03. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für Kämpfe der Migration als Un-/Sichtbare Politiken · Kategorien: Lesetipps

Quelle: movements

Einleitung zur zweiten Ausgabe

von Ilker Ataç, Stefanie Kron, Sarah Schilliger, Helge Schwiertz, Maurice Stierl

Spätestens seitdem die ungarischen Behörden im August 2015 den internationalen Zugverkehr am Budapester Ostbahnhof vorübergehend einstellten und tausende gestrandete Geflüchtete dort mehr oder weniger ihrem Schicksal überließen, erreichen uns täglich unzählige beeindruckende wie auch höchst verstörende Bilder: Geflüchtete, die sich zu hunderten entlang von Autobahnen und Bahngleisen zu Fuß durch Ungarn, Österreich, Deutschland und Dänemark bewegen, weil internationale Zug- und Busverbindungen gestoppt wurden; eine überwältigende grenzüberschreitende Hilfsbereitschaft von engagierten Menschen, die Flüchtenden Mitfahrgelegenheiten anbieten, sie an Bahnhöfen empfangen und versorgen oder Hilfskonvois nach Ungarn, Kroatien, Griechenland und Mazedonien organisieren; aber auch prügelnde Grenzbeamt_innen, hetzende Nazis, grölende ‚besorgte Bürger‘ und brennende Geflüchtetenunterkünfte. Während dieses „langen Sommers der Migrationen“ (Kasparek/Speer 2015) geriet der Schengen-Raum sowie das gesamte Projekt der EU in eine schwere Krise, was sich nicht zuletzt in der Wiedereinführung von Kontrollen an den deutschen, österreichischen, niederländischen und dänischen Grenzen zeigte. Zudem wurde das Dublin-System de facto außer Kraft gesetzt. Die Kämpfe der Migration gewannen dabei täglich an Dynamik. Es gelang, durch die Märsche und das Ringen um Bewegungsfreiheit die Widersprüche des europäischen Grenzregimes zum Vorschein zu bringen und selbstbestimmte Mobilität durchzusetzen.

Seit Anfang dieses Jahres sind an die 3000 Menschen auf ihrem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken oder auf andere Weise ums Leben gekommen. Hunderttausende Geflüchtete müssen nicht nur an Europas Außengrenzen, in Griechenland, Italien, Marokko, Libyen oder der Türkei, sondern auch in Ungarn, Deutschland oder Österreich unter menschenunwürdigen Bedingungen in unterversorgten Zeltstädten, überfüllten Erstaufnahmelagern oder unter freiem Himmel leben. Rechte Regierungen wie die ungarische mobilisieren Militär und Polizei an ihre Grenzen und errichten Mauern und Zäune gegen Migrant_innen; organisierte rechtsradikale Milieus in Deutschland zünden Geflüchtetenunterkünfte an, beschimpfen und attackieren Asylsuchende. Auf der anderen Seite fordern zivilgesellschaftliche und religiöse Organisationen bis weit ins bürgerliche Lager hinein etwa die Einrichtung eines legalen Fährbetriebs für Geflüchtete über das Mittelmeer oder bauen eigene Schiffe zur Seenotrettung aus. Bewohner_innen ganzer Stadtteile und Nachbarschaften haben in vielen europäischen Städten solide Netzwerke geknüpft, um Geflüchtete privat aufzunehmen, sie mit Kleidung, Essen und Geld zu versorgen oder ihnen den Zugang zu Bildung und eine minimale Gesundheitsversorgung zu ermöglichen.

Während sich Deutschland als Weltmeister der Willkommenskultur feiern ließ, hatte die Bundesregierung über Nacht wieder nationale Grenzkontrollen errichtet und nach der Asylrechtsverschärfung vom Juni diesen Jahres (vgl. kritnet 2015) eine weitere Entrechtung von Geflüchteten im Oktober durchgesetzt: Mit der Ausweitung von Lagerunterbringung und Residenzpflicht sowie der Wiedereinführung des Sachleistungsprinzip sind auch die politischen Erfolge der letzten Jahre bedroht. Darüber hinaus werden Albanien, Montenegro und Kosovo pauschal zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt. Zudem werden einigen Geflüchteten grundlegende soziale Rechte entzogen — obwohl das Bundesverfassungsgericht erst 2012 festgestellt hat, dass das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ gleichermaßen Geflüchteten zusteht und dass Menschenwürde „migrationspolitisch nicht zu relativieren“ ist (BVerfG 2012; vgl. Pro Asyl 2015).

Auf EU-Ebene haben sich die Mitgliedsstaaten mittlerweile für Quotenregelungen zur Verteilung von 160.000 Geflüchteten entschieden. Abgesehen davon, dass dies angesichts der realen Migrationsbewegungen eine geringe Zahl ist, spricht nicht zuletzt auch die Demonstration selbstbestimmter Mobilität von Geflüchteten in den letzten Monaten gegen eine solche bürokratische ‚Umverteilung‘. Darüber hinaus konnten sich die Institutionen der EU lediglich auf verschärfte gesetzliche oder sicherheitspolitische Maßnahmen der Flüchtlingsabwehr und -kriminalisierung einigen, wie etwa die Ausweitung der Definition der sicheren Herkunftsstaaten auf immer mehr politisch und ökonomisch höchst instabile EU-Anrainerstaaten oder konzertierte militärische Operationen gegen ‚Schlepper‘ und ‚Schleuser‘ auf den Transitrouten. Damit soll der Zugang zum Menschenrecht auf Asyl in der EU in wachsendem Maße (wieder) verschlossen werden, während die humanitäre Krise der Geflüchteten auch in Kerneuropa dramatische Ausmaße annimmt.

