20. Dezember 2015 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge auf dem Balkan: Im eiligen Land“ · Kategorien: Balkanroute, Mazedonien, Serbien

Quelle: FAZ

Zu Weihnachten wollen die Balkanländer die Flüchtlinge so schnell wie möglich loswerden. Doch die Zusammenarbeit der Behörden klappt nur mäßig. Und es wird immer kälter.

von Christian Geinitz

Fast jedes Flüchtlingslager auf dem Balkan bietet freien Internetzugang, in allen stehen Gestelle mit Dutzenden von Steckdosen bereit, um Mobiltelefone aufzuladen. Doch noch längst nicht jede Unterkunft verfügt über Heizungen und Holzböden, einige Lagerplätze verwandeln sich bei Schnee und Regen in Schlammwüsten.

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In der Anlage im mazedonischen Gevgelija an der Grenze zu Griechenland ist in der vergangenen Nacht wieder einmal der Strom ausgefallen. Da die Heizungen elektrisch laufen, sanken die Temperaturen in den Zelten und Hütten unter den Gefrierpunkt. Mit Stapeln von Decken des Roten Kreuzes hat Mahmoud Fathy sich selbst, seine Schwester Faizah und deren sechs Kinder so gut es ging warm gehalten, dazu gab es Tee aus Thermoskannen.

Die acht Iraker sind vor dem Terror und dem Krieg aus ihrer Heimatstadt Mossul geflüchtet, zuerst in die Türkei, dann nach Griechenland und Mazedonien, 2400 Kilometer in zehn Tagen. Die nächsten 1000 Kilometer wird alles viel schneller gehen, in kaum zwei Tagen dürften sie den westlichen Balkan durchqueren, von Mazedonien über Serbien und Kroatien bis Slowenien. Von dort geht es via Österreich nach Deutschland, wo Faizahs Mann ungeduldig auf sie wartet.

Er hat gehört, dass es schwerer wird, die Angehörigen nachzuholen, deshalb sollen sie sich beeilen. Das tun sie, und die Behörden auf dem Weg geben sich alle Mühe, dabei zu helfen. Die Transitstaaten möchten die ungebetenen Gäste so schnell wie möglich loswerden, weiterreichen an das nächste Glied in der Kette. Zu den Feiertagen um Weihnachten und Neujahr, wenn es das Personal knapp wird, soll die Abfertigung perfektioniert sein.

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Innerhalb der einzelnen Staaten ist der Ablauf jetzt schon so ausgefeilt, dass die Reisenden an jedem Standort nur wenige Stunden zubringen. Geschlafen wird zumeist nicht in den Lagern, sondern in den Zügen, Bussen oder Taxis. Wer den Weg der Menschen nach Norden abfährt, von Grenze zu Grenze, Lager zu Lager, wird erleben, dass das verpönte Bild der „Flüchtlingsflut“ zumindest im Sinne der Gezeitenfolge stimmt. Es herrscht Ebbe, wenn die Züge und Busse abgefahren sind, nur die Helfer bleiben zurück sowie einige wenige Migranten, die krank sind oder auf Familienmitglieder warten.

Nur noch Syrer, Iraker und Afghanen

Doch sobald die nächsten Transporte anlangen, füllen sich schlagartig die mit Gittern abgesperrten Wege, die zu den Sicherheitskontrollen und Registrierungsstellen führen. Nichtregierungsorganisationen reichen Lebensmittel, Kleidung oder Windeln aus, in den Zelten des Kinderhilfswerks Unicef quietschen Jungen und Mädchen vor Vergnügen, während sie Sterne und Girlanden basteln.

Es sind derzeit mehr Mütter mit Kindern unterwegs als sonst, berichten die Helfer. Vielleicht wegen der Planungen zum begrenzten Familiennachzug, vielleicht auch, weil die Väter und die vielen jungen, ungebundenen Männer bisher schneller und mobiler waren. Insgesamt aber sinken die Flüchtlingszahlen, sagt Markus Topp, der leitende Schutzbeauftragte des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen UNHCR in Mazedonien.

„Wir zählen jetzt 2000 bis 2500 Personen am Tag, halb so viele wie vor einem Monat“, sagt der Däne, „das hat sicher auch mit der neuen Politik zu tun, wen die Länder hineinlassen.“ Seit Mitte November nehmen Mazedonien, Serbien und Kroatien nur noch Syrer, Iraker und Afghanen auf. Alle anderen Nationalitäten werden als „Wirtschaftsflüchtlinge“ abgewiesen.

