24. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Die Menschen werden weiter kommen“ · Kategorien: Europa, Türkei

Quelle: Zeit Online

Drei Milliarden Euro für die Türkei sind viel Geld, sagt Martin Glasenapp, Nahostreferent von medico. Doch das Geld eröffne den Flüchtlingen noch keine Zukunft.

Interview: Alexandra Endres

ZEIT ONLINE: Herr Glasenapp, der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu fordert in der Flüchtlingskrise von Europa mehr Geld als die bislang versprochenen drei Milliarden Euro. Er sagt, die Lasten müssten gerecht verteilt werden. Was würde zusätzliches Geld im Kampf gegen Fluchtursachen bringen?

Martin Glasenapp: Zunächst einmal: Wir reden hier über ungedeckte Schecks. Die EU hat drei Milliarden versprochen, streitet aber darüber, wer das bezahlen soll. Dadurch bekommt die Diskussion über etwaige zusätzliche Zahlungen eine ganz böse Note.

ZEIT ONLINE: Wie ist denn die Lage der Flüchtlinge in der Türkei?

Glasenapp: Das kommt darauf an, über welche Flüchtlinge wir reden. Die arabischen Syrer, die in die Türkei geflohen sind, kommen mehrheitlich aus Regionen, die sich gegen das Assad-Regime erhoben haben. Die meisten von ihnen sind sunnitisch. Sie erhalten eine gewisse Grundversorgung, zum Beispiel sind sie in den offiziellen Lagern der türkischen Katastrophenschutzbehörde untergebracht. Dort gibt es Schulen, Krankenhäuser, sogar Moscheen.

ZEIT ONLINE: In den Lagern lebt aber nur ein kleiner Teil der aus Syrien Geflohenen.

Glasenapp: Ja, es sind ungefähr 320.000 von insgesamt 2,5 Millionen.

ZEIT ONLINE: Was ist mit den anderen?

Glasenapp: Viele müssen selbst sehen, wie sie zurechtkommen, etwa die kurdischen und jesidischen Flüchtlinge. Hinzu kommt jetzt die Gewalt in den kurdischen Städten der Türkei. In Diyarbakır zum Beispiel unternimmt eine kurdische Partnerorganisation von uns, mit der wir im syrischen Kobane das Gesundheitssystem wiederaufbauen, gerade alles Menschenmögliche, um Nahrungsmittel in ihre Nachbarschaft zu bekommen, die zurzeit von der türkischen Armee beschossen wird.

Generell aber lässt sich sagen, dass der Staat kurdische Flüchtlinge aus Syrien vernachlässigt, deshalb wird diese Flüchtlingsgruppe von der kurdischen Gemeinschaft versorgt. Andere sind ganz auf sich alleine gestellt. Zugleich häufen sich in letzter Zeit Berichte, dass die Türkei sogar syrische Kriegsflüchtlinge zurück nach Syrien abschiebt.

ZEIT ONLINE: Sie sagen, viele seien auf sich alleine gestellt. Was bedeutet das?

Glasenapp: Die Flüchtlinge haben keine Arbeitsgenehmigung und können ihre Kinder nicht zur Schule schicken. Ihre Wohnungen müssen sie teuer mieten. Die Türkei bezeichnet sie als Gäste. Als solche haben sie keinerlei Bleibeperspektive, allerhöchstens eine Duldung.

ZEIT ONLINE: Aber schulpflichtige Kinder haben doch auch in der Türkei Anspruch auf Bildung?

Glasenapp: Ja, es gibt dafür sogar ein Gesetz, aber geschätzte 500.000 der insgesamt 700.000 syrischen Flüchtlingskinder in der Türkei können aus wirtschaftlichen Gründen nicht zur Schule gehen. Sie müssen arbeiten. Auch deswegen wollen viele Familien nach Westeuropa oder Deutschland aufbrechen.

Ein Turkmene beispielsweise sagte mir, dass er gerne in der Türkei geblieben wäre. Seine zweite Muttersprache ist Türkisch, deshalb wäre das gar keine so schlechte Lösung gewesen. Aber seine Kinder müssten arbeiten gehen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Für sie wollte er nach Deutschland, obwohl er dort für sich keine Zukunft sah.

ZEIT ONLINE: Wovon leben die Leute, wenn sie keine Arbeitsgenehmigung haben?