Trotz dieser teilweise verzweifelt anmutenden Maßnahmen zur Migrationsabwehr und Kontrolle wird deutlich: das bisherige europäische Grenzregime ist gescheitert. Bis zu den arabischen Revolutionen nahmen die Länder Nord- und Westafrikas, aber auch Osteuropas gegen entsprechende Geldzahlungen „relativ erfolgreich die Rolle postkolonialer Wächter des europäischen Grenzregimes ein“ (Buckel 2015). Mit der Dublin-Verordnung wurde zudem die Verantwortung für den Grenzschutz auf die südlichen und östlichen Mitgliedsstaaten der EU verlagert, während etwa Deutschland seine Infrastruktur zur Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten weitgehend abbaute. Doch nun agieren die Wächter an den europäischen Außengrenzen nicht mehr verlässlich. Bewaffnete Konflikte wie etwa in Libyen, Syrien und der Ukraine sind eskaliert. Als Folge steigender Migrationsbewegungen sind die Grenzen Griechenlands und Italiens extrem durchlässig geworden. Zudem haben die Schuldenkrisen in Südeuropa dazu geführt, dass Menschen aus den Staaten des Westbalkans, die zuvor etwa in Italien und Griechenland arbeiteten, zunehmend auch Richtung Deutschland, Frankreich oder Österreich wandern.

Doch die Gründe für diese Krise des europäischen Grenzregimes liegen nicht nur in den von der EU selbst mitbeförderten Konflikten der südeuropäischen und außereuropäischen Grenzwächterstaaten. Vielmehr hat das Grenzregime insbesondere in den vergangenen drei Jahren auch neue migrantische und pro-migrantische Akteure, Subjektivitäten und Formen der politischen Artikulation hervorgebracht, die zugleich Ausdruck und Folge der Krise sind. Diese Akteure und Subjektivitäten, ihre Mobilisierungen und politischen Kämpfe sind das Schwerpunktthema dieser zweiten Ausgabe von movements.

Refugee Movements und das Recht auf Bewegungsfreiheit

Am 29. Januar 2012 machte der Iraner Mohammed Rahsepar in einem Erstaufnahmelager für Asylsuchende im süddeutschen Würzburg seine Ankündigung wahr und erhängte sich mit einem Bettlaken. Dies geschah, nachdem sein Psychiater erfolglos darauf gedrängt hatte, an seinen ‚Unterbringungsbedingungen‘ etwas zu ändern. Der Suizid hätte auch einfach als alltägliche Normalität abgehakt werden können — wie es in ähnlichen Fällen häufig passiert ist. Doch im Fall von Rahsepar kam es zu mehreren Demonstrationen, die den Fall publik machten und dazu führten, dass die Unterkunftsbedingungen von Geflüchteten in Deutschland zu einem öffentlichen Thema wurden.

Im März 2012 begann eine Gruppe junger iranischer Geflüchteter in Würzburg einen Hungerstreik. Mit radikalen Methoden verschärften sie diesen noch, um die Aufmerksamkeit zu erhöhen: Sie nähten sich ihre Lippen zu. Der Protest breitete sich zunehmend auf andere Städte aus, in denen Dauermahnwachen in Zelten (Refugee Tent Action) organisiert wurden. Im September 2012 schließlich lief eine Gruppe von etwa 50 Geflüchteten von Würzburg in Richtung deutsche Bundeshauptstadt los. Nach einem Monat endete der fast 600 Kilometer lange Fußmarsch auf dem Berliner Oranienplatz, wo eine Zeltstadt errichtet wurde. Der Protest hatte von nun an einen gemeinsamen örtlichen Bezugspunkt — und geteilte politische Forderungen: Die Abschaffung der Lager- und Residenzpflicht und der Stopp der bestehenden Abschiebepraxis. Der sogenannte O-Platz wurde damit zum Ausgangspunkt einer bundesweiten Mobilisierung. Von diesem Ort aus starteten verschiedene Demonstrationen, hier kam es zu Begegnungsmomenten zwischen Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, hier fanden Hungerstreiks und gar eine Baumbesetzung statt.

Drei Jahre später ist der O-Platz wieder eine leere Grünfläche. Das große Zirkuszelt — einst das Herz des Protestcamps — wurde im Juni des vergangenen Jahres von Unbekannten angezündet und auch der Pavillon — ein Holzhaus mit 28 Türen — wurde im April 2015 durch einen Brandanschlag zerstört. Bereits ein Jahr zuvor, im April 2014, war das Camp geräumt worden. Seither erinnerte noch ein verwaister Infocontainer als letztes sichtbares Zeichen an das Protestcamp im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Auch der Container ist nun seit dem 20. Juli 2015 weg — abgeholt vom Bezirksamt Friedrichshain–Kreuzberg. Doch auch wenn dieser wahrnehmbare und zentrale Ort des Protests verschwunden ist: Nichts ist mehr wie es einmal war. Mit dem Protestcamp am O-Platz haben sich die Geflüchteten einen sozialen Raum und eine Stimme innerhalb der Gesellschaft verschafft. Durch intensive Öffentlichkeitsarbeit und diverse Aktionen gelang es ihnen, die grenzüberschreitende Mobilität und deren Kontrolle sowie nationalstaatliche Ein- und Ausschlüsse zu einem Thema zu machen, über das nun breit und kontrovers diskutiert wird.

