18. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Merkel in der Flüchtlingskrise: Auf der Suche nach Plan B“ · Kategorien: Afghanistan, Deutschland · Tags:

Quelle: Spiegel Online

„Einfach mal die Klappe halten“: In der CDU geht es im Flüchtlingsstreit hoch her. Kanzlerin Merkel muss die eigenen Reihen zusammenhalten – auch um an einem Alternativszenario zu basteln.

Von Sebastian Fischer

Diesmal lief es genau andersherum. Diesmal wurden die Kritiker der Kanzlerin selbst zum Ziel der Kritik. Es ist eine bedeutsame Szene, die in Erinnerung bleiben wird.

Und die ging so: Montagmorgen, CDU-Vorstand, Berlin. Die stellvertretende Parteichefin Julia Klöckner gibt den anwesenden Gegnern von Merkels Flüchtlingspolitik der offenen Grenzen einen Tipp: „Einfach mal die Klappe halten.“ Und Volker Kauder, der Fraktionschef, pickt sich einen Kritiker vom Wirtschaftsflügel raus: Als Wirtschaftspolitiker dürfe der sich auch gerne wieder etwas mehr um Wirtschaftsthemen kümmern.

Klöckner und Kauder – sie waren an diesem Montag nicht die einzigen Kritiker der Kritiker. Was sich da im Bundesvorstand der CDU ereignete, das war nicht nur deshalb bemerkenswert, weil sich solche Spitzenrunden von Christdemokraten ja meist durch höflich-gepflegte Langeweile auszeichnen.

Reißt euch zusammen!

Nein, entscheidend war etwas anderes: Das offensichtliche Bestreben des Merkel-Lagers, wieder in die Offensive zu kommen, sich Spielraum zu erarbeiten. Das Signal an die eigenen Leute: Reißt euch zusammen, haltet Kurs! Man solle doch bitteschön nicht jeden Tag eine neue Frage aufwerfen, sondern lieber die Probleme lösen, sagt ein CDU-Spitzenmann aus dem Merkel-Lager.

Die Szene im Vorstand spielt vor dem Hintergrund einer weiteren Zuspitzung des innerparteilichen Zwistes: Rund 50 Unionsabgeordnete haben einen Brief an Merkel unterzeichnet, mit dem sie gegen ihre Flüchtlingspolitik protestieren. „Wir stehen vor einer Überforderung unseres Landes“, heißt es darin. Die implizite Forderung: nationale Maßnahmen, Grenzen schließen.

Noch aber setzt Merkel unbeirrt auf den internationalen Ansatz, auch das macht sie in der Vorstandssitzung deutlich: Gespräche mit der Türkei (Grenzsicherung), Einigung mit den Europäern (Kontingente), Fluchtursachen bekämpfen (Syrien). Nur: Es kommen noch immer rund 3000 Flüchtlinge täglich in Griechenland an, trotz Winterwetter. Im Frühjahr wird die Zahl wieder wachsen. Weder mit der Türkei, noch mit den anderen Europäern, noch mit dem Frieden in Syrien geht es voran. Bislang.

Was also, wenn alles nichts nützt? Merkel befindet sich in einem Wettlauf gegen die Zeit. Wenn sie bis zum Frühjahr die Flüchtlingszahlen nicht deutlich reduziert hat, braucht sie einen Alternativplan. Andernfalls würde sie ihre Kanzlerschaft riskieren. Offiziell gibt es einen solchen Plan B nicht, natürlich nicht. „Plan A muss zum Erfolg geführt werden“, sagt einer aus der CDU-Führung. Punkt. Soweit die offizielle Linie.

Doch in der Politik gibt es immer mehrere Ebenen; auch Rückzugsgefechte kann man vorbereiten. Es sind ja längst nicht mehr nur die eigenen Leute und die CSU-Quälgeister – die mit den Ultimaten -, die Merkel das Leben in der Flüchtlingspolitik schwer machen. Auch die SPD droht von der Fahne zu gehen. Heißt: In allen drei Koalitionsparteien rumort es. Wer den eigenen Laden nicht im Griff hat, das weiß Merkel, der muss von den anderen gar nicht erst Gefolgschaft erwarten.

