20. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Asylrecht schwer vereinbar mit Obergrenze“ · Kategorien: Deutschland, Europa · Tags:

Quelle: Neue Osnabrückjer Zeitung

EuGH-Präsident Lenaerts im Interview

Osnabrück. Der Belgier Koen Lenaerts, Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Union in Luxemburg, spricht im Interview über die Flüchtlingskrise, den Euro-Skeptizismus und die Deutschen.

Herr Lenaerts, die Flüchtlingskrise sorgt für heftigen Streit unter den europäischen Staaten. Wird die EU daran zerbrechen?

Diese Angst habe ich nicht. Man darf nicht vergessen, dass die Europäische Union in der Vergangenheit schon zahlreiche Krisen meistern musste – und auch gemeistert hat.
Die Slowakei und Ungarn haben gegen die verpflichtende Verteilung von 120 000 Asylbewerbern geklagt. Kann man EU-Staaten überhaupt zwingen, Flüchtlinge aufzunehmen?
Dazu kann ich nichts sagen, weil das Verfahren noch anhängig ist. Der Ratsbeschluss stammt ja erst vom September 2015. Aber was Sie wissen sollten, ist, dass die ganze Asyl- und Flüchtlingskrise nicht in einem leeren juristischen Raum stattfindet. Die Dublin-Verordnung, die etwa regelt, welcher Staat für einen Asylantrag zuständig ist, haben wir schon häufig ausgelegt. Es gibt also schon eine Rechtsprechung, die von erheblicher Bedeutung ist bei der Bewältigung der jetzigen Flüchtlingskrise. Wir haben etwa im Zusammenhang mit der Situation in Griechenland schon 2011 geurteilt, dass ein Asylbewerber nicht an einen Mitgliedstaat überstellt werden darf, in dem er Gefahr läuft, unmenschlich behandelt zu werden.

Aber finden Sie nicht auch, dass viele Staaten in der Flüchtlingsfrage egoistisch handeln?

Die Politik muss sich gegen den Versuch stemmen, dass Staaten sich die Rosinen herauspicken. Und rechtlich ist die Sache ganz klar: Die Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft – mit Rechten und Pflichten. Es gibt keine Ausnahmen, außer denen, die vertraglich verankert sind.

Viele sehen wegen der Flüchtlingskrise den Schengen-Raum in Gefahr. Ist das Reisen ohne Grenzen bald Geschichte?

Nein. Wer will denn Grenzmauern oder rechtliche Barrieren zwischen den Mitgliedsstaaten errichten? Niemand möchte das ernsthaft tun. Letztlich sind die Staaten doch gezwungen, zusammen zu arbeiten. Kurzgesagt: Ich glaube, dass die derzeitigen Probleme überwindbar sind.

Setzt das europäische Recht Schranken für die Aufnahme von Flüchtlingen?

Das ist eine Frage, die ich so nicht beantworten darf. Aber eines ist sicher: Die EU muss immer strikt gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention handeln. Alle EU-Länder müssen zum Beispiel gemeinsame Mindest-Standards bei der Unterbringung einhalten, solange sie den Asylantrag einer Person prüfen. Wir sagen im Niederländischen: Bett, Bad und Brot müssen gesichert sein.

In Deutschland wird viel über Obergrenzen für Flüchtlinge diskutiert. Gibt es im europäischen Recht eine Obergrenze für die Zahl der Asylbewerber?

Das ist mir nicht bekannt. In jedem Fall gilt: Wenn es so etwas gäbe, wäre es nicht der Gerichtshof, der solch eine Zahl bestimmen würde. Außerdem muss man folgendes beachten: Immer wenn jemand asylberechtigt ist, hat er nach dem Unionsrecht das Anrecht darauf, als Flüchtling anerkannt zu werden. Das ist schwer vereinbar mit irgendeiner Zahl oder Obergrenze.

Obergrenzen wären also national zu bestimmen?

Wenn sich die Frage einer Obergrenze in mehreren Mitgliedstaaten stellt und dann zum EuGH kommt, dann können Sie sicher sein, dass wir die Frage ganz tiefschürfend prüfen. Dabei greifen wir die nationale Rechtsprechung auf. Und in diesem Zusammenhang will ich eines klar stellen: Man muss aufhören, die nationalen Verfassungsgerichte und den EuGH als Gegner zu sehen. Wir fangen nicht auf einem weißen Papier an, wir fangen auf der Grundlage der tief-verwurzelten rechtlichen Traditionen aller 28 EU-Staaten an und entwickeln das Unionsrecht auf dieser Grundlage weiter. […]

Kommentare geschlossen.