Die Protestaktionen der Flüchtlingsaktivist_innen stellen damit eine neue Qualität ihrer Selbstorganisierung dar. Das soziale Netzwerk, die Allianzen und die unzähligen persönlichen, freundschaftlichen und solidarischen Banden, die im Zuge dieser Platzbesetzung entstanden sind — zwischen Geflüchteten, unterstützenden Aktivist_innen und Anwohner_innen — wirken nachhaltig und haben eine Bewegung entstehen lassen, die in dieser Art für Deutschland neu ist. „Der Oranienplatz wurde im Jahr 2012 schwanger mit dem Asylstreik. Seitdem hat der Oranienplatz viele kleine Oranienplätze zur Welt gebracht und sich über die gesamte Republik ausgebreitet. Wir werden nicht aufhören, um gleiche Rechte für alle zu kämpfen. You can’t evict a movement“ (Staiger 2015), sagt Napuli Langa, eine prominente Akteurin des Protests rund um den O-Platz, die auch mit einem Beitrag in dieser Ausgabe vertreten ist.

Auch im Sigmund-Freud-Park in der Wiener Innenstadt steht nicht mehr die Zeltstadt, die es im Winter 2012 an diesem Ort noch gab. Wie in Deutschland nahm auch die sogenannte Refugee Bewegung Vienna ihren Anfang im Protest gegen die prekären Lebensbedingungen in einem der beiden österreichischen Erstaufnahmezentren — in Traiskirchen, 30 Kilometer südlich von Wien. Geflüchtete organisierten in Allianz mit No Border-Aktivist_innen einen Protestmarsch aus Traiskirchen nach Wien. Das daraufhin aufgebaute Camp vor der Votivkirche zog weitere Refugees an. In der Folge kam es am 18. Dezember 2012 — dem internationalen Tag der Migrant_innen — zur Besetzung der Votivkirche im Zentrum Wiens und kurz danach traten einige der Geflüchteten in einen Hungerstreik.

Auch wenn das öffentliche Mobilisierungspotential der Protestbewegung in Wien Ende 2013 an Kraft verlor, konnte sie einiges erreichen: Der Protest sorgte für eine positive Verschiebung der öffentlichen Wahrnehmung von Geflüchteten, und einige Flüchtlingsaktivist_innen erhielten Aufenthaltsdokumente. Für die Geflüchteten und die Unterstützer_innen führte die Teilnahme an der Bewegung darüber hinaus zu wichtigen Politisierungsprozessen. Es entwickelten sich Formen des Empowerments durch politische Partizipation, zudem gewannen die Geflüchteten Zugang zu sozialen und politischen Netzwerken. Dadurch bildeten sich vielfältige Verbindungen zwischen Geflüchteten und Unterstützungsnetzwerken, die immer wieder erfolgreich genutzt wurden und werden — sei es bei der Mobilisierung für und der Organisation von Aktionen und Kundgebungen gegen die menschenunwürdige Lagerunterbringung in Traiskirchen, bei Abschiebeprotesten und Kämpfen um legalen Aufenthalt, oder aber auch bei der Suche nach Unterkunft und Arbeit.

Ähnliche Proteste von geflüchteten und undokumentierten Migrant_innen entstanden im gleichen Zeitraum seit 2012 etwa in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Ungarn, Dänemark, Schweden, aber auch im Gebiet der europäischen Außengrenzen in Italien, Griechenland sowie in Marokko. Und in Tunesien organisieren sich bereits seit 2011 Menschen mehrheitlich aus subsaharischen Ländern, die vor dem Sturz Gaddafis in Libyen gearbeitet hatten, in den Resettlement-Camps des UNHCR in der Wüste. Zudem entstanden Netzwerke tunesischer Eltern, deren Kinder nach der Revolution auf ihrer Reise nach Europa verschwanden.

Durch ihre öffentliche Präsenz und Vernetzung, den Grad ihrer Selbstorganisierung und ihre politische Radikalität haben diese migrantischen Bewegungen eine „neue Ära des Protestes“ eingeläutet, wie es im Aufruf zum oben beschriebenen Protestmarsch nach Berlin heißt (vgl. From the Struggles Collective 2015; Ataç 2013; Schwiertz 2015). In dieser zweiten Ausgabe der Zeitschrift movements gehen wir der Frage nach, was diese Protestbewegungen ausmacht, welche Formen die migrantischen Kämpfe und Proteste annehmen, welche Akteure, Subjektivitäten und Protestformen dabei entstehen und welche politischen Ergebnisse und Effekte durch diese vielfältige und translokale Bewegung erzielt werden.

Un-/Sichtbare Politiken der Migration

Auch wenn in unseren Augen mit den eingangs beschriebenen Ereignissen eine neue Ära des Protests eingeleitet wurde, stehen diese in der Kontinuität vergangener Kämpfe der Migration. Aus einer historischen Perspektive lassen sich dabei diverse sichtbare und unsichtbare Politiken der Migration ausmachen.

