21. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge als Verhandlungsmasse“ · Kategorien: Deutschland, Türkei · Tags:

Quelle: German-Foreign-Policy

BERLIN/ANKARA

(Eigener Bericht) – Die für morgen anberaumten ersten Deutsch-Türkischen Regierungskonsultationen stehen im Zeichen einer Ausweitung der Kooperation mit Ankara bei der Abwehr von Flüchtlingen. Wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) urteilt, hat die Türkei syrische Flüchtlinge „mehr als einmal politisch instrumentalisiert“: Sie habe sie zu Beginn des Krieges ins Land gelassen, um sich nach dem erhofften Sturz der Regierung Assad in Syrien Einfluss „auf der Ebene der Bevölkerung“ zu sichern; auch habe sie mutmaßlich Flüchtlingslager zur Unterstützung aufständischer syrischer Milizen genutzt. Mit Blick auf den instrumentellen Umgang Ankaras mit Kriegsopfern haben Berlin und Brüssel, seit immer mehr Flüchtlinge von der türkischen Küste auf die griechischen Inseln übersetzen, begonnen, mit Ankara zu verhandeln, und ein Abkommen zur Abschottung der Land- und Seegrenze geschlossen. Die morgigen Berliner Regierungskonsultationen setzen die Gespräche darüber fort. Wie die SWP urteilt, hat sich durch die Massenflucht „das gewohnte Machtverhältnis“ zwischen der EU und der Türkei umgekehrt; es gebe aber Mittel für Brüssel, die alte Machtposition zurückzuerlangen. Die türkische Regierung, die morgen zu den Konsultationen in Berlin erwartet wird, verschärft zur Zeit die Repression im Land aufs Äußerste und baut seine islamistisch inspirierte Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien, dem Jihadismus-Förderer Nummer eins, systematisch aus.

Aufgewertet

Zum ersten Mal überhaupt finden am morgigen Freitag in Berlin Regierungskonsultationen zwischen Deutschland und der Türkei statt. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird den türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu mit militärischen Ehren empfangen; außerdem werden die türkischen Minister für Inneres, Äußeres, Verteidigung, Wirtschaft und Europa erwartet. Auf deutscher Seite nehmen ihre jeweiligen Amtskollegen an den Gesprächen teil, darüber hinaus – anstelle des in der Bundesrepublik nicht existierenden Europaministers – der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Regierungskonsultationen sind ein besonderes Gesprächsformat, das nur engen Kooperationspartnern gewährt wird; man führe sie nicht „mit jedem x-beliebigen Land“ durch, erklärt der Sprecher des Auswärtigen Amts, Martin Schäfer.[1] Sie werden unter anderem mit Frankreich, China, Indien, Brasilien und Israel abgehalten. Dass sie nun auch mit der Türkei stattfinden, wertet Ankara aus deutscher Perspektive spürbar auf.

Kriegsopfer instrumentalisiert

Anlass dieser Aufwertung ist vor allem die Massenflucht nach Europa – und die Auffassung, dass sie mit Hilfe der Türkei gestoppt werden kann. Zum Hintergrund hat sich unlängst die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) geäußert. Wie der Think-Tank in einer knappen Analyse festhält, hat Ankara Flüchtlinge „mehr als einmal politisch instrumentalisiert“. So sei bereits „die großzügige Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien“ in der Türkei „nicht nur aus humanitären, sondern auch aus politischen Erwägungen“ erfolgt: Parallel zur politischen Unterstützung für die sunnitische Opposition habe die Hilfe für die Kriegsopfer „auf der Ebene der Bevölkerung … sicherstellen“ sollen, „dass die Türkei nach dem Krieg zur bestimmenden Macht im neuen Syrien werde“. Der Verdacht, dass zudem „die Flüchtlingslager und ihre Umgebung als Rückzugs- und Regenerationsort für die Rebellen genutzt“ wurden, bestehe fort; er werde durch die mehrjährige Sperrung des Zugangs zu den Lagern selbst für den UNHCR sowie durch weitere ungewöhnliche Geheimhaltungspraktiken bezüglich der Unterbringung der Flüchtlinge genährt. Völlig offen instrumentalisiert habe Ankara die Flüchtlinge für seine Forderung, einen Teil Nordsyriens als angebliche „Sicherheitszone“ zu okkupieren. Mittlerweile warnten „selbst türkische Kommentatoren davor“, Ankara verspiele mit solchen Praktiken seinen „durch die Aufnahme der Flüchtlinge gewonnenen moralischen Kredit“, heißt es bei der SWP.[2]

