25. Juni 2016 · Kommentare deaktiviert für „Ungarische Transitzone: An der roten Linie“ · Kategorien: Balkanroute, Ungarn

Quelle: FAZ

Ungarn ist für seine harte Haltung in der Flüchtlingsfrage bekannt. Weiterhin gelangen Migranten aber ins Land. Was geschieht mit ihnen?

von Stephan Löwenstein, Budapest

Ostbahnhof Budapest: In der Unterführung hat das UN-Flüchtlingshilfswerk eine kleine Fotoausstellung aufgebaut. Sie zeigt Bilder vom vergangenen Sommer. Menschen, die auf Inseln ankommen, in Züge steigen, vor Grenzen warten, über Gleise und Autobahnen laufen. Die Texte handeln davon, dass Flüchtlinge Menschen sind wie du und ich, die eine Würde und Rechte haben. Symbolträchtig sind die Bildfolien auf Bauzäune gespannt. Die Gitter scheinen im Gegenlicht durch.

In dieser Unterführung sind vor einem Jahr immer mehr Menschen gestrandet, die sich aus Afrika und Asien über die Türkei, Griechenland und den Balkan auf den Weg gemacht hatten. In ungarische Camps wollten sie nicht. Weiter nach Westen, wohin sie eigentlich wollten, durften sie nicht. Die Zustände rund um die Budapester Bahnhöfe wurden immer ärger. Dann baute die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán ihre Grenzzäune und erließ strenge Strafen für deren Überquerung. Die Migranten, die im Land waren, durften nach Österreich und Deutschland weiterreisen. Später wurde auf Betreiben Österreichs auch die übrige Balkan-Route ab Mazedonien gesperrt. Zu. Dicht.

So hieß es jedenfalls immer wieder. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. In Wirklichkeit kommen längst wieder jeden Tag hundert bis zweihundert Menschen über Serbien nach Ungarn und über Ungarn nach Österreich – und das ist nur die Zahl der Personen, die von den Behörden bemerkt werden. Scheuen die Durchreisewilligen nicht vor der Drohung zurück, bei illegalem Grenzübertritt bis zu drei Jahre, bei Beschädigung des Zauns sogar bis zu fünf Jahre ins Gefängnis zu kommen? Und was ist mit denen, die durch das Nadelöhr der sogenannten Transitzonen kommen, in denen Ungarn nach wie vor Asylanträge annimmt, um dem Buchstaben nach seinen Verpflichtungen aus der Flüchtlingskonvention und europäischen Dokumenten nachzukommen?

Niemand wird festgehalten.

Eine dieser Transitzonen ist am Grenzübergang bei Röszke, neben der Autobahn Budapest-Belgrad. Das Areal ist nach Ungarn hin hoch eingezäunt und wird von Bewaffneten bewacht. Links steht eine vielleicht hundert Meter lange Reihe blau gestrichener Container. Darin werden Asylbegehren angenommen: 15 pro Tag. Anfangs hieß es, die Verfahren sollten auch gleich dort abgewickelt werden. In jeder Transitzone sollen sich 50 Flüchtlinge gleichzeitig aufhalten können. Das für die ungarischen Behörden Praktische an der Idee: Niemand wird festgehalten. Wer will, kann nach Serbien zurückgehen, doch ins Land kommt auch keiner, bis sein Antrag bewilligt wurde. Aber das wird bislang kaum so praktiziert. Knapp 4800 Asylanträge wurden im ersten Halbjahr 2016 an den Transitzonen eingereicht, 3800 Antragsteller hat man in ein Aufnahmezentrum weitertransportiert. Familien mit Minderjährigen, Alte, Kranke und Behinderte würden bevorzugt, heißt es.

Auf dem Kiesstreifen zwischen den Containern und dem Zaun spielt eine Handvoll Kinder. Eine blonde Polizistin und zwei Soldaten mit Sturmgewehr bauen sich am verriegelten Tor auf und weisen durchs Gitter hindurch die Bitte ab, sich umsehen zu dürfen. Es scheint, als wollten die Behörden nicht, dass man genau hinsehen kann.