Zu den sichtbaren Formen des Protests zählen jene kollektiven Aktionen, die auf nationale und transnationale Öffentlichkeiten und auf die Sichtbarwerdung als politische Subjekte zielen. Dazu gehören die Kämpfe in den 1960er und 1970er Jahren in den Fabriken und in der Landwirtschaft, auf Straßen und Plätzen sowie vor Gericht (vgl. u.a. Bojadžijev 2012, Karakayali 2008, Heck 2008). Ab den 1980er Jahren und im Laufe der 1990er Jahre sind neue Protestformen wie das Kirchenasyl, Hungerstreiks, Flughafenblockaden, No Border Camps, Anti-Abschiebe- und Anti-Lager-Bündnisse dazugekommen. In Europa ist es insbesondere die Bewegung der Sans Papiers in Frankreich, die seit Mitte der 1990er Jahre mit Kirchenbesetzungen und politischen Streiks aus dem Schatten der Illegalität traten und gegen ihre Kriminalisierung und Entrechtung protestierten (Barron et al. 2011, McNevin 2006). Auch die mega marches in den USA, wo 2006 Millionen v.a. undokumentierte Migrant_innen auf die Straße gingen, um gegen ihre Entrechtung und Ausbeutung zu protestieren, zielten auf Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit ab. Zur Erzielung von Öffentlichkeit spielen dabei insbesondere die sozialen Medien eine bedeutende Rolle. Sichtbar werden diese migrantischen Kämpfe zudem durch die räumliche und soziale Infrastruktur, die von den Akteur_innen erkämpft und aufgebaut wurde. So führte in den USA die Organisierung von migrantischen Arbeiter_innen zur Gründung von Worker Centers (Benz 2014). Ein anderes Beispiel ist das Projekt der Autonomen Schule in Zürich, das aus einer dreiwöchigen Kirchenbesetzung entstanden ist und seither zu einem wichtigen sozialen Zentrum in der Stadt geworden ist, in dem Aktivist_innen die Themen Migration, Recht auf Arbeit, Stadt und Bildung verknüpfen (vgl. From the Struggles Collective 2015). Gleichzeitig finden sich vielfältige Formen migrantischer Kämpfe, die sich auf den weniger öffentlich sichtbaren mikropolitischen Ebenen des Alltags und der Privatheit abspielen. Unsichtbare Politiken ergeben sich aus alltäglichen Praktiken im Kontext von Grenz- und Integrationsregimen, die aus der taktischen Aneignung von Mobilität und der Verknüpfung von Migrationsprojekten hervorgehen und die nationalstaatliche Ordnungen mitsamt ihren Grenzen unterlaufen, faktisch infrage stellen und trans- bzw. postnationale Räume schaffen. Diese Politiken sind unsichtbar, weil sie im herrschenden Blickregime nicht als solche wahrgenommen werden, weil sie versuchen sich diesem zu entziehen oder nicht darauf abzielen in Erscheinung zu treten.

Gerade durch die weniger spektakulären, alltäglichen und häufig unsichtbaren Kämpfe etwa um Arbeit, Aufenthalt und Bewegungsfreiheit wird der herrschende Status Quo infrage gestellt. Wie der „Sommer der Migrationen“ mehr als deutlich macht, nehmen sich die Menschen ihr Recht auf Flucht und Bewegungsfreiheit, überqueren mangels legaler Möglichkeiten auch irregulär die europäischen Grenzen und versuchen im Schengen-Raum das Dublin-System zu umgehen, um an einem Ort ankommen zu können, der ihnen mehr als das bloße Überleben ermöglicht. Wenn auch diese Migrationen nicht zu einer gezielt organisierten und als solche sichtbaren Protestbewegung gehören, so können die Grenzübertritte doch als Akte eines zivilen Ungehorsams verstanden werden, durch welche Gesetze und herrschende migrationspolitische Ordnungen infrage gestellt werden. Weitere unsichtbare Politiken, Taktiken und Vernetzungen — oder imperceptible politics (unwahrnehmbare Politiken), wie sie Dimitris Papadopoulos, Niamh Stephenson und Vassilis Tsianos (2008) nennen — zeigen sich etwa in der Heiratsmigration, in migrantischen Netzwerken und lokalen Solidaritätsstrukturen oder dem Vernichten von Ausweisdokumenten, um der Registrierung zu entgehen. Letzteres war im Rahmen des Refugee Protest March gleichzeitig auch Teil einer öffentlichen und kollektiven Protest-Aktion, was auf den fließenden Übergang von unsichtbaren und sichtbaren Politiken verweist. Auch die Fußmärsche von Geflüchteten in diesem Sommer — von Ungarn über Deutschland, Österreich und durch Dänemark Richtung Schweden — zeigen, wie die meist unsichtbaren Politiken der Aneignung von Mobilität zu sichtbaren politischen Akten werden können, die in Europa und darüber hinaus öffentliche Debatten bestimmen. Mit dieser Ausgabe möchten wir daher deutlich machen, dass sichtbare und unsichtbare Politiken der Migration in einem Wechselverhältnis zueinander stehen, sich gegenseitig bedingen und einander durchdringen.

Neue Akteur_innen, Subjekte und Formen des Protests

Wer sind die Akteur_innen dieser migrantischen Kämpfe? Wie gestalten sich ihre Praktiken und ihre Strategien der politischen Repräsentation? Wie kommt es zur Bildung von Allianzen? Und was ist im Vergleich zu früheren migrantischen Protestbewegungen heute anders und spezifisch?

