27. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Balkanroute : Dann eben illegal“ · Kategorien: Balkanroute · Tags:

Quelle: Zeit Online

Die von Wien verkündete Obergrenze zeigt auf der Balkanroute bisher kaum Effekte. Für die Flüchtlinge wird es immer beschwerlicher. Doch aufhalten lassen sie sich nicht.

Von Thomas Roser, Belgrad

Niemand will sie, aber auch bei eisigen Temperaturen reisen sie. Mit Taschen beladen und mit weinenden Kindern an den Händen drängen sich die Neuankömmlinge im Durchgangslager im serbischen Šid in die stickige Luft des beheizten Zelts. Draußen vor dem Lagertor erzählen fröstelnde Flüchtlinge aus Afghanistan über die Schrecken mit Bulgariens schlagkräftiger Grenzpolizei – und die noch bevorstehenden Hürden vor dem Ziel.

Die Regeln hätten sich geändert, berichtet der 20-jährige Saheed aus der afghanischen Provinz Kunar: „Man muss nun Österreich oder Deutschland als Ziel eintragen lassen. Sonst darf man nicht auf den Zug nach Kroatien.“ Ein Landsmann zeigt sein rechtzeitig korrigiertes Transitpapier. Zunächst habe er dummerweise Belgien als Ziel angegeben. „Zum Glück konnte ich das noch in Deutschland abändern lassen“, sagt er.

400 Kilometer weiter westlich hatten Sloweniens Grenzbeamte am Tag zuvor 15 von 1.800 registrierten Flüchtlingen wegen eines „falschen“ und nicht mehr als einreiseberechtigt erklärten Ziellands aus dem Zug gefischt und wieder nach Kroatien abgeschoben. Nur noch die Flüchtlinge, die in Österreich und Deutschland Asyl beantragen wollten, dürften einreisen. „Alle andere werden abgelehnt“, sagte Innenministerin Vesna Gjerkeš, die die vermeintliche Verschärfung mit Österreichs angekündigter Deckelung der Flüchtlingszahlen begründete: „Wir werden verhindern, dass Slowenien zu einem Hotspot für Flüchtlinge wird.“

Dominoeffekt verschärfter Politikererklärungen

Der von Wien geforderte „Dominoeffekt“ eines verschärften Einreiseregimes zur Minderung der Flüchtlingszahlen zeigt in Staaten der sogenannten Balkanroute bislang vor allem in Form energischer Politikererklärungen Effekt. „Wenn die EU fordert, dass wir keine Wirtschaftsflüchtlinge mehr aufnehmen, werden wir entsprechend handeln“, sagte Serbiens Premier Aleksander Vučić.

Die Angst vor einem Flüchtlingsrückstau bei einer verstärkten Abriegelung der Grenzen ist bei den Staaten der Balkanroute groß. Die Mittel, den Flüchtlingsandrang zu stoppen, sind jedoch begrenzt. Nur das schlechtere Wetter hat die Flüchtlingszahlen zuletzt merklich absinken lassen. Seitdem der Flüchtlingstransit von Serbien nach Kroatien auf die Schiene verlegt wurde und Anfang November das Lager in Šid eröffnet wurde, sei der Andrang mit rund 3.000 Menschen am Tag relativ „stabil“, sagt Sozialarbeiter Darko Kovacevic in Šid.

Die auf unter 2.000 gefallene Zahl der letzten Tage wegen der zeitweiligen Drosselung der Einreise an der mazedonisch-griechischen Grenze hält er für kurzzeitige Änderungen „von eher technischer als grundsätzlicher Natur“. Angesichts der Konflikte im Nahen Osten und in der Türkei sei im Frühjahr eher mit wachsenden Zahlen zu rechnen: „Der Flüchtlingsdruck wird weiter zunehmen.“

Vor allem Serbien verfügt kaum über Möglichkeiten, die zu erwartende Verstärkung des Flüchtlingsandrangs nach Süden weiterzuleiten. Zum einen gibt es mit Mazedonien kein Rückführungsabkommen von Flüchtlingen. Zum anderen machen Grenzzäune im Dreiländereck zu Mazedonien und Kosovo keinen Sinn. Etwaige Barrieren könnten die Schleusernetzwerke leicht über den Umweg Kosovo umgehen.

