25. Juni 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingschaos in Sizilien: Vom Elend in die Not“ · Kategorien: Italien, Mittelmeerroute

Quelle: Spiegel Online

Die Flüchtlingskrise ist auch eine Geschichte des Wartens und Verharrens: In Sizilien sind Migranten mitunter seit Jahren arbeits-, perspektiv- und obdachlos. Sie hoffen trotzdem auf ein würdiges Leben.

Aus Palermo berichten Peter Maxwill und Valentino Bellini (Fotos)

Gagan wartet jetzt schon seit fast drei Jahren. Gemeinsam mit seinem Freund Babaka tänzelt der 28-Jährige mit wippenden Schritten durch das Eingangstor der Missione di Speranza e Carità, einer katholischen Obdachlosenunterkunft nahe des Hauptbahnhofs von Palermo. Vielleicht, sagt Gagan, kann er irgendwann wieder als Fischer arbeiten. Vielleicht wieder in Gambia leben. Vielleicht eine Familie ernähren.

Babaka, ein hochgewachsener Kerl mit Schirmmütze und Bubengesicht, lächelt ihn traurig an. Wahrscheinlich wird keiner dieser Träume wahr.

Die beiden Afrikaner sind Überbleibsel der ersten großen Flüchtlingskrise in Sizilien. Im Herbst 2013 erreichten sie in einem Boot mit 120 Insassen Sizilien, wie Gagan erzählt, als fast gleichzeitig vor der Mittelmeerinsel Lampedusa Hunderte andere Flüchtlinge ertranken. Inzwischen hätten sie offiziell Asyl in Italien, sagt Gagan – aber sie sind arbeitslos, obdachlos, perspektivlos. In Palermo warten sie auf ein besseres Leben, so wie es Hunderttausende Menschen in ganz Europa tun.

An diesem Sommerabend machen die beiden mal wieder einen ihrer Spaziergänge durch die Straßen rund um den Mercato Balarò, das chaotische Zentrum des Albergheria-Viertels. An kaum einem anderen Ort in Palermo lässt sich auf so engem Raum beobachten, wie Europa an der Integration der Zuwanderer aus Krisengebieten scheitert.

Das Altstadtviertel, in dem sich der Duft orientalischer Gewürze und der Lärm aus Autos und Musikboxen zu einer übervollen Kulisse vermengen, hat sich in den vergangenen Jahren zum sozialen Brennpunkt entwickelt. „Das wird hier gerade ein Getto“, sagt ein Sozialarbeiter aus dem nahegelegenen Flüchtlingsheim Centro Astalli, „voller Migranten und voller Probleme.“

Für Menschen wie Gagan ist das Getto zur Heimat geworden. Im Innenhof der Kirche Santa Chiara spielen Flüchtlingskinder Fußball, vor dem Gotteshaus hocken rund zwei Dutzend afrikanische Einwanderer im Centro Senegalese, einer Mischung aus Kulturzentrum und verlotterter Bar. Immer wieder grüßt Gagan andere Afrikaner, die in einer ähnlich aussichtslosen Situation sind. Er umarmt sie oder gibt höflich die Hand, er plaudert auf Italienisch, Englisch oder in seiner Stammessprache Mandinka.

Was die Zukunft bringt? Gagan lacht auf. „Seitdem hier immer mehr Migranten ankommen, ist es noch schwieriger, Arbeit zu finden“, sagt er. „Nicht mal Oliven pflücken lassen sie mich noch.“ Das sei aber zumindest für seine Gesundheit gut, fügt er grinsend hinzu und zeigt seine Hände: Schwielen, tiefe Risse in der Hornhaut. Seit er kaum noch Arbeit finde, sei ihm klar geworden, dass Europa sich in einer Krise befinde. Seine Flucht habe er trotzdem nie bereut: „In Afrika ist es ja viel schlimmer, da ist überall Krise.“

Nicht nur in Sizilien warten Flüchtlinge auf alles mögliche, sondern in vielen Teilen der Welt: Während derzeit wieder viele Menschen etwa in Pakistan, Syrien oder Eritrea ihre Reise in ein neues Leben vorbereiten, hoffen allein an der libyschen Küste Zehntausende auf eine baldige Überfahrt nach Europa. Dort wiederum warten Hunderttausende auf ihre Anerkennung als Flüchtling, auf ihre Weiterreise nach Nordeuropa, auf Job, Wohnung, Familie. Und der ganze Kontinent wartet auf eine Lösung des Verteilungsproblems.

In Palermo wird es langsam dunkel, Gagan ist aber noch immer unterwegs. Plötzlich bleibt er mitten auf einer Straßenkreuzung stehen, mit einem schrillen Schrei macht er eine Kehrtwende und umarmt einen anderen Mann mit hoher Stirn und vielen Zahnlücken. „Das ist ja Wahnsinn“, brüllt Gagan und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht: Vor sechs Jahren hätten sie sich in Libyen angefreundet – und sich seitdem nie wieder gesehen.

Wenigstens dieses Warten hat nun ein Ende.

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