Die betreffenden Akteur_innen sind Asylbewerber_innen und undokumentierte Arbeiter_innen, unter ihnen bereits zuvor politisierte Geflüchtete wie etwa Anarchist_innen, Kommunist_innen und andere linke Oppositionelle aus dem Iran, den kurdischen Gebieten und Syrien; aber auch Menschen, die sich ohne explizit politische Biographie auf den Weg machten, während ihrer Reise nach Europa in der Begegnung mit dem restriktiven europäischen Grenzregime Repression, Gewalt und Traumata erfuhren und dabei vielfältige Strategien entwickelt haben, um Grenzen zu überwinden und Netzwerke der Solidarität aufzubauen. Viele Flüchtlingsaktivist_innen kämpfen für ein menschenwürdiges Leben ungeachtet ihres juristischen Status und haben aufgrund dieser Erfahrungen im transnationalen Raum die Sprache der Menschenrechte für sich entdeckt.

Auch die Gruppen der Unterstützer_innen (Supporter) sind vielfältig. Hierzu gehören No Border-Aktivist_innen, Aktivist_innen der selbstorganisierten migrantischen Gruppen, Feminist_innen und andere, die sich zur undogmatischen oder parteipolitisch organisierten Linken zählen und sich vermehrt für die Rechte der Geflüchteten einsetzen. Gleichzeitig gehören zu den Supporters auch zahlreiche NGOs, kirchliche Wohlfahrtsverbände, etablierte migrantische Vereine, linke Wissenschaftler_innen, Künstler_innen und Kulturschaffende sowie einzelne Gruppierungen innerhalb der Gewerkschaften und politischen Parteien. Der lange Sommer der Migration macht deutlich, dass auch viele nicht explizit politisch, religiös oder anders zivilgesellschaftlich organisierte Menschen Geflüchteten aus humanitären oder anderen Gründen helfen wollen. Und nicht zuletzt sind Geflüchtete oder Menschen mit einer Fluchtgeschichte selbst Unterstützer_innen anderer Geflüchteter.

Dabei haben sich auch neue soziale und politische Koalitionen ergeben und damit einen transversalen Politikansatz vorangetrieben, bei dem Differenzen nicht essentialisiert, aber dennoch unterschiedliche Lebensrealitäten und -erfahrungen von Menschen anerkannt werden. Charakteristisch ist zudem das Verschmelzen mit anderen Kämpfen, wie etwa mit Arbeitskämpfen; mit jenen der gentrifizierungskritischen Bewegungen um das Recht auf Stadt, d.h. um Commons und freien Zugang zu sozialer und öffentlicher Infrastruktur; mit jenen der Geflüchteten um das Recht auf Bleiben, auf Bewegungsfreiheit und für soziale und politische Partizipation. Ähnlich der Occupy-Bewegung gibt es kaum eine formale Organisierung wie etwa in Parteien oder Vereinen und oftmals auch keine formalisierten Sprecher_innenpositionen.

Die Protestbewegungen der Geflüchteten zeichnen sich weiter dadurch aus, dass diese sich selbst und ohne Vermittler_innen öffentlich zu Wort melden. So konnten sie mit medialen und politischen Diskursen brechen, in denen sie entweder als Opfer oder als Kriminelle repräsentiert werden. Die starke Betonung des Für-sich-selbst-Sprechens ist auch als Versuch zu verstehen, eine politische Praxis zu etablieren, in der soziale Akteure ihren normalisierenden Repräsentationen entfliehen und bei der die — oft v.a. bei NGOs kritisierte — Stellvertreter_innenpolitik vermieden wird. Die Frage der Repräsentation von Geflüchteten und Illegalisierten wurde im deutschsprachigen Raum damit erneut gestellt: Aktivist_innen vom The Voice Refugee Forum und von der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migranten hatten die Vision autonomer politischer Organisationsstrukturen für und von Migrant_innen bereits vor fast 20 Jahren mit Vehemenz formuliert. Kämpften diese Kollektive lange Jahre nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit, sind die Kämpfe der Geflüchteten von 2012 zumindest vorübergehend ein beliebtes Thema der Massenmedien geworden.

Dies hat wohl nicht zuletzt mit den gewählten Protestformen zu tun, mittels derer versucht wird, die gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse zu artikulieren und medial darzustellen. Eingesetzt werden, wie beispielsweise in Hungerstreiks, insbesondere das eigene Leben und der leibliche Körper — die einzigen Mittel, die vielen Undokumentierten bleiben, um politischen Druck auszuüben und die politisch Verantwortlichen bloß zu stellen. Damit erreichte die neue Geflüchteten-Bewegung im Gegensatz zu früheren migrantischen Protestbewegungen, dass sie von politischen Verantwortlichen zumindest wahrgenommen wurde und der Staat ihr eine gewisse Aufmerksamkeit schenkte — auch wenn dabei politisch meist nicht viel Konkretes erreicht werden konnte.