Auf der anderen Seite der Grenze

Auf der anderen Seite der Grenze beherbergt ein aus der Entfernung malerisch wirkendes Zeltdorf die auf Einlass Wartenden. Dagegen, sich dort umzusehen, haben die Ungarn nichts. Aber die Serben. Kaum hat ein Gespräch mit den Leuten vor dem Zaun begonnen, eilen zwei Männer im Overall mit einer aufgenähten serbischen und einer Europaflagge herbei. Es ist ein Wachdienst, der die Polizei verständigt. Die kommt in einem kleinen Trupp und weist höflich, aber bestimmt zum Grenzübergang zurück. Bis dahin reicht es immerhin für einen Blick umher und ein paar Worte. Auf der mit hüfthoch blühendem Unkraut bestandenen Wiese stehen 80 bis 100 Unterschlupfe, teils Campingzelte, teils provisorisch zusammengehängte Hütten aus Decken und Planen. Eine Waschgelegenheit ist nicht zu sehen, ihre Notdurft verrichten die meisten wohl in der Wiese. Von nahem ist es nicht mehr so malerisch.

Ein junger Mann, er nennt sich Farhad aus Afghanistan, ist seit 14 Tagen hier. Er will nach Frankreich gehen. Geflohen sei er wegen des Krieges in seiner Heimat. Drei Monate habe die Reise über Pakistan, Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien gedauert. Wie Farhad die vermeintlich geschlossene Balkan-Route bewältigt hat, lässt er offen. Schleuser? Farhad schweigt vielsagend. Shakrullah, der schon seit 35 Tagen hier wartet, spricht Deutsch. Er habe in Afghanistan für die Entwicklungsgesellschaft GIZ gearbeitet. Sechs Jahre lang, ein Verwandter sogar zehn Jahre. Aber als es darum ging, dass sie Asyl haben wollten, „sagten sie, sie zahlen, wir arbeiten. Fertig.“ Shakrullah ist über die Türkei und Bulgarien nach Serbien gelangt. „In Bulgarien gab es viele Probleme. 45 Tage im Lager – ich sage, das ist Gefängnis. Sie hören nicht, was ich sage.“ Auf die Frage, ob er geschlagen worden sei, antwortet er nicht.

Im Wartecamp

Hier im Wartecamp werde man immerhin versorgt, sagt Farhad, und zwar von ungarischer und serbischer Seite. „Sie geben uns Essen und Decken.“ Wer bestimmt, wer hineinkommt, wenn die Türe des Containers sich öffnet? Es gebe eine Liste. Wer neu komme, werde hintenangesetzt. Es gebe keine Priorität, außer bei sehr ernsthaften Verletzungen. Die meisten hier seien Afghanen, Iraner, Pakistaner. Aber es gebe auch Leute aus Kuba. Aus Kuba? Ja, Kuba. Mehr weiß Farhad dazu auch nicht zu sagen.

Diesem Rätsel etwas näher, wenn auch nicht wirklich zu einer Klärung, kommt man in Tompa. Dort gibt es auch eine Transitzone, und das wilde Wartelager befindet sich gleich neben der Fahrspur zum Zoll für Lastwagen. Ein roter Strich auf dem Asphalt markiert den Grenzverlauf. Es entwickelt sich eine groteske Szene: Die serbischen Polizisten untersagen es, Gespräche mit den Wartenden auf der serbischen Seite zu führen. Diese wiederum dürfen die Grenze nach Ungarn nicht überschreiten. So steht man sich schließlich an dem roten Strich gegenüber, der Journalist auf der einen, die Campierenden auf der anderen Seite, beäugt von Polizisten, die darauf achten, dass kein Fuß den roten Strich berührt. Das Gespräch, das auf diese Weise zustande kommt, ist zäh. Dann betritt Ruby die Bühne. Ruby hat eine dunkle Stimme und die Gestalt eines Mannes, trägt jedoch Frauenkleider und hat einen dezenten Busen. Ruby stammt aus Kuba und will nach Deutschland. Wozu? Warum ist sie aus Kuba weggegangen? Dazu macht Ruby nur eine unbestimmte Handbewegung. Aber die letzten sieben Monate, sagt sie, sei sie in Russland gewesen. Und da habe sie wirklich nicht bleiben wollen.

