11. April 2016 · Kommentare deaktiviert für «Niemand im Nahen Osten glaubt mehr an Europas Rolle als Hüter der Menschenrechte» · Kategorien: Jordanien, Lesetipps, Syrien

Quelle: Tageswoche

Migrationsforscher Kamel Dorai studiert von Jordanien aus die aktuellen Flüchtlingsbewegungen im Nahen Osten. Nach einem Gastvortrag an der Universität Basel sprachen wir mit ihm über den arabischen Umgang mit syrischen Flüchtlingen, Solidarität zwischen Nachbarn und den Reputationsverlust Europas.

Von Samuel Schlaefli

Kamel Dorais Faszination für den Nahen Osten begann vor 20 Jahren. Während seines Studiums – Geografie, weil er darin die besten Chancen zum Reisen sah – besuchte er erstmals Jordanien. Bald darauf den Libanon, Syrien und die palästinensischen Gebiete.

Das war in den Neunzigerjahren, noch bevor eine Mauer die palästinensischen Gebiete von Israel abschnitt, als der Libanon einen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung erlebte und die alten Moscheen in Damaskus lebendige Orte waren, wo Muslime, Christen und Drusen ein und aus gingen – zum Spielen, Singen und Beten. «Wer erst einmal seinen Fuss in den Nahen Osten gesetzt hat, der kommt nicht mehr davon los», sagt der Franzose heute.

Trotzdem hat Dorai die Region manchmal satt. «Es ist deprimierend mitanzusehen, wie die Spannungen zunehmen, der Hass wächst und sich die gesamte Region in eine falsche Richtung entwickelt.» Wie soll er seinen drei Kindern den ganzen Wahnsinn im Nahen Osten noch plausibel erklären?

Herr Dorai, Sie leben seit zwei Jahren in Amman, der Hauptstadt Jordaniens. Das kleine Land hat seit Beginn des Kriegs in Syrien mehr als 600’000 Flüchtlinge aufgenommen. Wie hat sich dadurch der Alltag verändert?

In den 90ern, nach Beginn des Golfkriegs, eröffneten irakische Flüchtlinge überall in der Stadt Bars, Kaffees, Restaurants und Ateliers. Aktuell passiert dasselbe mit den Syrern – und die Jordanier lieben es! Früher gingen viele Jordanier zum Vergnügen nach Damaskus, wegen des leckeren Essens, wegen der Kunstszene und der belebten Strassen und Märkte. Nun haben sie das in der eigenen Stadt. Weil Jordanien zudem eines der letzten sicheren Länder in der Region ist, haben sich in Amman viele Intellektuelle und Künstler aus Damaskus, Bagdad und Palästina niedergelassen. Und auch für viele NGOs aus aller Welt wurde Amman zur ersten Wahl.

Das klingt, als würde Amman zum London des Nahen Ostens.

Genau. Amman haftete lange Zeit ein provinzielles Image an. Nun hat es ein sehr kosmopolitisches Flair – dank der Flüchtlinge.

Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass alle Jordanier die Flüchtlinge in erster Linie als kulturelle Bereicherung wahrnehmen.

Natürlich ist die Lage in den Dörfern und Städten im Norden Jordaniens, wo die Menschen den Flüchtlingswellen am stärksten ausgesetzt sind, problematischer. In manchen Gemeinden hat sich die Einwohnerzahl in zwei Jahren verdoppelt. Es fehlt die Infrastruktur für ein derartiges Wachstum. Trotzdem haben wir auf lokaler Ebene bisher eine ausgeprägte Solidarität mit den syrischen Flüchtlingen beobachtet.

Bei vielen Europäern erzeugen die aktuellen Flüchtlingsströme Ängste und Ablehnung. Gibt es im Gegensatz dazu eine typisch arabische Reaktion darauf?

Es herrscht eine von der Mehrheit geteilte Haltung vor, dass die Grenzen für Flüchtlinge offen sein müssen und dass es die Verantwortung jedes Einzelnen sei, sein Bestes zu tun, um die Hilfsbedürftigen zu beherbergen. Bei einer Krise können Araber auf sofortige Hilfe innerhalb ihres persönlichen Netzwerks zählen – dafür braucht es keine formellen Strukturen oder Entscheide. Das ist sehr hilfreich.