„Die landen direkt wieder in den Fängen der Schlepper.“

Dieses umstrittene Vorgehen hat an der Grenze zwischen Gevgelija und dem griechischen Idomeni zu Protesten, Blockaden und Gewalttätigkeiten geführt. Auf einem Betonklotz erinnert eine schwarze Sprühschrift an die Zusammenstöße. „Öffnet die Grenze für alle!“ steht dort auf Englisch. Derzeit ist es ruhig an dem streng bewachten Übergang. Das sei der Regierung in Skopje zu verdanken, die nach den Tumulten den „Krisenzustand“ ausgerufen habe, berichten Grenzschützer. Das Militär wurde einschaltet – und nach ungarischem Vorbild ein Sperrzaun errichtet.

Westlich und östlich von Grenzstein 59, wo früher nur Züge und heute auch die Flüchtlinge ins Land kommen, erstreckt sich das stacheldrahtbewehrte Bollwerk über 15 Kilometer; 30 weitere sind in Arbeit. „Die neue Grenzpolitik mag Pakistaner oder Afrikaner an dieser Stelle abhalten, aber die finden andere Wege nach Norden“, sagt Topp, über Bulgarien zum Beispiel. „Die landen direkt wieder in den Fängen der Schlepper.“ Die Helfer sind sich uneins, ob es tatsächlich die Auswahl der Einreisenden ist, die den Rückgang bewirkt.

Schließlich machen die Abgelehnten höchstens 15 Prozent aller Flüchtlinge aus. Es gibt die Theorie, dass vielmehr die europäische Charme- und Geldoffensive die Türkei bewogen hat, den Zustrom einzudämmen. Zudem wird das schlechte Wetter mit dem hohen Wellengang in der Ägäis als Grund genannt. Das aber lässt Topp nicht gelten, da das Meer im Oktober besonders unruhig gewesen sei, bei gleichzeitig riesigen Fluchtzahlen.

Klar ist, dass alle Befunde vorläufig sind, schon bald kann der Zustrom wieder anschwellen. In Gevgelija geht es heute gemächlich zu, mit etwas Verzögerung gilt das dann auch auf den folgenden Etappen, in Tebanovce in Nordmazedonien, in Preševo auf der serbischen Seite der Grenze, in Slavonski Brod in Kroatien, in Dobova und Šentilj in Slowenien.

Dicke weiße Pfeile mit der Aufschrift „Serbia“

Im Laufe des Tages aber kommt die Nachricht, dass in Piräus 3000 Flüchtlinge auf die Weiterreise warten. Das bedeutet drei bis vier Züge, 40 Reisebusse oder 750 Taxis. Auf solche Mengen sind die Länder unterschiedlich gut vorbereitet, zumal im Winter. Mazedonien lässt die geringsten Anstrengungen erkennen, wie sich in Gevgelija ebenso zeigt wie in Tebanovce, wo das Lager direkt am Bahnhof steht. Dort reicht der Strom für den Betrieb von Heizanlagen nicht aus, nur in dem Gebäude für Kinder ist es verlässlich warm. In den Notquartieren fehlen sogar die Folien und Läden vor den Fenstern, angeblich haben Flüchtlinge sie gestohlen.

Auf den Bahnsteigen geben dicke weiße Pfeile mit der Aufschrift „Serbia“ den Ankömmlingen die Richtung vor. Von dort marschieren sie einen unbeleuchteten Matschpfad entlang, nachts ist es hier stockfinster. Nach anderthalb Kilometern taucht der erste serbische Posten auf, weitere zwei Kilometer später erreichen die Flüchtlinge das serbische Dorf Miratovac. Hier warten Busse ins benachbarte Preševo.

Diese Aufnahmestelle auf dem Gelände einer ehemaligen Tabakfabrik wird gerade winterfest gemacht und ausgebaut. Riesige Rohre blasen warme Luft in die Zelte, in einem Gebäude entstehen weitere Unterkünfte für 200 Personen, anstelle der Klohäuschen werden feste Toiletten und Duschräume gemauert. „Wir müssen uns wappnen, falls die Zahlen wieder steigen“, sagt Boban Savović, der stellvertretende Leiter der Einrichtung. „Außerdem weiß man nie, ob sich die Leute hier nicht irgendwann einmal stauen.“ Davor haben die Verantwortlichen die größte Angst: dass andere Länder die Einreise erschweren oder die Grenzen ganz schließen könnten, während von hinten immer neue Massen nachdrängen.