Diese Selbstrepräsentation mittels höchst radikaler Methoden und entschlossenem Auftreten war und ist eine Stärke der Refugee-Bewegung. Das Beharren auf Autonomie führte jedoch auch zu neuen Abgrenzungen, Differenzierungen und cleavages innerhalb der Bewegung. So gab es etwa auf dem Refugee Struggle Congress im März 2013 in München Auseinandersetzungen um die Unterscheidung von citizens und non-Citizens und damit verbundene Ausschlüsse von Treffen. Gleichzeitig mehrten sich jedoch auch Stimmen, die die ausschließliche Kategorisierung von Mitgliedern der Refugee-Bewegung über deren rechtlichen Status (citizen, non-citizen, Refugee, Supporter, etc.) ablehnten. Sie wiesen darauf hin, dass die Identität und Subjektivität eines Menschen nicht nur durch dessen rechtlichen Status bestimmt ist, sondern durch mehrere und intersektional verschränkte soziale Stratifikationsdynamiken — wie etwa nach Geschlecht, sozialer Klasse und Herkunft. Diese Debatte wurde vor allem von geflüchteten Frauen eingebracht, die innerhalb der Bewegung für ihre Eigenständigkeit kämpfen mussten und — wie beispielsweise die Frauenflüchtlingsorganisation Women in Exile — frauenspezifische Forderungen formulierten (vgl. Nadiye Ünsal in diesem Heft).

Ein weiterer wichtiger Aspekt der neuen Refugee-Bewegungen ist ihre starke transnationale politische Vernetzungsarbeit. Mit dem Ausspruch „Oranienplatz ist überall!“ mobilisierte die Flüchtlingsbewegung in Berlin für den grenzüberschreitenden March for Freedom von Sans Papiers und Migrant_innen, der im Mai 2014 in Strasbourg startete, im Juni in Brüssel vor den Institutionen der EU endete und von dezentralen Aktionen in verschiedenen Ländern Europas begleitet wurde. Bereits 2011 gab es die ersten Märsche und Streiks unter dem Motto „Ein Tag ohne uns“ in Italien, Griechenland, Spanien und Frankreich sowie ein Jahr später den transnationalen Migrant_innenstreik in Österreich. Der Slogan „Ein Tag ohne uns“ sollte auf die Rolle von Migrant_innen für das wirtschaftliche, kulturelle und soziale Leben aufmerksam machen (1. März/Transnationaler Migrant_innenstreik Wien 2012). Die Idee für diese Form der Streiks von Migrant_innen war 2006 im Rahmen der bereits erwähnten Massenproteste in den USA entstanden.

Die starke transnationale Dimension der Refugee-Bewegungen fußt jedoch gleichzeitig meist auf lokalen Verankerungen. So sind häufig eklatante Missstände in Lagern und Heimen für Asylbewerber_innen Auslöser und gemeinsamer Bezugspunkt für translokale und auch transnationale Verbindungen zwischen Geflüchteten an verschiedenen Orten. Ein Beispiel, wie Geflüchtete Proteste ins Innere des europäischen „borderlands“1 (Balibar 2009) tragen, ist die Gruppe Lampedusa in Hamburg, eine Bewegung von Geflüchteten, die über die Mittelmeerinsel Lampedusa in Europa angekommen waren und seit 2013 für ihr Recht auf Aufenthalt und Teilhabe in der norddeutschen Stadt kämpfen (vgl. Martina Tazzioli in diesem Heft). Lampedusa ist gleichzeitig zu einem Symbol für die unmenschliche Migrationspolitik Europas und zu einem Ausgangspunkt von migrantischen Kämpfen geworden. Diese haben sich etwa 2014 in die Charta von Lampedusa2 eingeschrieben, die als transnationale Erklärung das Recht auf Bewegungs- und Bleibefreiheit konstituiert und zu einer Referenz für viele lokale migrantische und pro-migrantische Bewegungen geworden ist. Transnationale Verbindungen werden also durch räumliche und virtuelle Bewegungen und Vernetzungen der Migrant_innen hergestellt und intensiviert — durch Märsche, social media und durch Koalitionen mit Supporter-Gruppen. In diesem Sinne schreibt sich die Refugee-Bewegung in das Konzept der Autonomie der Migration ein, das Migration versteht als eine soziale und politische Bewegung gegen die Versuche, sie zu kontrollieren und zu regieren (Moulier Boutang 2007, Mezzadra 2007, Karakayali/Bojadžijev 2010).

Repression und rechte Politik

Flüchtlingsaktivist_innen haben die herrschende migrationspolitische Ordnung auf vielfältige Art und Weise herausgefordert und Rechte eingefordert. Gleichzeitig standen diese Bewegungen in unterschiedlicher Weise unter Druck. So kam es zur Abschiebung von Aktivist_innen und es gab Versuche, die Protestbewegung zu kriminalisieren (ein Beispiel ist die gerichtliche Anklage wegen ‚Schlepperei‘ gegen Flüchtlingsaktivist_innen in Wien). Zudem wurden seit 2013 verstärkt nicht nur Kämpfe der Migration, sondern auch Kämpfe um und gegen Migration sichtbar. Der deutsche und europäische Rassismus hat eine neue Hochkonjunktur und es kommt zu rechten Mobilisierungen und Zusammenschlüssen. Von der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) bis hin zu den rechtspopulistischen Mobs und Versammlungen von Hogesa und PEGIDA, von Berlin-Hellersdorf und Hamburg-Harvestehude bis in die sächsischen Ortschaften Freital und Heidenau durchzieht eine neue Welle rassistischer und rechtsradikaler Organisierung signifikante Teile der Gesellschaft. Dies betrifft auch Österreich, wo die FPÖ und andere rechtsradikale Formationen gegen Asylbewerber_innenheime mobil machen, und die Schweiz, wo sich rassistische Bürgerinitiativen gegen Asylsuchende organisieren. Mit der rechten UK Independence Party in Großbritannien, dem Front National in Frankreich oder der Partei Goldene Morgenröte in Griechenland haben zudem in den vergangenen Jahren auch in anderen europäischen Staaten rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien Aufschwung erhalten und in Ungarn stellt die rechtspopulistische Fidesz mit Präsident Victor Orbán an der Spitze sogar die Regierung.

