06. Dezember 2015 · Kommentare deaktiviert für „Warum fliegen wir sie nicht zu uns aus?“ · Kategorien: Deutschland, Europa · Tags: ,

Quelle: Zeit Online

Der Krisenhelfer Kilian Kleinschmidt über Flüchtlinge in Flugzeugen, Zäune gegen Terroristen und Lager mit Lebensqualität.

Interview: Tina Hildebrandt und Petra Pinzler

DIE ZEIT: Herr Kleinschmidt, Sie haben das größte Flüchtlingslager in Jordanien geleitet und beraten jetzt die österreichische Innenministerin. Hat der Terror in Paris die Lage an den Grenzen verändert?

Kilian Kleinschmidt: Bisher noch nicht. Es reisen immer noch Zehntausende Menschen durch Österreich. Sie kommen durch Slowenien ins Land, dann geht es zur bayerischen Grenze. Dort werden an fünf Übergängen pro Stunde 50 Flüchtlinge weitergelassen. Das klappt inzwischen ganz gut.

ZEIT: In den USA hat es seit dem 11. September 2001 keinen islamistischen Anschlag mehr gegeben. Manche sagen, das sei so, weil dort die Zäune höher und die Grenzkontrollen strenger sind. Was halten Sie von diesem Argument?

Kleinschmidt: Terroristen werden Sie durch Zäune nicht aufhalten. Verzweifelte Flüchtlinge aber auch nicht. In den USA gibt es Millionen illegale Einwanderer, trotz des Zauns an der Grenze zu Mexiko. Europa zu einer Festung auszubauen wird nicht funktionieren.

ZEIT: Warum errichtet dann Österreich gerade einen Zaun an der slowenischen Grenze?

Kleinschmidt: Das tut es am Grenzübergang in Spielfeld, der liegt zwischen Autobahn und Eisenbahngleisen. Da gibt es nicht viel Platz, der Andrang ist groß und damit auch das Chaos. Dort ist es sinnvoll, die Massen unter Kontrolle zu bringen, die Weiterreise der Menschen zu managen und Panik zu verhindern. So was macht man an jedem Flughafen. Quatsch ist es aber, wenn nun auch anderswo, quer durch Europa, Zäune gezogen werden.

ZEIT: Dass Grenzen und Zäune gar keine Wirkung haben, wird niemand behaupten können.

Kleinschmidt: Wir können keine Mauer um ganz Europa herum bauen. Ungarn versucht das gerade, und auch Bulgarien stellt munter Zäune auf. Aber dann kommen die Menschen auf anderen Wegen. Sie fahren mit Fahrrädern aus Russland über Norwegen. Anstatt neue Zäune zu ziehen, sollten wir lieber überlegen, was passiert, wenn große Mengen über die Ukraine oder Albanien kommen. Dann haben wir Probleme, gegen die uns die heutige Lage harmlos vorkommt. Restriktive Maßnahmen fördern die Illegalität und kriminelle Strukturen. Wer glaubt, dass sich Menschen freiwillig in Registrierzentren oder Hotspots begeben, wenn sie wissen, dass sie dort sofort abgeschoben werden, lebt in einer Traumwelt.

ZEIT: Und was wäre die bessere Lösung?

Kleinschmidt: Deutschland hat das einzig Richtige getan, es ist ein Vorbild. Es hat die Moral in Europa wiederhergestellt und gezeigt, dass man sich um Menschen kümmern muss, die schwach sind und verfolgt werden.

ZEIT: Zu allen Zeiten gab es schlimme Zustände in der Welt. Für welche sind wir zuständig?

Kleinschmidt: Irgendjemand muss sich kümmern. Im vergangenen Jahr war der Weltgemeinschaft die Rettung von Menschen gerade mal 24,5 Milliarden Dollar an humanitärer Hilfe wert. Das musste reichen für die Opfer von Erdbeben, Flutkatastrophen und Kriegen. Das ist weniger, als ein Wolkenkratzer in New York kostet. Das ist ein Witz.

ZEIT: Fakt ist, dass dem deutschen Vorbild kaum ein anderes europäisches Land folgen will.

Kleinschmidt: Die Bundeskanzlerin muss deswegen nach weitergehenden gemeinsamen Lösungen suchen. Wir bräuchten einen Weltgipfel über Migration, dafür könnte sie sich einsetzen. Oder sie könnte wenigstens eine Gruppe von interessierten Staaten zusammenbringen. Wir müssen den direkt betroffenen Nachbarländern viel stärker helfen, aber auch legale Wege der Auswanderung schaffen. Die sind im Moment vollkommen blockiert.