Mazedonische Bevölkerung will keine Fremden

Noch vorausschauender als Preševo hat sich die nächste Station Slavonski Brod vorbereitet. Mit 600 Kilometern ist die Strecke von Serbien hierher der längste Abschnitt auf der Westbalkanroute. Am Eingang zum Lager steht ein Weihnachtsbaum, geschmückt mit den bunten Symbolen der Hilfsorganisationen, daneben ein Schneemann aus weißen Plastikbechern. Mehr als 5000 Betten in turnhallengroßen beheizten Zelten halten die Kroaten bereit, um für den Winter und den nächsten Großandrang gerüstet zu sein. Derzeit allerdings ist nicht eine einzige Schlafstätte belegt, weil niemand über Nacht bleibt.

Warum sich Mazedonien im Gegensatz zu Serbien, Kroatien und Slowenien derart zurückhält, könnte System haben. Schon im September wies das UNHCR darauf hin, dass die Lager für die kalte Jahreszeit hergerichtet werden müssten und dass ein Plan für die längerfristige Aufnahme von mehreren zehntausend Menschen nötig werden könnte.

Doch die Regierung habe das ignoriert, sagt der UNHCR-Mann Topp. „Skopje zeigt keinerlei Interesse daran, dass die Leute hierbleiben und sich willkommen fühlen.“ Ganz unverständlich ist diese Haltung nicht, schließlich will die mazedonische Bevölkerung die Fremden nicht im Land haben, und sie selbst wollen auch gar nicht hier sein: Von den rund 600.000 Ankommenden haben nicht einmal 200 einen Asylantrag gestellt. Hinzu kommt der in Mazedonien weit verbreitete und nicht von der Hand zu weisende Eindruck, dass die Europäische Union und insbesondere Griechenland das Land zwar nicht in die EU lassen wollen, jetzt aber verlangen, dass es die Kastanien aus dem Feuer holt.

Frisierte griechische Papiere

Der Groll auf Athen ist auch in den anderen Ländern entlang der Strecke groß. Das liegt vor allem an der schludrigen Registrierung. Eigentlich müsste Griechenland die Migranten elektronisch erfassen und die Daten weiterleiten, zumindest an die Nachbarstaaten und innerhalb der EU. Doch die meisten Grenzgänger, die in Gevgelija ankommen, bringen allenfalls Datensätze auf Papier aus Griechenland mit.

Diese lassen sich leicht fälschen, wie sich nach Einführung der Nationalitätenauswahl zeigte: Nachdem nur noch Syrer, Afghanen und Iraker einreisen durften, fischten die Sicherheitskräfte in Mazedonien jeden Tag rund 30 andere Staatsangehörige mit veränderten oder gänzlich frisierten griechischen Papieren aus den Dokumentenstapeln heraus.

Nicht nur mit Griechenland verläuft die Zusammenarbeit schleppend. Auch die Balkanstaaten untereinander machen sich das Leben schwer. In Serbien weiß die Lagerleitung nicht, wann wie viele Flüchtlinge mit dem Zug aus Mazedonien eintreffen werden. Die Slowenen wettern, dass die Kroaten – anders als die Österreicher – nicht in der Lage seien, die Fahrpläne einzuhalten. Ein Fortschritt sei immerhin, dass sich die Züge nicht mehr nachts mit abgestellten Scheinwerfern an die Grenze schlichen, um die Flüchtlinge abzuladen.

Auf dem Weg durchs Eilige Land

Das Misstrauen und die fehlende Kooperation gehen so weit, dass jedes Land die Flüchtlinge neu erfasst: persönliche Daten, Name des Vaters, dazu Fotos und Fingerabdrücke. Mazedonien und Serbien rechtfertigen das mit der unzulänglichen Arbeit der Behörden zuvor. Kroatien sagt, es sei das erste EU-Land auf dem Weg – da Griechenland de facto ausfalle. Und Slowenien führt ins Feld, es müsse seine Schengen-Verpflichtungen erfüllen.

Ergeben stellen sich die Flüchtlinge immer wieder aufs Neue an, um dieselben Prozeduren über sich ergehen zu lassen. Eigentlich störe ihn das nicht, sagt Mahmoud Fathy mit einem Schulterzucken, aber natürlich ließe sich die Sache effizienter regeln. „Vier, fünf Stunden könnten wir wohl sparen“, schätzt er. Vier, fünf Stunden, die sie schneller vorankämen nach Deutschland: zur Weihnachtszeit auf dem Weg durchs Eilige Land.

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