Glasenapp: Von ihrem Vermögen, und wenn das aufgezehrt ist, von Schwarzarbeit in Elendsjobs. Manche werden kriminell, um zu überleben, Frauen prostituieren sich oder werden verkauft. Es gibt dort alles, was man sich vorstellen kann. Lange haben die Menschen das ausgehalten, weil sie geglaubt haben, sie könnten bald wieder nach Syrien zurückkehren. Aber im vergangenen Jahr ist den meisten klar geworden, dass dem nicht so ist – spätestens, als das unterfinanzierte Welternährungsprogramm seine Lebensmittelrationen kürzen musste.

ZEIT ONLINE: Zumindest die materielle Not könnte die türkische Regierung mit dem Geld der EU, wenn es denn kommt, lindern.

Glasenapp: Theoretisch schon. Drei Milliarden Euro sind viel Geld für die Türkei; die Summe übersteigt ihren Jahresetat für die Flüchtlingsversorgung sogar leicht. Damit könnte man die Nahrungsmittelhilfe erhöhen und wohl auch ein paar Schulen bauen. Aber es löst keines der grundlegenden Probleme.

ZEIT ONLINE: Die wären?

Glasenapp: Wir haben es hier mit einem zunehmend autokratischen Staat zu tun, dessen Strukturen immer mehr von der Regierungspartei AKP und der Familie des Präsidenten bestimmt werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass beispielsweise ein soziales Wohnungsbauprogramm für Flüchtlinge unter diesen Umständen funktioniert.

Die große Frage darüber hinaus ist doch: Wollen wir tatsächlich eine Regierung subventionieren, die kritische Wissenschaftler von der Uni wirft, unbotmäßige Journalisten feuern lässt und den Kurden mit immer stärkerer Repression begegnet? Im Moment entsteht durch die Gewalt gegen sie gerade die nächste Flüchtlingskrise, in der Türkei.

ZEIT ONLINE: Angela Merkel will nur Geld geben, wenn die Türkei bestimmte Bedingungen erfüllt.

Glasenapp: Ich kann mir nicht vorstellen, dass deutsche Bedingungen in der Türkei etwas bewirken. Dort gibt es keine demokratische Verwaltung, die alle Bürger gleichbehandelt – im Gegenteil, die AKP ist mehr und mehr quasi der Staat. Wenn du sie unterstützt, gibt sie dir, was du brauchst, anderenfalls nicht.

ZEIT ONLINE: Nicht mit der Türkei zu kooperieren ist aber auch keine Alternative.

Glasenapp: Nein, aber die Hoffnung, das Land werde die Flüchtlinge halten und seine Grenzen dicht machen können, nur weil die EU ihm Milliarden zahlt, wird sich nicht erfüllen. Die Menschen werden weiter kommen. Wenn die Leute die Türkei verlassen wollen, werden sie das auch tun, es wird nur immer teurer für sie.

ZEIT ONLINE: Was sollte Europa tun?

Glasenapp: Darauf bestehen, dass die Türkei rechtsstaatliche Bedingungen einhält. Wissenschaftler, die sich für den Frieden einsetzen, dürfen nicht von der Uni geworfen, kritische Journalisten nicht gefeuert oder ins Gefängnis gesteckt werden, den Konflikt mit den Kurden muss man politisch lösen, durch Gespräche statt Gewalt. So würde man zumindest nicht auch noch neue Fluchtursachen schaffen.

ZEIT ONLINE: Eine schnelle Lösung ist das nicht – und den syrischen Flüchtlingen, die derzeit in der Türkei gestrandet sind, hilft es erst einmal auch nicht weiter.

Glasenapp: Um ihnen zu helfen, müsste die Türkei anerkennen, dass die Flüchtlinge nicht nur Gäste sind, sondern bleiben werden, zumindest für eine gewisse Zeit. Man dürfte sie nicht sich selbst überlassen, sondern müsste sich um ihre Versorgung kümmern und ihnen eine Erwerbsmöglichkeit geben. Im Idealfall übernähmen das die Hilfswerke der Vereinten Nationen, dafür könnte Europa dann auch Geld geben. Aber eine verlässliche Perspektive für die Flüchtlinge scheint derzeit niemand wirklich zu wollen, auch nicht in den Nachbarländern Jordanien, im Irak und im Libanon.

ZEIT ONLINE: Warum nicht?

Glasenapp: Die Regierungen dort haben Angst, den Syrern könnte es ergehen wie den Palästinensern, die zum Teil seit Generationen in Flüchtlingslagern leben. Deshalb behandelt man die Syrer so, als gingen sie ohnehin bald wieder zurück nach Hause. Man macht den Flüchtlingen ökonomisch das Leben schwer, verschließt die Augen vor dem Problem und hofft, dass es sich zumindest im eigenen Land irgendwann von alleine löst.

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