Abschottungsdeals

Mit Blick auf den instrumentellen Umgang der türkischen Regierung mit Flüchtlingen haben sich Berlin und Brüssel, als im Herbst die Massenflucht auch von der türkischen Küste auf die griechischen Inseln einsetzte, veranlasst gesehen, nähere Verhandlungen mit Ankara aufzunehmen. Am 29. November unterzeichneten beide Seiten einen „Gemeinsamen Aktionsplan“, der die Türkei dazu verpflichtet, ihre Land- und Seegrenzen zur EU strikt zu kontrollieren sowie Flüchtlinge gemäß bestehenden Abschiebeabkommen aus EU-Staaten zurückzunehmen. Im Gegenzug sagte die EU Ankara drei Milliarden Euro zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Flüchtlinge in der Türkei, die Aufhebung der Visumspflicht und die Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen zu.[3] An diesen Stand knüpfen auch die morgigen Regierungskonsultationen in Berlin an. Die Vermutung, man werde Ankara zur Abschottung seiner Grenzen zur EU bewegen können, kann sich nicht zuletzt auf eine Äußerung von Burhan Kuzu stützen, einem engen Berater von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Kuzu erklärte laut SWP nach der Unterzeichnung des „Aktionsplans“: „Als die EU gemerkt hat, wie entschlossen die Türkei ist, hat sie zur Geldbörse gegriffen. Ich hatte es doch gesagt: Wir öffnen die Grenzen und jagen euch die Flüchtlinge auf den Hals.“[4]

Das gewohnte Machtverhältnis

Wie die SWP urteilt, ist es Ankara mit dem von Kuzu beschriebenen Schritt gelungen, „das gewohnte Machtverhältnis zwischen der EU und dem Beitrittskandidaten Türkei in sein Gegenteil“ zu verkehren“ – „denn in der Flüchtlingskrise ist die EU zurzeit stärker auf die Türkei angewiesen als umgekehrt“. Allerdings biete der Beschluss vom 29. November, die Beitrittsverhandlungen zu beschleunigen, die Chance, „dass Ankara erneut die Rolle des Kandidaten einnimmt und die EU über die Hierarchie, die dem Beitrittsprozess immanent ist, wieder Einfluss auf die Politik der Türkei gewinnt“. Zwar herrsche heute „in der Türkei – auch in Regierungskreisen – oft ein europakritischer bis europafeindlicher Ton“. Doch habe Ankara mit seiner Nah- und Mittelostpolitik in den vergangenen Jahren seine Beziehungen zu wichtigen Ländern wie Ägypten, Irak und Iran schwer geschädigt und zuletzt sogar mit Russland gebrochen; es stehe „politisch vor einem Scherbenhaufen“. Dies könne die EU ausnutzen.[5]

Strategische Kooperation

Der Versuch, die Beziehungen zur Türkei auszubauen, erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem Ankara mit brutalster Gewalt gegen die kurdischsprachige Bevölkerung im Südosten des Landes vorgeht, oppositionelle Medien schließt, kritische Journalisten inhaftiert und die islamistische Prägung des Staates stärkt. Außenpolitisch hat die Türkei in diesem Jahr außerdem begonnen, als Ersatz für die stark verschlechterten Beziehungen zu wichtigen Ländern der Region enger mit Saudi-Arabien zu kooperieren, dem globalen Jihadismus-Förderer Nummer eins. Ende Dezember haben Ankara und Riad sich auf die Gründung eines „Strategischen Kooperationsrats“ geeinigt, um in politischen, wirtschaftlichen und militärischen Fragen auf lange Sicht zu einer „strategischen Zusammenarbeit“ zu gelangen.[6] Ob sich daraus eine islamistische Achse entwickelt, die auch über Syrien hinaus, wo die beiden Staaten längst kooperieren, handlungsfähig ist, muss sich zeigen. Dass die Türkei – ganz wie Saudi-Arabien – im Syrien-Krieg lange Zeit systematisch den „Islamischen Staat“ (IS/Daesh), den Al Qaida-Ableger Al Nusra und ähnliche Organisationen begünstigte (german-foreign-policy.com berichtete [7]), lässt die politischen Potenziale des Staates, dem Berlin morgen die Ehre erster Regierungskonsultationen erweist, erahnen.

[1] Erklärungen des Sprechers/der Sprecherin des Auswärtigen Amts in der Bundespressekonferenz vom 15. Januar 2016.
[2] Günter Seufert: Die Türkei als Partner der EU in der Flüchtlingskrise. SWP-Aktuell 98, Dezember 2015.
[3] Michael Stabenow: EU und Türkei schließen Pakt. www.faz.net 29.11.2015.
[4], [5] Günter Seufert: Die Türkei als Partner der EU in der Flüchtlingskrise. SWP-Aktuell 98, Dezember 2015.
[6] Saudi-Arabien und Türkei verabreden enge strategische Zusammenarbeit. www.sueddeutsche.de 29.12.2015.
[7] S. dazu Ein Rückschlag für Syrien.

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