Präsentation der Beiträge

Die in dieser Ausgabe versammelten Beiträge analysieren Kämpfe der Migration aus verschiedenen Perspektiven. Die Vielfältigkeit der Widerstandspraktiken zeigt nicht nur die Notwendigkeit, reduktionistische Konzeptionen von politischem Widerstand zu erweitern, sondern eröffnet auch neue Sichtweisen auf politische Subjektivierungsprozesse, Organisationsformen und alltägliche Praktiken der Aneignung von Bewegungsfreiheit und anderen Rechten, die in den Spannungsfeldern heutiger Migrations- und Grenzregime entstehen. In diesen Kämpfen entwickeln die Akteure oftmals dynamische Protestformen und kreative Solidaritäten gegen die räumlich diffusen, oft dezentralen und nicht selten höchst gewalttätigen Grenzpolitiken.

Die Beiträge erörtern exemplarisch und detailliert die komplexen Dynamiken zwischen den institutionellen Arrangements der Kontrolle und den Kämpfen der Migration. Es kommen zum einen diejenigen zu Wort, die als Geflüchtete Sprechpositionen erlangten und wichtige Impulse für praktische und diskursive Interventionen gaben und geben. Andere Beiträge reflektieren die theoretischen und praktischen Fragen von Solidarität, Hilfe und Unterstützung aus der Perspektive von Unterstützer_innen oder Wissenschaftler_innen.

Napuli Langa analysiert die Protestformen der Refugee-Kämpfe in Deutschland und Europa. Sie sieht diese Kämpfe auch als Spiegelbild und Kritik einer imperialistischen, kolonialen und kapitalistischen Vergangenheit und Gegenwart. Holger Wilcke und Laura Lambert widmen sich in ihrem Beitrag der Analyse des von Geflüchteten 18 Monate lang besetzten Kreuzberger O-Platzes als einem spezifischen Ort des politischen Protests. Sie richten ihr besonderes Augenmerk auf die Frage des Politischen in den sichtbaren wie auch unsichtbaren Kämpfen der Migration an diesem zentralen Protestort der europäischen Refugee-Bewegungen. Der Beziehung zwischen sichtbaren (öffentlichen) und unsichtbaren bzw. unwahrnehmbaren Politiken in Kämpfen der Migration widmet sich auch Lisa Riedner in ihrem Text über den Arbeitskampf von vier bulgarischen Reinigungsarbeiterinnen in München. Riedner unterscheidet zwischen Kämpfen, die mit Hilfe von Politiken der Repräsentation öffentlich sichtbar geführt werden — etwa vor Arbeitsgerichten — und jenen unwahrnehmbaren oder unsichtbaren Kämpfen, die beispielsweise am Arbeitsplatz geführt werden. Ähnlich wie Wilcke und Lambert kommt Riedner jedoch zu dem Schluss, dass sich sichtbare und unsichtbare bzw. unwahrnehmbare Kämpfe nicht gegenseitig ausschließen, sondern lediglich unterschiedliche migrantische Strategien bilden, Widerstand gegen die teils sehr subtilen Formen des Regierens der Migration zu leisten. Wie Langa betont auch Nadiye Ünsal die Bedeutung und Notwendigkeit neuer Allianzen zwischen migrantischen und pro-migrantischen Gruppen. Sie unterstreicht aber gleichwohl die Schwierigkeit der eindeutigen Positionierungen verschiedener Akteure in den Refugee-Protesten und analysiert konkret die Machtverhältnisse entlang von race, gender und citizenship, die zwischen Refugees und Supporters am O-Platz entstanden sind.

Für breite und vielfältige Solidaritätsnetzwerke als Antwort auf Abschiebungen spricht sich Lisa Doppler aus. In ihrem Beitrag thematisiert sie am Beispiel von Osnabrück die nicht immer einfache, aber notwendige Bildung von pluralen Allianzen, um gemeinsame Blockade-Strategien ins Leben zu rufen und Abschiebungen durch zivilen Ungehorsam zu verhindern. Rosine Kelz beschäftigt sich auf einer theoretischen Ebene mit der Frage der Solidarität zwischen Migrant_innen und Nichtmigrant_innen. Sie plädiert für einen nicht-souveränen Subjektbegriff als theoretische Grundlage für nicht-paternalistische Solidarität. Davon ausgehend stellt sie die Frage, was solidarisches Denken und Handeln gegen ein national-rassistisches, homophobes, exklusives und versicherheitlichtes Europa bedeuten kann. Aleksandra Vedernjak-Barsegiani sucht und findet in ihrem Text kollektive Praktiken und funktionierende Solidaritätsformen im gegenseitigen Sorgetragen von georgischen Migrant_innen in Österreich, die neue Handlungsspielräume eröffnen.

Als gemäß der Dublin-Verordnung Abgeschobene berichtet Ekaterina Lemonjava in ihrem Gespräch mit Carla Küffner über den von ihr organisierten Hungerstreik in vier Abschiebelagern in Polen. Durch kollektive Proteste erkämpften sie und andere Insassen Rechte und Würde selbst in der Gefangenschaft und erfuhren dadurch öffentliche Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Auch der Beitrag von Nina Violetta Schwarz thematisiert Formen des Widerstands von inhaftierten Geflüchteten. Am Beispiel der Republik Zypern zeigt sie auf, wie inhaftierte Asylsuchende auf verschiedenen sichtbaren und unsichtbaren Ebenen gegen die herrschende Strategie des Wartenlassens Widerstand leisten und sich Gehör verschaffen.