„Wir wollen unser Leben in Europa führen“

Zurück nach Röszke. Was erwartet Farhad für sich, wenn er dann einmal eingelassen worden ist? „Wir wollen nur in die offenen Lager. Wir wollen unser Leben in Europa führen.“ Meint er die offenen Lager in Ungarn? Ja, die. Aber er will nicht in Ungarn bleiben, oder? Farhad versteht die Frage gar nicht. Der Begriff „offenes Lager“ bedeutet für ihn, dass es dann weitergehen kann – gen Westen.

Fast dreimal so viele Leute, wie durch die Transitzone nach Ungarn tröpfeln, sind in Behördengewahrsam gekommen, nachdem sie über die grüne Grenze ins Land gesickert waren. Darauf stehen eigentlich hohe Strafen. Im südungarischen Szeged wurden zeitweise im Zehnminutentakt Strafverfahren wegen Grenzverletzung geführt. Die Rechtsanwältin Timea Kovacs kritisiert die Verfahren: Die Angeklagten bekämen ihre Pflichtverteidiger oft nur zweimal zu Gesicht: beim Verhör und in der Verhandlung, die mechanisch abgespult werde. Oft gleiche ein Protokoll dem anderen, bis auf die Namen.

Mäßige Strafen

Allerdings sind die Strafen mäßig. In der Regel variieren sie zwischen einem und zwei Jahren Einreiseverbot nach Ungarn – und natürlich der Abschiebung. Ungarn hat kein Interesse daran, Menschen, die es gar nicht im Land haben will, zu Tausenden in seine Gefängnisse zu stecken. Inzwischen finden in Szeged kaum mehr solche Verfahren statt. Die Regierung in Budapest hofft auf die Wirkung eines neuen Gesetzes: Wer im Radius von acht Kilometern von der Grenze aufgegriffen wird, kann gleich nach Serbien zurückgeschoben werden. Zumal es sonst mit der Abschiebung so eine Sache ist: Abschiebeverfahren sind für Ungarn genauso zäh und langwierig wie für andere europäische Staaten. Die Grenzverletzer stellen derweil zumeist Antrag auf Asyl, kommen zunächst in ein geschlossenes Camp und über kurz oder lang in ein offenes Camp.

Während über die Schließung einiger dieser Einrichtungen diskutiert wird, ist in Körmend erst vor einigen Wochen eine eingerichtet worden. Das sei aus logistischen Gründen erfolgt, hieß es offiziell, in der dortigen Polizeischule sei Platz. Es hat aber noch eine weitere Bewandtnis mit Körmend. Acht Kilometer weiter beginnt Österreich. Kaum zu glauben, dass sich in ganz Ungarn kein anderer geeigneter Ort für so eine Einrichtung finden ließ. Auch sie darf nicht besichtigt werden. In der Mittagsschwüle sind nicht viele Menschen in dem Ort auf der Straße, am Bahnhof drückt sich eine Gruppe Jugendlicher mit dunklerer Haut herum. Sie kommen aus Afghanistan, aber ihre Namen möchten sie nicht nennen. Möchten sie nach Österreich? Keine Antwort. Wollen sie mit dem Zug fahren? Nein. Das ist glaubhaft, denn in den Zügen wird an der Grenze kontrolliert. Wissen sie denn, in welcher Richtung es nach Österreich geht? O ja, sagen drei gleichzeitig und winken in Richtung Westen. Dort, im Westen, hat kürzlich der österreichische Verteidigungsminister gesagt, man stehe in einem sehr guten Kontakt zu den ungarischen Kollegen und man würde es sehr gern, wenn es nur irgend möglich wäre, vermeiden, einen Zaun an der Grenze zu Ungarn bauen zu müssen.

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