20. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Deutsche Flüchtlingspolitik: Letzte Hoffnung Türkei“ · Kategorien: Deutschland, Türkei · Tags:

Quelle: NZZ

Die deutsche Kanzlerin Merkel ist in der Flüchtlingspolitik in die Defensive geraten. Eine europäische Lösung hakt. Die Rolle der Türkei ist umstritten. Ein «Plan B» liegt in der Luft.

von Markus Ackeret, Berlin

Für die Flüchtlingspolitik der deutschen Kanzlerin Angela Merkel hat das neue Jahr denkbar schlecht begonnen. Von mehreren Seiten wird der Strategie der grossen Koalition in Berlin der Boden unter den Füssen weggezogen – mit potenziellen Konsequenzen nicht nur für die deutsche Innenpolitik, sondern auch für den Zusammenhalt Europas. Die hohen Flüchtlingszahlen sollen so bald wie möglich reduziert werden.

Abhängigkeit von Europa

Von Anfang an hatte Merkel die Bewältigung des grossen Zuzugs von Migranten vom Nahen Osten via Griechenland, den Balkan und Österreich nach Deutschland und Nordeuropa auf die europäische Ebene gehoben. Aus Überzeugung nahm sie eine zeitweise eher fatalistisch denn politisch anmutende Haltung an. Die Flüchtlingstrecks seien ausschliesslich an der Wurzel des Übels – vor allem dem Krieg in Syrien und der Lage der Geflüchteten in den umliegenden Ländern – zu beendigen. Es gehe für die europäischen Regierungen darum, die Aufnahme gerecht zu organisieren und die Aussengrenzen der EU richtig zu sichern, um eine Reduktion zu erreichen.

Merkel begab sich damit in die Abhängigkeit Europas, weil sie und die meisten Regierungsmitglieder nicht an eine nationale Lösung der Problematik glauben. Doch die europäischen Partner haben der deutschen Flüchtlingspolitik von Anfang an wenig Enthusiasmus entgegengebracht. Die Verhandlungen über die Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten der EU waren bis jetzt wenig erfolgreich. Hinzu kommt, dass die Bemühungen um einen Frieden in Syrien durch die verstärkten Spannungen zwischen Iran und Saudiarabien seit Jahresbeginn noch schwieriger geworden sind.

Gespräche mit der Türkei

Auch mit der Sicherung der Aussengrenzen, die mit der Verteilung korrespondiert, hapert es. Hier gilt die ganze Aufmerksamkeit der Türkei. Als Aufnahme- und Transitland für Flüchtlinge und Migranten hat sie eine Schlüsselrolle inne. Ungeachtet der bis in die Regierungsparteien CDU und SPD hineinreichenden Zweifel an der Zuverlässigkeit Ankaras haben der EU-Rats-Präsident Donald Tusk, die EU-Kommission und Deutschland einen Aktionsplan mit der Türkei ausgehandelt. Drei Milliarden Euro soll diese für Zugeständnisse beim Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge, bei der Grenzsicherung und der Wiedereinführung der Visumspflicht für Syrer und eine Reihe anderer Staatsangehöriger – auch Afrikaner, die die Türkei als Zwischenstation nutzen – erhalten. Die deutsche Regierung ist noch nicht zufrieden mit der Umsetzung. Umgekehrt widersetzen sich einige EU-Staaten der Beteiligung an der Milliardensumme. Deutschland erwägt daher, das Geld allein zu bezahlen.

Am Freitag empfängt Merkel den türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu und einige der Kabinettsmitglieder zu den ersten deutsch-türkischen Regierungskonsultationen . Die Frage, wie die Türkei die Ausreise weiterer Hunderttausender von Flüchtlingen über die Land- und Seegrenze nach Griechenland verhindern kann, dürfte die Gespräche beherrschen.

Entscheidende zwei Monate

Auch mit Jordanien ist die EU im Gespräch. Aussenminister Frank-Walter Steinmeier berichtete im Gespräch mit ausländischen Korrespondenten in Berlin, die Jordanier wünschten sich als Gegenleistung für die Öffnung des regulären Arbeitsmarkts für Syrer den erleichterten Export von Landwirtschafts- und Textilprodukten nach Europa. Gerade die Südeuropäer dürften sich damit nicht leichttun.

Wenngleich Merkel, ihre Vertrauten und auch Steinmeier betonen, den einen grossen Paukenschlag zur Beendigung der Flüchtlingstrecks werde es nicht geben, nimmt der Druck auf die Kanzlerin stetig zu. Die Silvesternacht in Köln hat das noch beschleunigt. Die Forderungen nach einer Grenzschliessung werden lauter. Deren Folgen entlang der Flüchtlingsroute sind schwer vorhersehbar. Die Boulevardzeitung «Bild», die Merkels Politik unterstützt, prophezeite dramatische Szenen an der deutsch-österreichischen Grenze. Es zeichnet sich ab, dass die EU-Rats-Treffen vom Februar und März für das weitere Vorgehen entscheidend sein werden.

Gibt es einen «Plan B»?

Offiziell spricht in Berlin niemand von einem «Plan B». Aber wenn bis März klar würde, dass die Lösungsschritte auf europäischer Ebene nichts fruchten und der Effekt der Zusammenarbeit mit der Türkei begrenzt bleibt, dann dürfte auch Deutschland – ähnlich wie Schweden und Dänemark – dazu übergehen, Flüchtlinge aus sicheren Drittstaaten an der Grenze abzuweisen. Für die Kanzlerin bedeutete das – wie immer sie es verpackt – eine herbe Niederlage und einen Glaubwürdigkeitsverlust .

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