Gehör zu finden und öffentlich wahrgenommen zu werden sind auch zentrale Anliegen der in New York organisierten undokumentierten Jugendlichen. In seinem Text folgt Helge Schwiertz deren politischen Kampagnen um Rechte auf Bildung und Aufenthalt. Er zeigt auf, wie undokumentierte Jugendliche durch selbstermächtigende Praktiken neue politische Subjektivitäten ausbildeten und Sprechpositionen fanden. Ibrahim Kanalan zieht in seinem Text ein Resümee von zehn Jahren Protesten und Kämpfen um Rechte und Sichtbarkeit geflüchteter Jugendlicher in Deutschland. Dabei thematisiert er die Auseinandersetzungen mit dem Paternalismus der NGOs wie auch innerhalb der Flüchtlingsbewegung. Die Sichtbarmachung von Gewaltexzessen des Europäischen Grenzregimes ist ein Hauptanliegen des aktivistischen Projekts Watch the Med Alarm Phone. Maurice Stierl berichtet von der Entstehung des Notruftelefons für Geflüchtete in Seenot, das als politische Intervention im oftmals schwer überschaubaren maritimen Raum des Mittelmeers eine kritische internationale Öffentlichkeit und Präsenz hervorbrachte.

Im Zentrum von Martina Tazziolis Beitrag stehen neben der Sichtbarmachung von prekären Mobilitäten die vielen turbulenten Formen und häufig unsichtbaren Kämpfe der Migration. Tazziolis Analyse der zahlreichen irregularisierten Migrationsbewegungen im europäischen Raum beruht auf der Methode des counter-mappings, welche die schwer aufspürbaren, sogar irreführenden Mobilitäten erkennbar macht und Europas Legitimationskrise aufzeigt. Alltägliche migrantische Praktiken und subversive Mobilitäten werden auch von Stephan Scheel aufgezeigt. In seinem Beitrag plädiert er für eine Revision und kritische Reflexion des postoperaistisch geprägten Konzepts der Autonomie der Migration. Die Frage, ob und inwiefern citizenship als Analysekategorie für migrantische Kämpfe um Rechte und Prozesse politischer Subjektkonstitution fruchtbar gemacht werden kann und sollte, diskutieren Ilker Ataç, Helge Schwiertz und Anna Köster-Eiserfunke im Interview mit der kanadischen Migrationsforscherin Kim Rygiel. Nicolas de Genova schließlich bietet eine kritische Analyse von rechtspopulistisch-rassistischen Bewegungen wie PEGIDA. De Genova vertritt dabei die These, dass PEGIDA nicht (nur) als spezifisch deutsches Phänomen gesehen werden sollte, sondern verortet werden muss im breiteren Kontext dessen, was er einen xenophoben und islamophob aufgeladenen „patriotischen Europaismus“ nennt.

Literatur

1. März/Transnationaler Migrant_innenstreik Wien (2012): Migrant_innenstreik. In: Brand, Ulrich / Lösch, Bettina / Opratko, Benjamin / Thimmel, Stefan (Hg.): ABC der Alternativen 2.0. Hamburg. 164–165.

Ataç, Ilker (2013): Die Selbstkonstituierung der Flüchtlingsbewegung als politisches Subjekt. URL: http://eipcp.net/transversal/0313/atac/de 1.

Balibar, Étienne (2009): Europe as Borderland. In: Environment and Planning D: Society and Space 27 (2). 190–215.

Barron, Pierre / Bory, Anne / Chauvin, Sébastien / Jounin, Nicolas / Tourette, Lucie (2011): On bosse ici, on reste ici! La grève des sans-papiers: une aventure inédite. Paris.

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Fussnoten

[1] Étienne Balibar bezeichnet den gesamten EU-Raum als borderland. Hier werde die Mobilität von Menschen durch ein hochdifferenziertes und hochtechnisiertes System von Kategorisierungen und transfer points wie Häfen, Flughäfen, Bahnhöfe und Autobahnraststätten selektiv und gradualisiert ermöglicht oder begrenzt. Die Grenze als sozialer Raum wird hier nicht nur in die Gesellschaft hinein verlagert oder mit Systemen der biometrischen Datenspeicherung wie EURODAC sogar den Körpern mobiler Individuen angeheftet. Sie wird vielmehr selbst mobil bzw. sie nimmt einen diffusen und netzwerkförmigen Charakter an. Doch auch die traditionelle Landgrenze erhält eine neue Bedeutung als hard border (Rumford 2006) an den Außengrenzen der EU oder des NAFTA-Raums. Hier ist die Mobilitätskontrolle weniger mobil, privatisiert und individualisiert, sondern tendenziell militarisiert (vgl. Kron 2015: 13).

[2] „Die Charta von Lampedusa ist das Ergebnis eines konstituierenden Prozesses und der Konstruktion eines Rechts von unten. Die Charta wurde gemeinsam geschrieben bei einem Treffen verschiedener Organisationen, Gemeinschaften und Einzelpersonen vom 31. Januar bis 2. Februar 2014 auf Lampedusa“ (http://www.lacartadilampedusa.org).

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