es werde intensiv nach ihm gefahndet, versichert Serbiens Polizei.

Ob wegen der Bisse der auf sie gehetzten Polizeihunde in Ungarn oder der berüchtigten Knüppel prügelnder Grenzer in Bulgarien: Viele Gestrandete in der Belgrader Notunterkunft haben das Vertrauen in Europas Gesetzeshüter längst verloren. Er habe selbst gesehen, wie Polizisten im bulgarischen Lager Hamanli zwei Landsleute aus nächster Nähe mit Gummigeschossen niederstreckten und danach „wie von Sinnen“ auf deren blutige Körper eintraten, erzählt verbittert der Afghane Ibrahim: „Was haben wir getan, warum tut man uns das an?“

Verlorene Angehörige, zerbrochenes Leben

Serbien verhielt sich, wohl wegen der eigenen Kriegsvergangenheit, lange relativ wohlwollend gegenüber den Flüchtlingen. Doch nun registrieren Hilfsorganisationen, dass das Verständnis für die Nöte der Flüchtlinge sinke. Gleichzeitig würden Behörden den Hilfsorganisationen vorwerfen, durch ihre Betreuung die Leute außerhalb der Lager zu halten, berichtet Rados Djurovic, der Direktor des Belgrader Zentrums für den Schutz von Asylsuchenden: „Dabei schläft niemand freiwillig in solchen Löchern wie am Bahnhof. Die Leute wollen nicht in die abgelegenen Lager, weil sie Angst vor Deportationen haben – und die Zustände auch dort oft menschenunwürdig sind.“

Mit klammen Fingern zeigt der inzwischen vollbärtige Ibrahim beim Abschied auf seinem Handy die Fotos aus seinem glücklicheren, verlorenen Leben. Ein junger, glatt rasierter Mann posiert lächelnd mit der Schwester, den Eltern, Nichten und Neffen vor der Kamera. Fast niemand seiner Angehörigen sei noch am Leben, sagt er mit gebrochener Stimme. Es seien auch die Amerikaner und die Europäer gewesen, die den Krieg und die Waffen in seine Heimat gebracht hätten – und nun den Flüchtlingen aus Afghanistan die Zuflucht verwehrten: „Ich habe selbst gesehen, wie US-Soldaten den Taliban ihre Waffen verkauften.“ In der Heimat sei er seines Lebens nicht mehr sicher, und nach sechs Monaten auf seiner Flucht fühle er sich „nur noch schwach“: „Ich habe unterwegs so schreckliche Dinge erlebt. Wenn ich in Serbien eine Chance erhalten sollte, bleibe ich hier. Egal wo – ich will einfach nur einen Platz zum Leben.“

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