ZEIT: Wie sollen legale Wege funktionieren?

Kleinschmidt: Ich habe eine Weile mit der schwedischen „letthemfly“-Initiative zusammengearbeitet, die dafür wirbt, dass die Flüchtlinge in Flugzeuge steigen dürfen. Warum fliegen wir nicht besonders schutzbedürftige Menschen aus?

ZEIT: Warum nicht?

Kleinschmidt: Weil die EU die Fluggesellschaften verpflichtet hat, den Rücktransport zu bezahlen – wenn jemand kein Asyl bekommt. Deswegen nehmen sie niemanden ohne Visum mit. Das ist zynisch. Wir sollten sichere, legale Wege für Flüchtlinge, aber auch für Arbeits- und Ausbildungsmigranten schaffen.

Angela Merkel die Weltkanzlerin

ZEIT: Sie schlagen im Kern vor, dass sich Angela Merkel als Weltkanzlerin betätigen sollte und nicht als deutsche Bundeskanzlerin. Aber was hilft ein gesinnungsethisch motivierter Kurs, wenn am Ende keiner mehr hinter Ihnen steht?

Kleinschmidt: Das ist altes Denken, das müssen wir überwinden. In Lateinamerika, in Afrika, in Asien fliehen viele Millionen Menschen vor Krieg, Armut und den Folgen des Klimawandels. Flucht ist das Problem des 21. Jahrhunderts. Deswegen mussen wir neue Ideen entwickeln. Das ist kein Thema, das morgen weg ist.

ZEIT: Das ist es ja gerade, was vielen Europäern und auch Deutschen solche Angst macht: die Aussicht, dass das Problem nicht endet und dass nicht wir die Bedingungen des Zuzugs bestimmen, sondern die Migranten.

Kleinschmidt: Die Frage ist doch, wie wir die Kontrolle wiederbekommen. Die Augen vor den Ursachen dieser Massenflucht zu verschließen ist keine Lösung. Viel sinnvoller wäre es, mehr Geld in Jordanien, dem Libanon oder im Nordirak zu investieren, also in den Ländern, aus denen die Menschen im Moment weiterziehen.

ZEIT: Sie haben in Jordanien ein Lager geleitet. Waren die Menschen bereit, dort auf das Ende des Krieges zu warten – oder wollen die meisten weg?

Kleinschmidt: Am Anfang wollte die überwiegende Zahl bleiben. Nach Jahren des Krieges nicht mehr. Aber die meisten Flüchtlinge leben gar nicht in Lagern, geschweige denn in gut organisierten. Das ist eines der größten Missverständnisse, die durch die Debatte geistern. Von den 630.000 in Jordanien registrierten Syrern hatten nur 100.000 einen Platz, im Libanon kein einziger.

ZEIT: Wo leben sie dann?

Kleinschmidt: Die meisten müssen sich selbst eine Unterkunft suchen und sich selbst ernähren. Sie hausen in zusammengezimmerten Hütten. Sie bekommen manchmal etwas von Verwandten oder Hilfsorganisationen, Nahrung, mal eine Decke. Doch das Geld dafür wird weniger, das Welternährungsprogramm und das Flüchtlingshilfswerk der UN haben immer weniger Mittel. Das Schlimmste ist aber, dass die Leute nicht arbeiten dürfen und sich kaum bilden können. Dabei ist ihnen das so wichtig. Wenn sie beim Arbeiten erwischt werden, droht ihnen die Abschiebung nach Syrien. Also schicken sie die Kinder zur Arbeit, bei denen sind die Behörden milder. Oder die Mädchen werden an reiche Araber verheiratet, die Jungs an eine Miliz gegeben. Die zahlt gut. Zwei Drittel der Kinder gehen nicht zur Schule.

ZEIT: Man müsste Lager in Jordanien oder dem Libanon besser ausstatten, wenn man nicht mehr Flüchtlinge in Europa will?

Kleinschmidt: Nur wenn die nicht wie Abstelllager funktionieren. Das ist ganz wichtig. Jedes Lager, das nur das Überleben sichert, zerstört die Identität von Menschen. Jeder muss das Gleiche essen, jeder muss das Gleiche anziehen, jeder muss gleich wohnen und darf nichts selbst aussuchen: Das ist der Horror, da will jeder weg.

ZEIT: Gibt es das, Lager mit Lebensqualität?