Zäune kommen an der „administrativen Linie“ zu Kosovo für Serbien auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht infrage. Noch immer hat Belgrad die Unabhängigkeit der Ex-Provinz nicht anerkannt – und kann sich kaum von ihr abzäunen. Serbien verfüge weder über die Ressourcen noch über die Mittel, um die Flüchtlinge aufzuhalten oder im Land zu halten, sagt Radoš Đurović, Direktor des Belgrader Zentrums zum Schutz für Asylsuchende: „Die Leute werden weiter durch das Land ziehen, aber länger hier bleiben.“

Stimmungsumschwung im Westen

Entsetzt reagierte Europas Öffentlichkeit im vergangenen Sommer auf die Nachrichten von an türkische Strände gespülten Kinderleichen oder in Lkw erstickten Schleuseropfern. Nicht zuletzt die anhaltende Kritik der EU-Partner hatte die vom Andrang völlig überforderten Transitstaaten mit viel Mühe zumindest von Griechenland bis Österreich einen relativ sicheren Transportkorridor errichten lassen. Doch der Stimmungsumschwung in Westeuropa verstärkt nun den Druck auf die Anrainer zur schleichenden Entmantelung des Korridors.

Verloren irrt Mussadiq am Bahnhof in Šid mit einem Zettel in der Hand über den Bahnsteig. Er wolle zu seinem Vater nach Düsseldorf, sagt der 26-jährige Pakistaner aus Chiniot: „In Pakistan werden zu viele Menschen getötet. Auch werden wir bedroht. Denn wir sind zwar Muslime, aber nicht für den Dschihad.“ Zwei Monate sei er bereits mit seinem Vetter, dessen beiden Frauen und den insgesamt vier Kindern unterwegs. Doch im kroatischen Auffanglager von Slavonski Brod fand seine Odyssee am Vortag ein vorläufiges Ende. 24 Stunden habe die Polizei seine Familie ohne Essen und Trinken in einem kalten Zimmer ohne WC eingesperrt, um sie hiernach ohne das ihr abgeknöpfte Geld nach Serbien abzuschieben, sagt er mit müdem Blick. „Wir haben nichts mehr. Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Aber nach Pakistan gehen wir bestimmt nicht zurück.“

Seit Ende November ist in den Staaten der Balkanroute auf Druck der EU-Partner nur noch Afghanen, Irakern und Syrern die offizielle Ein- und Weiterreise gewährt. Die Aussortierung der Flüchtlinge anderer Nationen hat aber nicht nur wegen verstärkter illegaler Migration und wiederauflebender Schleusernetzwerke nur einen begrenzten Effekt: 90 Prozent der über die Balkanroute ziehenden Flüchtlinge stammen ohnehin aus den drei Bürgerkriegsstaaten.

Natürlich sei es leichter, Menschen in Not dabei zu helfen, an ihr Ziel zu gelangen, als sie an der Weiterreise zu hindern, sagt in seiner Amtsstube im Bahnhof von Šid Grenzpolizeikommandant Mica Djukic. Doch seine Arbeit werde durch die politischen Vorgaben und Absprachen der Anrainerstaaten der Balkanrouten und den Wünschen der Innenministerien der EU-Partner bestimmt: „Wir ergreifen die Maßnahmen, die uns von unseren Entscheidungsträgern anvertraut werden. Und das ist entweder die humane Organisation des Transport der Migranten – oder das Stoppen ihres Durchzugs in Richtung der EU-Staaten.“

Wiederaufleben der Schleusernetzwerke

Doch mit verstärkten Hindernissen auf dem legalen Transportkorridor nimmt die illegale Migration erneut zu. Die mazedonischen Straßen und Schienen seien wieder „voll illegaler Immigranten“, berichtet in Skopje Jasmin Redzepi von der Flüchtlingshilfsorganisation Legis. „Die Illegalen gehen oft zu Fuß. Diejenigen, die noch Geld haben, bezahlen Schleuser, die sie durchs Land transportieren. Fast täglich werden hier wieder Menschen wegen Menschenschmuggels oder des Ausraubens von Flüchtlingen verhaftet.“ Mit der illegalen Migration habe auch die Kriminalität wieder zugenommen, sagt Redzepi. Die von Wien versuchte Drosselung der legalen Migration sei „weder für die Flüchtlinge noch für Mazedonien gut“.

