30. April 2016 · Kommentare deaktiviert für Frankreich: Institutioneller Rassismus und drohender „autoritärer Polizeistaat“ · Kategorien: Frankreich, Hintergrund, Lesetipps · Tags:

Quelle: NZZ

Die Gefahren des Front national

Die drohende Abschaffung der Freiheit in Frankreich

Kommentar von Andres Wysling

In einem Jahr wählt Frankreich einen neuen Präsidenten. Erstmals hat der Front national gute Erfolgschancen. Die Folge wäre ein autoritärer Polizeistaat, der Rückfall ins Ancien Régime.

Marine Le Pen wird Präsidentin Frankreichs, die extreme Rechte übernimmt die Macht – was bis vor kurzem ausgeschlossen schien, rückt zunehmend in den Bereich des Wahrscheinlichen. Es drohen die Aushebelung des Rechtsstaats, die Abschaffung der demokratischen Verfahren, die Einschränkung der Medien, in Summe die Abschaffung der Freiheit, denn das ist das eigentliche Programm des Front national. Im Übrigen verspricht der Front national einfache Lösungen für komplexe Probleme und gewinnt damit an Anhang. Terrorverdächtige sperrt man ein, oder man weist sie aus. Unerwünschte Einwanderer aus Nordafrika und Osteuropa schickt man nach Hause. Die Globalisierung der Wirtschaft stellt man durch Abschottung einfach ab. Dazu gibt es Wahlgeschenke, bis hin zu billigeren Bahntarifen. Die Wahlen finden in einem Jahr statt.

Aber was verspricht die Konkurrenz? Über weite Strecken ungefähr das Gleiche; es fällt zunehmend schwer, Unterschiede im politischen Reden und Handeln festzustellen. Präsident François Hollande und sein Premierminister Manuel Valls pflegen die Kriegsrhetorik gegen die Islamisten und rudern im Übrigen opportunistisch-ziellos herum. Das Gezerre um Arbeitsrecht, Kündigungsschutz und 35-Stunden-Woche bringt voraussichtlich für die Wirtschaft keinen Befreiungsschlag und keine neuen Arbeitsplätze, dafür viel Groll bei Leuten, die ihre Vorrechte und Vorteile in Gefahr sehen. Die Sozialisten gehen einer sicheren Niederlage entgegen, sie sind ausgezählt.

Wille und Macht

Bei den Bürgerlichen hat Nicolas Sarkozy schon immer auf «Recht und Ordnung» gepocht, jetzt verspricht er noch mehr davon. Er bleibt sich selber treu, wirkt aber verbraucht, der einstige Glanz des Reiters auf dem sehr weissen Schimmel ist weg. Sein parteiinterner Widersacher Alain Juppé scheint eher den sogenannten republikanischen Werten und bürgerlichen Freiheiten verpflichtet. Aber er hat zwei Nachteile: Er wurde verurteilt wegen widerrechtlicher Parteifinanzierung, und er ist 70 Jahre alt. Er ist nicht der Mann, der einen Aufbruch versprechen oder verkörpern könnte. Neuen Schwung aber hätte Frankreich durchaus nötig.

Die Wahl in einem Jahr wird voraussichtlich zwischen der Rechten und der extremen Rechten entschieden. Der Ausdruck «extreme Rechte» ist in Frankreich eingebürgert. Er unterstellt, dass der Front national sich ausserhalb des Bereichs der Verfassungsmässigkeit positioniert. Das war unter dem alten Haudegen Jean-Marie Le Pen offensichtlich so; er vertrat ein politisches Weltbild, das seinen Ursprung im Faschismus hatte. Seine Tochter Marine Le Pen hat der Partei Mässigung verschrieben – allerdings bestehen Zweifel, ob das ernst gemeint ist oder ob nur die alte Fratze mit Schminke geschönt wird. Was Marine Le Pen verspricht:

  • Die Führerin. «Ich werde die Islamisten in die Knie zwingen.» Der Satz, so und ähnlich schon mehrfach wiederholt, bringt das Denken der Präsidentschaftskandidatin auf den Punkt. Das «Ich» ist die Führerin mit ihrem Willen und ihrem unbedingten Machtanspruch; sie ist die allein entscheidende Instanz, sie bestimmt das Handeln. Sie braucht einen Feind, um sich zu entfalten. Dieser wird in einem Kraftakt erniedrigt und gebodigt; ihn einfach auszuschalten, reicht nicht aus. Ein anderes Ergebnis als das gewünschte ist in diesem Ringen ausgeschlossen. Die Geschichte muss sich den Plänen Marine Le Pens fügen.
  • Starker Staat. Der Staat – in den Händen der Führerin – ist allmächtig, Ordnung wird zum Selbstzweck, der Bürger hat zu parieren. Die Polizei erhält erweiterte Befugnisse; die allgemeine Mobilmachung zum Kampf gegen den Terrorismus bietet die Rechtfertigung. Dem wird derzeit von der sozialistischen Regierung unter Mittun der konservativen Opposition schon vorgespurt. Im herrschenden Ausnahmezustand ist der Bürger auf Verdacht hin ohne richterlichen Schutz der Polizei ausgeliefert. Die unzimperlichen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen vom November und Dezember haben gezeigt, was die Staatsmacht in Frankreich alles darf und kann, wenn sie einmal losgelassen ist. Kritik der Medien und wohl auch rechtsstaatliches Empfinden der Regierenden selbst haben ein Einhalten bewirkt. Solches Augenmass ist bei den Le Pens nicht unbedingt zu erwarten.
  • Zweiklassengesellschaft. «Priorität den Franzosen» ist eine Hauptforderung des Front national: Priorität bei der Stellensuche, bei der Wohnungssuche, in der Sozialversicherung. Als Franzosen gelten auch für den Front national alle Leute mit einem französischen Pass, bis auf weiteres zumindest. Tendenziell sind aber nur mehr oder weniger reinrassige Gallier gemeint; das «ius soli», dem gemäss jeder Staatsbürger ist, der in Frankreich geboren wird, soll abgeschafft werden. Ausbürgerungen sollen ermöglicht werden, insbesondere von Doppelbürgern, etwa bei Terrorverdacht. Auch da haben die amtierende Linksregierung und die rechte Opposition den Boden schon bereitet.
  • Keine Eigeninitiative. Zum Konzept des starken Staats gehört als Kehrseite, dass jede politische oder wirtschaftliche Eigeninitiative grundsätzlich verdächtig, wenn nicht überhaupt unerwünscht ist. Persönliches Vorankommen, gesellschaftliche Veränderungen sind nur mit Lizenz der Staatsbeamten möglich.
  • Abschottung. Die Europäische Union und der Euro werden verteufelt. Marine Le Pen will ihr eigenes Geld drucken – so geht es ihr nicht aus. Das eigentliche Wesen Frankreichs ist in ihrer reaktionären Rückwärtsschau agrarisch und beruht auf Selbstversorgung. Es fliessen Milch und Honig wie einst, es blüht die subventionierte Bauernsame. Es blüht auch die Industrie hinter hohen Zollschranken, dem Wettbewerb entzieht man sich. Es wird nicht die Frage gestellt, warum zum Beispiel eine Marke wie Citroën, einst innovativ und stilbildend, vom Weltmarkt zu verschwinden droht. Die Globalisierung ist schuld. Was denn sonst?

Zurück ins Ancien Régime

Frankreich soll nach den Vorstellungen von Marine Le Pen und ihres Front national wieder eine Insel der mehr oder weniger Seligen werden, wie einst im Ancien Régime. Im Grunde verspricht die Partei nichts anderes als die Rückkehr in Zeiten vor der Französischen Revolution und vor der Aufklärung, eine Rückkehr in den Feudalismus, in eine weit entfernte Zeit, da Frankreich noch gross und die Welt noch in Ordnung war, wo jeder Mensch seinen Platz hatte – der König ebenso wie der Untertan.

Ein Wahlsieg der extremen Rechten in Frankreich wird möglich, wenn die Allianz der sogenannten republikanischen Parteien zerbricht. Er bedeutet, falls er eintritt, voraussichtlich das Ende von Demokratie und Rechtsstaat im Lande Voltaires, mit Wirkung über Frankreich hinaus. Der Polizeistaat ist nicht fern, zumal die sozialistische Regierung und die bürgerliche Opposition den Weg dazu ein Stück weit schon geebnet haben. Putin im Osten, Le Pen im Westen, dazwischen die Feinde einer freiheitlichen Ordnung in Polen und Ungarn – Europa droht ein Rückfall in Zustände, die man eigentlich überwunden glaubte.

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