Kleinschmidt: Ja, sie können wie Siedlungen funktionieren. In Saatari, wo ich gearbeitet habe, gab es eine Einkaufsstraße, Teestuben, Läden. Man kann Camps so organisieren, dass Menschen es vorziehen zu bleiben, statt sich auf den lebensgefährlichen Weg übers Meer zu machen. Aber dafür braucht man viel mehr Geld. Und Flüchtlinge brauchen wie jeder Mensch Perspektiven. Die wollen leben.

ZEIT: Im Moment fließen die Gelder für die UN spärlich, auch Deutschland hat nicht alles gezahlt. Das Argument lautet: Erst müssen die Strukturen her, sonst versickert das Geld.

Kleinschmidt: Das ist Quatsch, es ist umgekehrt: Ohne Geld keine Strukturen. Jordanien ist beispielsweise ein relativ funktionierendes Land, der Syrienkonflikt hat die Wirtschaft aber in Mitleidenschaft gezogen. Da könnten wir helfen. Auch im Nordirak könnten wir mehr tun. In der nordirakischen Stadt Dohuk hat sich die Bevölkerung im den vergangenen zwei Jahren beispielsweise verdoppelt, von 750.000 auf eineinhalb Millionen. Die Menschen ersticken im Dreck, es fehlt an Wasser. Baden-Württemberg will jetzt dort mit den Gemeinden und der Wirtschaft die Infrastruktur verbessern.

„Stabilitätspakt für den Nahen Osten“

ZEIT: Das alles wirkt nur langfristig. In Deutschland wächst aber die Ungeduld, die Zahlen sollen schnell runter. Aktuell wird diskutiert, den Familiennachzug für Syrer auszusetzen, um abschreckende Signale auszusenden. Mal ganz abgesehen von der Frage, ob das humanitär vertretbar ist …

Kleinschmidt: …ist es nicht!

ZEIT: Wird es funktionieren?

Kleinschmidt: Es wird nur die Integration der vorausreisenden Männer noch schwerer machen.

ZEIT: Was halten Sie von der Hoffnung, dass die Türkei die Flüchtlinge für uns aufhält, damit wir die Grenzen in der EU wieder öffnen können?

Kleinschmidt: Wir müssen aufhören, unseren Blick von einem Land zum nächsten zu wenden. Wir schießen ständig aus der Hüfte. Jetzt ist es die Türkei, die das Problem für uns lösen soll, vorher war es Griechenland, davor Libyen. Bald wird es die Ukraine oder Albanien sein. Und immer gibt es wieder neue Migrationswege. Wir müssen weiterdenken, uns um die ganze Region kümmern.

ZEIT: Das Problem ist doch: Die wichtigsten Ursachen für steigende Flüchtlingszahlen sind auch die, die wir nur wenig beeinflussen können.

Kleinschmidt: Deswegen sind Signale so wichtig. Die Kanzlerin sollte zusammen mit dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und anderen Regierungschefs in die Region fahren, beispielsweise nach Jordanien, und damit dokumentieren: Wir sind auch hier bei euch. Wir kümmern uns mit den hiesigen Regierungen darum, dass eure Kinder hier zur Schule gehen können und ihr arbeiten dürft. Dass mehr Menschen hier in den Lagern bleiben können, aber auch wir mehr aufnehmen.

ZEIT: Sie glauben allen Ernstes, ein Selfie der Bundeskanzlerin mit Menschen in einem jordanischen Camp würde Menschen zum Bleiben ermutigen?

Kleinschmidt: Warum nicht? Ich wünsche mir einen ganzheitlichen Plan, nennen wir ihn „Stabilitätspakt für den Nahen Osten“. Das würden die Flüchtlinge hören.

ZEIT: Glauben Sie, dass das, was Sie sich wünschen, auch Wirklichkeit werden könnte?

Kleinschmidt: Ja, ich erlebe im Moment eine neue Offenheit und einen neuen Realismus in Österreich, aber auch in Berlin. Es merken doch alle, dass diese ganzen Teillösungen nicht funktionieren. Wir brauchen eine gemeinsame Strategie – zwischen den Rechtspopulisten, die alle Grenzen dichtmachen wollen, und denen, die sie komplett öffnen wollen.

ZEIT: Erleben wir im Moment eine Ausnahmesituation, oder ist das das neue Normal?

Kleinschmidt: Das ist das neue Normal. Wir erleben jetzt etwas, was in anderen Regionen der Welt seit Jahren Realität ist.

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