Wie erklären Sie sich diese arabische Solidarität?

Die Absorption verschiedener Migrationswellen ist Teil der Identität der meisten Staaten im Nahen Osten. Dafür ist Jordanien ein Paradebeispiel: Das heutige Staatsgebiet von Jordanien gehörte einst zu grossen Teilen zu Palästina und Syrien; das Land war nur spärlich bewohnt. Ab 1948 kamen die palästinensischen Flüchtlinge, die bald die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. Die zivilgesellschaftlichen Strukturen, die damals in vielen arabischen Ländern als Reaktion auf etwa 700’000 palästinensische Flüchtlinge aufgebaut wurden, helfen nun auch bei der Integration der Syrer. Später folgten die Libanesen, die vor dem Bürgerkrieg flohen, und danach irakische Flüchtlinge als Folge der Golfkriege. Die meisten Menschen im Nahen Osten wissen, was es heisst, in Not zu sein, weil sie einst selbst auf Asyl und Hilfe angewiesen waren. In Jordanien setzt sich die Bevölkerung auch heute noch zur Hälfte aus ehemaligen Flüchtlingen zusammen.

Inwiefern spielt der oft gepriesene Familienzusammenhalt in arabischen Familien eine Rolle bei der Versorgung der Flüchtlinge?

Die meisten Araber haben Verwandte in Nachbarländern. So gehören die Menschen im Norden Jordaniens demselben Clan an wie diejenigen im Süden Syriens. Wer in solchen Fällen Flüchtlinge bei sich aufnimmt, beherbergt keine Fremden, sondern einen Teil seiner Familie. Das gehört im arabischen Raum zum guten Ton.

Funktioniert das auch für entfernte Verwandte, die man vielleicht noch gar nie kennengelernt hat?

Durchaus, es gibt dieses allseits geteilte Bewusstsein, dass die Türen stets offenstehen.

Geht diese Solidarität über ethnische und religiöse Gemeinschaften hinaus?

Ja. Die christlichen Assyrer aus dem Irak, die vor dem Islamischen Staat geflüchtet sind, wurden in Jordanien gut aufgenommen. Viele fühlen sich nicht als Araber und sie sind auch keine Muslime. Trotzdem verbindet sie ihre Flucht mit der Geschichte vieler Jordanier.

An aerial view shows the Zaatari refugee camp, near the Jordanian city of Mafraq July 18, 2013. U.S. Secretary of State John Kerry spent about 40 minutes with half a dozen refugees who vented their frustration at the international community's failure to end Syria's more than two-year-old civil war, while visiting the camp that holds roughly 115,000 Syrian refugees in Jordan about 12 km (eight miles) from the Syrian border. REUTERS/Mandel Ngan/Pool (JORDAN - Tags: POLITICS SOCIETY IMMIGRATION TPX IMAGES OF THE DAY) - RTX11QHF

Hüttensiedlung für Zehntausende: Das Flüchtlingscamp Zataari in Jordanien.(Bild: � POOL New / Reuters)

Sind diese informellen Netzwerke für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge im Nahen Osten vielleicht sogar wichtiger als die staatlichen und internationalen Institutionen?

Zu Beginn des Kriegs in Syrien auf jeden Fall. Doch längerfristig ist eine Mischung aus beidem nötig. Denn natürlich führt es zu Problemen, wenn die Krise über Jahre hinweg anhält, wie aktuell in Syrien, und immer mehr Flüchtlinge ohne Aussicht auf Rückkehr im Land leben. Die Jordanier und Libanesen, die nun ein Zimmer für syrische Familien zur Verfügung stellen, sind meist selber arm und haben wenig Raum. Ein solches Zusammenleben funktioniert für einige Monate, aber nicht über Jahre hinweg. Um Flüchtlinge über längere Zeit unterzubringen, sie mit Wasser, Lebensmitteln und Medizin zu versorgen, braucht es den Staat und internationale Hilfsorganisationen. Genauso bei der Einschulung von Kindern.

Wie reagierten die Regierungen der Nachbarstaaten auf den syrischen Exodus?

