02. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Europa im Bann der Flüchtlingsfrage“ · Kategorien: Europa · Tags:

Quelle: NZZ

Europa im Bann der Flüchtlingsfrage

Jahrelang hat Europa die Flüchtlingskrise im Nahen Osten ignoriert. Doch dann zog die Krise hierher. Mehr als eine Million Menschen suchten in diesem Jahr Asyl in Europa. Der überraschte Kontinent ringt nach Lösungen.

Vor einem Jahr deutete noch wenig auf die schwere Krise hin, die Europa in diesem Jahr im Griff halten sollte wie kein anderes Thema. Hin und wieder gab es Meldungen über Flüchtlingsboote im Mittelmeer, deren Insassen aus Afrika herkommend von der italienischen Küstenwache oder internationalen Einheiten aufgegriffen und von Hilfskräften in Süditalien empfangen wurden. Jeden Monat gelang auf diese Weise einigen tausend Migranten die Überfahrt. Es waren deutlich mehr als im Jahr davor, aber das war insgesamt noch kein Anlass für die führenden Medien und Politiker in Europa, dem Problem Zehntausender unter oft unwürdigen Bedingungen in Südeuropa ankommender Migranten grössere Aufmerksamkeit zu schenken.

Spätes Erwachen der europäischen Politiker

Dann kenterte am 19. April ein überladener Fischkutter vor der libyschen Küste und riss mehr als 800 hilflose Migranten in den Tod. Ab diesem Sonntag war nichts mehr wie zuvor. Die Medien und Politiker wurden gewahr, dass der Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer im April um ein Vielfaches auf rund 25 000 angeschwollen war, wie Daten des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) später belegen sollten. In Brüssel stellte einen Tag darauf der EU-Kommissions-Präsident Juncker einen Zehn-Punkte-Plan zur Migrationspolitik vor. Der EU-Rats-Präsident Tusk berief noch in derselben Woche einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs ein. Als Folge wurde die von der europäischen Grenzschutz-Organisation Frontex betriebene Operation Triton im Mittelmeer erheblich aufgestockt und durch mehr Flugzeuge und Schiffe verstärkt.

Der Ausbau der Operation Triton zeigte Wirkung. Der Einsatz grosser Flüchtlingsschiffe wurde seltener. Der bis dahin hauptsächlich von Libyen ausgehende Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer ging bis im Sommer markant zurück. Doch die Anziehungskraft Europas auf Asylsuchende wurde dadurch in keiner Weise gemindert. Vielmehr verschob sich die wichtigste Flüchtlingsroute nach Osten, auf die kurze Überfahrt von der Türkei zu den griechischen Inseln. Im Juni wurden erstmals mehr als 50 000 Migranten gezählt, die über das Mittelmeer nach Europa reisten, im August wurde die Marke von 100 000 pro Monat übertroffen, und allein im Oktober waren es mehr als 200 000 Überfahrten. Insgesamt ist in diesem Jahr mehr als eine Million Asylsuchende nach Europa gereist, etwa drei Viertel von ihnen aus den Krisengebieten Syrien, Afghanistan und dem Irak stammend.

Damit hatte niemand in Europa gerechnet. Der alte Kontinent und seine politischen Eliten wurden von den Flüchtlingsströmen überrumpelt. Das trug zu hilflosen Reaktionen und Streitigkeiten bei, welche die Lage nur noch verschärften. Im August beschloss das deutsche Bundesamt für Flüchtlinge und Migration die Aussetzung des Dublin-Verfahrens, nach dem Asylsuchende in europäische Einreiseländer zurückgewiesen werden können. Bundeskanzlerin Merkel erklärte die Asylsuchenden für willkommen und appellierte an die Solidarität der Bevölkerung. Was als kurzfristige Notmassnahme gedacht war, wirkte als Signal an Millionen von Migranten, so schnell wie möglich die Reise nach Deutschland zu wagen, und verstärkte die Flüchtlingsströme markant. Auf der gefährlichen Fahrt über das Mittelmeer fanden nach UNHCR-Daten mindestens 3600 Migranten den Tod.

Die EU hat in der Flüchtlingskrise keine gute Figur gemacht. Einmal mehr wurde sie von den Folgen selbstverschuldeter Versäumnisse überrascht und in eine Krise gestürzt, welche die eigenen Institutionen und Normen bis aufs Äusserste belastet. Jahr für Jahr hatten das UNHCR und Hilfsorganisationen den dürftigen Hilfseinsatz Europas für die vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak beklagt, die unter oft erbärmlichen Bedingungen in den Nachbarländern Türkei, Jordanien und Libanon verharren. Doch die Gemeinschaft vermochte sich nicht einmal auf die Umsiedlung von 5000 Flüchtlingen zu einigen, die mit dem Zehn-Punkte-Plan im April vorgeschlagen wurde. Der Versuch, eine verpflichtende Umverteilung von Asylsuchenden aus besonders belasteten Mitgliedsstaaten einzuführen, scheiterte an mangelnder Solidarität. Selbst die geplante freiwillige Umverteilung von 160 000 Asylsuchenden in den nächsten zwei Jahren kommt nur schleppend voran. Dasselbe gilt für den versäumten Schutz der Aussengrenzen des Schengen-Raums, der erst jetzt durch einen Ausbau von Frontex verstärkt werden soll.

Verspieltes Vertrauen

Die EU hat mit ihrem Versagen in der Flüchtlingskrise viel Vertrauen in der eigenen Bevölkerung verspielt. Überall finden Rechtspopulisten Zulauf. In Deutschland fühlt sich gemäss einer Allensbach-Umfrage vom Dezember eine Mehrheit der Bevölkerung von Medien und Politikern falsch informiert. Nur ein Zehntel der Eliten glaubt, dass die Regierung die Lage unter Kontrolle hat. Ein Austritt Grossbritanniens aus der Union ist laut den jüngsten Meinungsumfragen wegen Europas Kontrollverlust in der Migrationsfrage viel wahrscheinlicher geworden.

Wird Europa die Lage im neuen Jahr in den Griff bekommen? Die Zuwanderung von Asylsuchenden ist im November und Dezember deutlich zurückgegangen, wozu ein umstrittenes Flüchtlingsabkommen mit der Türkei beigetragen hat. Doch auch im Dezember kamen immer noch allein in Griechenland mehr als 3000 Menschen pro Tag an, die auf ein besseres Leben in Europa hoffen. Das grosszügigste Aufnahmeland Schweden hat im November das Erreichen seiner Belastungsgrenze erklärt. In Deutschland, das eine Million Asylsuchende aufnahm, wächst der Widerstand. Immer mehr der 26 Mitgliedsländer des Schengen-Raumes führen wieder Grenzkontrollen ein, die den freien Personenverkehr behindern. Die Flüchtlingskrise dürfte auch im neuen Jahr weit oben auf der Tagesordnung von Politik und Medien stehen.

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