Mit Einreisepapieren in den Händen machen sich in Šid die ersten Transitflüchtlinge zum noch leeren Bahnsteig auf. Pakistaner würden sich oft als Afghanen, Marokkaner und Algerier als Syrer ausgeben, aber beim Zugeinstieg von den Dolmetschern der kroatischen Grenzpolizei meist mit „bloßem Auge“ identifiziert, sagt Sozialarbeiter Kovacevic. „Pro Zug werden bis zu 40 von 1.000 Passagieren wegen ihrer Herkunft abgewiesen. Theoretisch haben sie die Möglichkeit, in Serbien Asyl zu beantragen. Doch meist verschwinden sie nach ein paar Tagen. Wohin, weiß niemand.“

Hilfsorganisationen befürchten, dass der Einreisebann auf der Balkanroute als Nächstes die Afghanen treffen könnte. Denn als sicher beschreiben auch die nach Šid gelangten Afghanen ihre Heimat keineswegs. Als Polizist sei er ständig Todesdrohungen der Taliban ausgesetzt gewesen, sagt Saheed. „Mein Vater sagte mir: Gehe in ein anderes Land, du wirst für die ganze Familie zur Gefahr.“

Er habe für die US-Armee in der Logar-Provinz als Übersetzer gearbeitet, sagt der 22-jährige Ashmad: „Als die Amerikaner abzogen, erhielt meine Familie von den Taliban stets mehr Todesdrohungen.“ Er hat von den Vorfällen in Köln und den wachsenden Vorbehalten in Deutschland gelesen. „Aber wir haben ein echtes Problem und suchen darum Asyl. Wenn uns Deutschland nicht will, gehen wir eben in ein anderes Land.“

Die meisten der durch das Lager in Šid ziehenden Menschen seien in den 1980er Jahren oder später geboren, vor allem die Syrer „meist überdurchschnittlich gut ausgebildet“, sagt Kovacevic. „Eigentlich könnte der Westen durchaus von ihnen profitieren.“ Als „erschütternd“ empfindet der Serbe die offene Feindseligkeit, die den Flüchtlingen in den Staaten Mittel- und Osteuropas entgegenschlägt. „Aus Staaten wie Ungarn und Polen flüchteten bis vor wenigen Jahren selbst viele Menschen – auch zu uns. Aber das haben sie wohl vergessen.“ Ohnehin sei der Osten so gut wie nie das Ziel der Durchwanderer. „Ich habe hier noch nie jemanden getroffen, der in die Slowakei wollte.“ Wenn der bisherige Korridor unterbrochen werde, würden sich bei anhaltendem Flüchtlingsandrang nur neue Routen etwa über Albanien und Montenegro nach Kroatien eröffnen, sagt er. „Die meisten Grenzen sind in der Region kaum zu überwachen.“ Neue Ausreiserouten von in Serbien gestrandeten Flüchtlingen zeichnen sich laut Đurović schon jetzt ab: Flüchtlinge, denen wegen ihrer Herkunft das Besteigen der Züge nach Kroatien verwehrt wurde, würden nun vermehrt versuchen, über Rumänien und Ungarn weiterzureisen.

Einfache Lösungen scheinen im Europa der sich ausbreitenden Grenzzäune nicht in Sicht. Nachdenklich nippt Darko Kovacevic an seinem Kaffee. Österreich und Deutschland könnten die Flüchtlingskrise im Alleingang ebenso wenig lösen wie die Transitstaaten, sagt der frühere Journalist. „Dafür wäre eine europäische, eine globale Lösung vonnöten.“

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