Zumindest zu Beginn herrschte eine Politik der offenen Tür; die Grenzen wurden geöffnet. Die Situation änderte sich jedoch schlagartig mit dem Auftauchen des IS. Danach fürchteten viele Nachbarn Syriens, dass der IS Terroristen als Flüchtlinge in ihre Länder einschleusen könnte. Nicht ohne Grund, wie Anschläge in Beirut und im Nordlibanon gezeigt haben. 2014 fand deshalb eine drastische Abkehr statt von einer humanitären Perspektive auf die Flüchtlingsfrage hin zu einer Perspektive der nationalen Sicherheit. Darin liegt auch ein Teil der Erklärung, weshalb die Krise im Nahen Osten zur europäischen Krise wurde.

Wie meinen Sie das?

Die Lebensumstände der Flüchtlinge wurden sehr schwierig. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Seit Jordanien die Grenze dicht machte, stecken in einem Transitcamp in der Nähe von Ruweished über 26’000 Flüchtlinge fest. Sie haben den IS im Rücken und eine geschlossene Grenze vor sich. Nicht einmal das IKRK kann helfen, weil das Gebiet keinem Staat gehört und durch niemand geschützt wird. Nach der Schliessung der Grenzen sahen viele Syrer keine langfristige Perspektive mehr in den Ländern des Nahen Ostens. Zugleich ging die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Syrien verloren. Ihnen blieb nur die Flucht nach Europa und die Hoffnung auf Asyl dort.

Die meisten arabischen Länder haben die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nie unterzeichnet, aus Angst, dadurch die Forderung nach einer Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge aufzugeben. Ist das mit ein Grund, dass viel Flüchtlinge in Europa Asyl suchen?

Wer keinen offiziellen Flüchtlingsstatus hat, kann von einem Staat jederzeit ausgewiesen werden; er ist nur temporär geduldet. Die meisten Flüchtlinge im Nahen Osten leben deshalb in ständiger Unsicherheit. Sie wissen nicht, wie lange sie in ihren Gastländern bleiben können. Anders als in Europa, wo mittelfristig die Möglichkeit besteht, Bürger des Aufnahmelandes zu werden – mit allen Rechten, die damit verbunden sind –, fehlen solche Mechanismen in Jordanien oder Libanon. Es fehlt jegliche Perspektive, sich ein neues Leben aufbauen zu können. Vor allem für Familien und junge Leute, die in Ausbildung sind oder ins Berufsleben einsteigen wollen, ist diese Situation sehr belastend.

Seit Anfang Jahr sind mehr als 480 Menschen auf der Überfahrt nach Europa im Mittelmeer gestorben. Wer die Überfahrt schafft, trifft in den potenziellen Aufnahmeländern meist auf Ablehnung. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie den Umgang Europas mit der sogenannten Flüchtlingskrise verfolgen?

Die Anzahl Flüchtlinge, die Europa bisher aufgenommen hat, ist nicht nur im Vergleich mit den Ländern des Nahen Osten gering, sondern auch in Hinblick auf die europäische Vergangenheit. Ich war kürzlich in Spanien und habe mit Hilfsorganisationen gesprochen, die mir erzählten, dass sie früher weit mehr Schwarzafrikaner versorgt hätten, die übers Meer Richtung Gibraltar geflüchtet waren, als heute Syrer. Frankreich hat Ende der Siebzigerjahre über 100’000 Kambodschaner aufgenommen, die «Boat people». 100’000, in sehr kurzer Zeit – und das war damals überhaupt kein Problem! Dies obschon Frankreich mitten in einer Wirtschaftskrise steckte und die Arbeitslosenquote hoch war. Das europäische Asylsystem wäre also durchaus imstande, mit einer solchen Krise fertigzuwerden.

Wo liegt Ihrer Meinung nach das Problem?

Die Regierungen haben sich nicht auf die neuen Flüchtlingswellen vorbereitet und sie konzentrieren sich darauf, die Menschen von der Einreise abzuhalten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn ein Syrer in der französischen Botschaft in Amman ein Visum beantragt, um damit in Frankreich einen Asylantrag stellen zu können, stehen die Chancen, dass er ein solches erhält, bei circa 1,5 Prozent. Doch wenn es ein Syrer schafft, illegal in Europa einzureisen und an der französischen Grenze Asyl zu beantragen, stehen die Chancen bei etwa 94 Prozent.