Merkel wird alles versuchen, um alles versucht zu haben

Das Aufbäumen ihrer Mitstreiter in der Vorstandssitzung vom Montag dient so in erster Linie dazu, der Kanzlerin Zeit zu erkaufen. Wieder Ruhe in die aufgewühlte Stimmung zu bringen.

Das wahrscheinlichste Szenario von hier an geht dann so: Merkel wird in den kommenden Wochen international größtmöglichen Druck machen – bei den jetzt anstehenden deutsch-türkischen Regierungskonsultationen oder beim nächsten EU-Gipfel Mitte Februar. Sie wird alles versuchen – damit sie im Falle des Scheiterns sagen kann, sie habe alles versucht, nun müsse man aber einen anderen Weg nehmen.

Ein entscheidendes Datum bei diesen Überlegungen ist der 13. März. Das ist der politische Super-Sonntag, an dem in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt gewählt wird. In allen drei Ländern steht die CDU unter dem Druck der Rechtspopulisten von der AfD.

Merkel muss rechtzeitig vor diesem Wahltermin klarmachen, dass sie die Lage im Griff hat. Es gibt dafür durchaus andere Möglichkeiten jenseits einer kompletten Abriegelung der deutschen Grenze:

  • Nach SPIEGEL-Informationen spielt man in Merkels Umfeld die Möglichkeit durch, bestimmte Gruppen, zum Beispiel Afghanen, an der Grenze abzuweisen.
  • Einer Idee der Österreicher folgend könnten deutsche Polizisten mithelfen, die Grenzen von Kroatien oder Slowenien zu sichern. So würde die Zahl der Flüchtlinge auf der Balkanroute wohl reduziert werden.

Doch vorher, das ist klar, will Merkel alles probiert haben. Das Jahr habe gerade erst angefangen, soll sie Teilnehmern zufolge im Parteivorstand gesagt haben. Man könne doch jetzt noch kein Urteil fällen.

Viel Zeit aber bleibt nicht mehr.

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siehe auch: Die Welt

Das ist Merkels letzte Chance in der Flüchtlingskrise

Nach Köln ist auch die Kanzlerin überzeugt, dass die Flüchtlingszahl schnell sinken muss. Doch für eine EU-Lösung bleibt kaum Zeit. Daher droht Deutschland inoffiziell bereits mit dem Horrorszenario.

Zehn Jahre ist Angela Merkel (CDU) schon Kanzlerin. Wie lange sie es noch bleibt, entscheidet sich in den nächsten zehn Wochen. Denn im März, wenn die Stürme auf der Ägäis nicht mehr toben und der Winter auf dem Balkan vorbei ist, steigen die Flüchtlingszahlen wieder an – das sagen alle Experten und ihre Sicherheitsbehörden voraus.

Seit Jahresbeginn wurden bis vergangenen Donnerstag bereits über 51.000 Flüchtlinge neu in Deutschland registriert. Zwischen 2000 und 3000 Menschen setzen zur Zeit täglich von der Türkei auf die griechischen Inseln über. Das sind weniger als die 10.000, die sich an manchen Tagen im September und Oktober auf die Reise machten. Aber immer noch viel zu viele. 1000 neue Flüchtlinge pro Tag würden die Deutschen akzeptieren, kalkuliert Merkel. Die Reduzierung des Flüchtlingsstroms um 90 Prozent würden Medien und Bürger als Erfolg anerkennen. 360.000 Zuwanderer im Jahr könnten die Deutschen integrieren. Aber noch einmal über eine Million wie 2015? Wohl kaum.

Der Druck auf Merkel steigt, täglich wird es für die Kanzlerin enger. In der Bevölkerung sinkt die Stimmung rasant. Die Unionsfraktion verweigert zunehmend die Gefolgschaft; vor allem von der CSU kommen fast täglich neue Attacken. […]

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