22. Juni 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingschaos in Sizilien: Helfer ohne Hilfe“ · Kategorien: Italien, Mittelmeerroute

Quelle: Spiegel Online

Sizilien droht an der Unterbringung Tausender Flüchtlinge zu scheitern: Helfer beklagen „menschenunwürdige Bedingungen“, viele Lager sind völlig überfüllt. Wut macht sich breit – bei allen Beteiligten.

Aus Catania, Pozzallo und Palermo berichten Peter Maxwill und Valentino Bellini (Fotos)

Unter dem grellblauen Himmel von Pozzallo riecht es nach Meer, die Sonne brennt Omar auf den Krauskopf. Lethargisch hakt sich der 16-Jährige in die meterhohen Stahlgitter, die das zentrale Erstaufnahmelager in dem kleinen Hafenstädtchen umrahmen. „Sie sagen mir nicht, wohin es für mich weitergeht“, klagt er mit kaum hörbarer Stimme – „oder wann“.

„Sie“, damit meint der Junge aus Gambia die italienischen Behörden, die den sogenannten Hotspot im äußersten Süden Siziliens betreiben: gelbe Hallen und rostende Container direkt am Meer, umgeben von Mauern und Zäunen. Dort lebt Omar nach eigenen Angaben seit drei Wochen, nachdem italienische Rettungskräfte ihn und 130 andere Flüchtlinge aus einem Boot gerettet hätten, irgendwo da draußen auf dem Meer. „Ich trage seit drei Wochen die gleichen Klamotten“, sagt er, „dabei will ich doch nur zur Schule gehen und Fußball spielen.“

Andere Bewohner berichten von Langeweile oder mäßigem Essen, manche loben aber auch die Gastfreundschaft ihrer Betreuer. Wie kritisch die Situation in dem Lager tatsächlich ist, lässt sich von unabhängiger Seite kaum beurteilen. Innen bewachen Polizisten das Gelände, draußen patrouillieren schwer bewaffnete Soldaten der „Operation Sichere Straßen“. Der Zutritt sei äußerst schwierig, räumt eine Sprecherin der zuständigen Präfektur in der Provinzhauptstadt Ragusa auf Nachfrage ein: „Seit Januar hat in Pozzallo kein Journalist mehr Zugang erhalten.“ Wollen die Behörden die Zustände im Hotspot verheimlichen?

Vieles spricht dafür, dass es gravierende Probleme gibt. So haben Ärzte ohne Grenzen die Arbeit in dem Hotspot wegen der unwürdigen Lebensbedingungen komplett eingestellt. Die Hilfsorganisation hat ihr Büro inzwischen nach Catania verlegt, anderthalb Autostunden weiter nördlich an der Ostküste Siziliens.

Dort sitzt Teamchef Andrea Anselmi, gestreiftes Hemd und Dreitagebart, mit seinen Kollegen an diesem heißen Nachmittag im schattigen Innenhof. Im Februar hat er Pozzallo verlassen, seitdem plant er ein neues Projekt in Sizilien, wie der 33-Jährige sagt: Traumatisierte und verletzte Flüchtlinge wollen sie künftig in spezialisierte Krankenhäuser vermitteln, wo sie von Ärzten, Pflegern und Psychologen betreut werden. „Die Flüchtlinge kommen oft körperlich genesen aus dem Krankenhaus – brauchen dann aber noch eine Psychotherapie“, sagt Anselmi. In seinem Projekt sollen die Patienten von Anfang an ganzheitlich behandelt werden.

Warum das nicht von Pozzallo aus geklappt hat? Psychologin Aurelia Barbieri, die neben Anselmi sitzt, schaut betreten zu Boden. Die 38-Jährige spricht von bedrückender Enge, Duschen ohne Vorhänge, Toiletten ohne Türen. Nicht einmal ihre Familien in der Heimat hätten die Bewohner von Pozzallo aus problemlos anrufen können, sagt Barbieri: „Das entspricht keinen würdigen Lebensumständen.“ Alle Versuche, bei der Präfektur in Ragusa eine Verbesserung der Lage zu erreichen, seien gescheitert.

Inzwischen beschäftigt sich das italienische Parlament mit dem Fall, Ärzte ohne Grenzen haben dem zuständigen Ausschuss in Rom einen Bericht vorgelegt, eine Mischung aus Mängelliste und Anklageschrift: „Hygienische Missstände, keine Instandhaltung, menschenunwürdige Rahmenbedingungen.“ Seit Kurzem lehnt die Organisation sämtliche finanziellen Zuschüsse der Europäischen Union ab – aus Protest gegen die für solche Probleme verantwortliche Flüchtlingspolitik.

Pozzallo ist kein Einzelfall, auch in anderen Unterkünften berichten Mitarbeiter von Überforderung, Überfüllung, Überlastung; in der Altstadt Palermos etwa, wo das Caritas-Erstaufnahmezentrum Centro Santa Rosalia steht. Vor dem zwischen Gebäudeklötzen versteckten Heim plaudert eine Zivildienstleistende mit dunkelhäutigen Jugendlichen, sie soll in diesem Text Sara heißen. Ihren richtigen Namen will die 29-Jährige nicht nennen, über die Situation in der Einrichtung aber spricht sie: „Eigentlich sollen sie nur für einige Tage bei uns sein“, sagt Sara und blickt auf die Jungen am Straßenrand, „aber viele sind schon seit Monaten hier.“

Was das für die jungen Leute bedeutet, die fast alle aus Gambia, Guinea und Ghana kommen? Grausame Langeweile. „Wir dürfen im Grunde nichts mit ihnen machen“, sagt Sara: Für Sprachkurse oder die Vermittlung von Praktika sind in Italien vor allem die Aufnahmezentren des staatlichen „Schutzsystems für Asylbewerber und Flüchtlinge“ (SPRAR) zuständig. Die aber sind in Sizilien schon jetzt fast vollständig ausgelastet – ebenso wie alle anderen Unterkünfte. Im Centro Santa Rosalia etwa werden bei Bedarf auch Betten in der angrenzenden Kirche aufgestellt, wenn die Zimmer im Heim belegt sind.

„Das alles ist frustrierend“, sagt Sara, „die Behörden haben uns komplett allein gelassen.“ Ganz abwegig ist diese Klage nicht: Eigentlich sollen Neuankömmlinge zügig in die SPRAR-Zentren im ganzen Land verteilt werden, stattdessen ist Sizilien längst die heillos überfüllte Empfangshalle des Kontinents: In den Häfen von Palermo und Pozzallo, Trapani und Catania, Agrigento und Siracusa kommen derzeit Hunderte Migranten an. Pro Woche.

Die italienischen Behörden kennen die Probleme, und sie sprechen sie auch an. Erst Ende Mai beschwerte sich die Vizepräsidentin der Autonomen Region Sizilien, Mariella Lo Bello, bei der EU-Kommission: „Das Migrationsproblem kann nicht weiterhin ein rein sizilianisches bleiben“, sagte sie in Brüssel.

Dabei scheitert Italien, wo zudem die rechtspopulistische Lega Nord das Thema für sich ausschlachtet, schon im eigenen Land an der Verteilung der Neuankömmlinge: Zuletzt hatte das Innenministerium die Präfekten von 80 Provinzen aufgerufen, sich über die kurzfristige Verteilung von 5600 Flüchtlingen zu einigen. Denn deren Unterkünfte in Sizilien und Kalabrien sind schon seit Monaten überfüllt: In Palermo waren im März Hunderte Migranten auf die Straße gegangen. Sie demonstrierten für mehr Privatsphäre.

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