Die EU-Staaten behaupten, sie seien überrumpelt worden von der Situation und überfordert durch die hohe Zahl der Flüchtlinge.

Die Situation ist aber nicht neu; dasselbe hatten wir schon vor zehn Jahren mit den Flüchtlingen aus dem Irak. Damals öffnete Schweden als einziges Land seine Grenzen. Ich erinnere mich an ein Treffen 2007 in Damaskus, an dem schwedische Regierungsvertreter sich darüber beklagten, dass ihr Land viel mehr Flüchtlinge aufgenommen habe als alle anderen EU-Staaten. Schweden plädierte damals für einen europäischen Mechanismus zur gerechten Verteilung von Asylsuchenden und setzte sich für eine Lösung ein. Niemand unternahm etwas. 2008 schloss Schweden seine Grenzen; der Menschenschmuggel wurde zum blühenden Geschäft.

Sie glauben also, dass es durchaus Möglichkeiten gab, die jetzige Krise zu antizipieren?

Absolut! Die Regierungen haben ihren Kopf zu lange in den Sand gesteckt, statt vorzusorgen. Natürlich geraten Asylsysteme unter Druck, wenn sie plötzlich mit vielen Flüchtlingen in sehr kurzer Zeit konfrontiert sind.

Die Vorbereitung der EU auf potenzielle zukünftige Flüchtlingsströme war eine andere: Mit jährlich steigenden Budgets (176 Millionen Euro für 2016) baute die EU-Agentur Frontex den Schutz der Aussengrenzen in den letzten Jahren massiv aus…

…um Migration zu verhindern und sie militärisch zu bekämpfen! Aber Migration kann man nicht verhindern; die Menschen werden kommen und sind aufgrund ihrer Aussichtslosigkeit bereit, auf der Flucht zu sterben. Wir müssten uns vielmehr damit beschäftigen, wie wir Migration organisieren können. Die neue Regierung in Kanada hat in nur zwei Monaten 25’000 Flüchtlinge mit Flugzeugen in ihr Land gebracht. Wenn sich die EU-Länder ähnlich verhalten hätten, anstatt sich die heisse Kartoffel gegenseitig zuzuschieben, dann gäbe es heute keine Flüchtlingskrise in Europa.

Was sagen Ihre Freunde und Nachbarn in Jordanien über die aktuelle EU-Flüchtlingspolitik?

Sie lachen und fragen: Welche Flüchtlingskrise? 30 Länder – die 28 EU-Staaten plus Norwegen und die Schweiz – haben gemeinsam weniger Flüchtlinge aufgenommen als Jordanien. Fast drei Millionen Menschen, die Hälfte der Bevölkerung Jordaniens, sind Flüchtlinge aus Palästina, Irak oder Syrien. Die Jordanier sehen in den Medien, wie Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, und fragen sich: Wie konnte es so weit kommen, dass die Staaten, die sich als Verfechter der Menschenrechte gebärden, so etwas zulassen? Abgesehen von den Menschen, die auf der Flucht sterben, ist das für mich die schlimmste Konsequenz der aktuellen EU-Politik. Niemand im Nahen Osten glaubt mehr an Europas Rolle als Hüter der Menschenrechte.

Werden andere Akteure dieses moralische Vakuum füllen?

Ja, zum Beispiel Saudi-Arabien oder Katar. Staaten, die mit Geld um sich werfen und damit ihre eigenen Werte bewerben. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben im Norden Jordaniens mit viel Geld ein makelloses Flüchtlingslager bauen lassen. Die Menschen sehen das; sie merken sich, wer dafür bezahlt hat. Doch mit dem Geschenk ist die Anerkennung bestimmter Werte verbunden; schliesslich hat auch Europa seine Entwicklungshilfe stets an die Wahrung der Menschenrechte gekoppelt. In Zukunft wird Hilfe aber vielleicht nicht mehr an Werte gekoppelt, die Europa wichtig sind.

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